Von Pouya Bahrami.
Das iranische Regime steckt in einem perfekten Zugzwang – jede Bewegung kann den Sturz beschleunigen und jedes Innehalten einem schleichenden Tod gleichkommen.
Die Islamische Republik Iran befindet sich längst nicht mehr nur in einer gewöhnlichen Krise. Das Regime steckt in einem Zustand des sogenannten Zugzwangs – einem Begriff aus dem Schachspiel, der eine Situation beschreibt, in der jede noch mögliche Bewegung zwangsläufig zur Verschlechterung führt. In diesem komplexen geopolitischen Spiel um Macht, Einfluss und Überleben hat sich Teheran in eine Sackgasse manövriert, aus der es keinen verlustfreien Ausweg mehr gibt – nicht wegen äußerer Feinde, sondern als Folge jahrzehntelanger ideologischer Verblendung, wirtschaftlicher Misswirtschaft und systematischer Unterdrückung.
Was bedeutet Zugzwang? Im Schachspiel – einem Spiel, das vollständig auf Denken und Strategie basiert – gibt es eine besondere Situation, die weder „Schachgebot“ noch „Schachmatt“ noch „Patt“ und auch kein „Fesselung“ ist. Der Spieler ist zwar am Zug, doch jeder mögliche Zug ist nicht nur nutzlos, sondern potenziell katastrophal. Er hat mehrere Optionen vor sich, aber jede führt letztlich zu einer Konstellation, in der der Gegner ihn unweigerlich und rasch „Schachmatt“ setzen wird. Es ist jener Moment, in dem sich ein klarsichtiger Spieler wünscht, nicht ziehen zu müssen – denn jeder Zug bedeutet einen Schritt näher an den Abgrund. Diese besondere Lage tritt meist in der Endphase des Spiels auf und versetzt den Spieler in einen Zustand des Zwangs und der inneren Not: gezwungen zu handeln, in vollem Bewusstsein der zerstörerischen Folgen jeder Entscheidung.
Der deutsche Begriff Zugzwang wurde erstmals im Jahr 1858 in einem Beitrag der „Berliner Schachzeitung“ (erschienen zwischen 1846 und 1988) verwendet – einer Zeitschrift, die ab 1872 unter dem Titel „Deutsche Schachzeitung“ weitergeführt wurde. Geprägt wurde der Begriff von „Max Lange“ (1832–1899), einer vielseitigen Figur mit zwei Doktorgraden in Rechtswissenschaft und Philosophie, Autor von Biografien über Abraham Lincoln (1866) und Kaiser Wilhelm I. (1888), sowie einem der führenden Theoretiker des aggressiven Schachstils (Max-Lange-Angriff). Zugzwang bedeutet nicht einfach nur eine Pflicht zum Handeln – sondern ein Zwang zum Untergang bei klarem Bewusstsein.
Die Islamische Republik im politischen Zugzwang
Nach 46 Jahren blinder Propaganda, maßloser Ressourcenvergeudung und dem gescheiterten Versuch, eine islamistische Utopie zu verwirklichen, befindet sich die Islamische Republik auf dem Schachbrett der internationalen Politik seit einiger Zeit in einer „Zugzwang“-Situation – nicht nur in ihrer Außenpolitik, sondern im gesamten strategischen System: innenpolitisch, wirtschaftlich, sicherheits- und gesellschaftspolitisch ebenso wie kulturell. Dies ist ein Zustand, der weder Schachmatt, noch Fesselung (im Schachsinne) oder Patt ist.
Das Regime ist zwar formal noch Teil des Atomabkommens (JCPOA), doch praktisch hat dies zu keiner Erleichterung geführt, und keinerlei Nutzen für den Iran gehabt. Die Führung könnte sich bewegen – tut es aber nicht. Sie könnte in der gegenwärtigen Lähmung verharren oder aus dem Abkommen austreten. Doch beide Wege führen zum selben Ziel: dem absoluten Nichts.
Sie könnte die Gesetzespakete zur Umsetzung der FATF-(„Financial Action Task Force“)-Richtlinien verabschieden, sich dem globalen, transparenten Finanzsystem anschließen und von legalen Banktransaktionen profitieren. Doch ein solcher Schritt würde zwangsläufig das Geflecht geheimer Finanzströme zwischen Teheran, seinen Stellvertreter-Milizen, Terrornetzwerken und Geldwäschestrukturen in der Region offenlegen – ein Netzwerk, das mittlerweile zur Lebensader des ideologischen und geopolitischen Überlebens des Regimes geworden ist.
Das Fundament der Macht ins Wanken bringen
Ein System, das bis über beide Ohren in Korruption, Ineffizienz, Inkompetenz und moralischer Fäulnis versunken ist, kann nicht gleichzeitig transparent sein und überleben. Für ein solches Regime ist Transparenz kein politisches Instrument, sondern eine existenzielle Bedrohung.
Wählt das Regime hingegen den Weg des Stillstands, bleibt ihm nichts anderes, als zuzusehen, wie der politische, soziale und wirtschaftliche Zerfall des Landes hinter einem Vorhang aus roher Repression fortschreitet. Eine Repression, die vielleicht Zeit kauft, aber unweigerlich das Fundament der Macht ins Wanken bringt.
Sollte die Führung schließlich zu tiefgreifendem Wandel gezwungen sein, wird jene Ideologie, der man über vier Jahrzehnte das menschliche, natürliche und kulturelle Kapital Irans geopfert hat, wie eine Seifenblase zerplatzten. Und das Regime wird sich noch tiefer in eine Identitäts- und Sinnkrise stürzen.
Verstrickt in selbstgeschaffenen Krisen
Das eigentliche Dilemma besteht darin, dass das Regime – selbst wenn es wollte – nicht untätig bleiben kann. Der innere Druck hat ein historisch beispielloses Ausmaß erreicht. Die Legitimität des Systems ist – selbst nach den eigenen, begrenzten Maßstäben – vollständig erodiert; seine gesellschaftliche Basis ist eingebrochen. Innerhalb der Machtstruktur klaffen tiefe ideologische, politische und ökonomische Gräben und behindern faktisch die Entscheidungsfindung. Strukturelle Widersprüche und endlose Machtkämpfe in den höchsten Ebenen des Staates haben die Führung des Landes in eine Sackgasse geführt.
Der Bedeutungs- und Autoritätsverlust des Obersten Führers und die Schwächung der ihm unterstehenden Institutionen verschärfen die Krise zusätzlich. Ali Khamenei, der selbst unter den traditionell loyalen Schichten rapide an Popularität eingebüßt hat, ist längst kein Zentrum des Konsenses mehr – sondern zum Symbol der politischen Ausweglosigkeit geworden. Institutionen wie der Wächterrat, die Justiz oder die militärisch-geheimdienstlichen Apparate stehen einer wachsenden Welle gesellschaftlicher Ablehnung und öffentlichem Misstrauen gegenüber.
Die jüngsten Wahlen haben ihre Funktion als Fassade eines partizipativen Systems vollständig verloren. Nicht nur wegen massiver Manipulation, sondern vor allem wegen der dramatisch gesunkenen Wahlbeteiligung ist die politische Legitimität des Regimes faktisch zusammengebrochen. Parallel dazu befindet sich die Wirtschaft des Landes am Rand eines schleichenden Zusammenbruchs: Hyperinflation jenseits der 80 Prozent, der dramatische Verlust der Kaufkraft, Massenarbeitslosigkeit und ein chronisches Haushaltsdefizit haben den Staat zu einem handlungsunfähigen und rein konsumierenden Organismus verkommen lassen.
Korrupter, klientelistischer Machtapparat
Unter diesen Umständen haben zügellose Kreditaufnahmen bei der Zentralbank, das unbegründete Drucken von Geld und der rapide Rückgang nachhaltiger Einnahmen die nationale Wirtschaft auf einen unumkehrbaren Krisenpfad geführt. Die Banken kämpfen selbst mit Liquiditätsproblemen, und die Volkswirtschaft ist zum Werkzeug der Finanzierung eines korrupten, klientelistischen Machtapparats geworden.
An der Spitze all dieser Verwerfungen steht ein mafiöses Machtsystem, tief verankerte strukturelle Korruption, vollständige Intransparenz sowie die politische und wirtschaftliche Dominanz der Revolutionsgarden (IRGC) über alle lebenswichtigen Bereiche des Landes. Jede Option auf Reform oder Erneuerung ist faktisch ausgeschlossen.
Das Regime steckt in einem perfekten Zugzwang – in einer Lage, in der jede Bewegung den Sturz beschleunigt und jedes Innehalten einem schleichenden Tod gleichkommt. Und vielleicht wird das finale Schachmatt nicht auf dem Spielbrett ausgetragen, sondern auf dem Schicksal einer ganzen Nation.
Gefahr jenseits der ökonomischen Krise
Neben dem wirtschaftlichen Desaster steht der Iran am Abgrund eines drohenden gesellschaftlichen Kollapses – der wohl verheerendsten aller Zerfallsformen. Im Inneren steht das Regime einer Generation gegenüber, die weder Angst kennt noch Illusionen über die Reformierbarkeit des Systems hegt. Der Aufstand „Frau, Leben, Freiheit“ im Jahr 2022 legte die Kluft zwischen Staat und Gesellschaft schonungslos offen. Insbesondere die anhaltenden Akte des zivilen Ungehorsams – etwa beim Thema Kopftuchzwang (Obligatorischer Hidschab) – machten klar: Eine Rückkehr zur Zeit vor 2022 ist gesellschaftlich weder denkbar noch durchsetzbar und absolut ausgeschlossen.
Seit dem Herbst 2022 hat sich das gesellschaftliche Verhalten trotz brutaler Repressionen grundlegend gewandelt. Im Frühjahr 2024 kehrten Frauen ohne Kopftuch – selbst in konservativen Städten – demonstrativ auf die Straßen zurück. Dies war ein klares Zeichen: Die Angst ist gebrochen. Heute, im Frühjahr 2025, setzt sich der zivile Ungehorsam unbeirrt und flächendeckend fort. Die öffentliche Wirkung von Zwangsgeständnissen und Hinrichtungen hat sich ins Gegenteil verkehrt – sie haben den Widerstandswillen der Bevölkerung sogar gestärkt.
Die iranische Gesellschaft trauert und ist zugleich erfüllt von Zorn – über die brutale Niederschlagung der sozialen Bewegung nach der staatlichen Tötung von „Mahsa (Jina) Amini“, über das Massaker an Demonstranten im Dezember 2017 und November 2019, sowie über den Wahnsinn der sogenannten „harten Vergeltung“ durch die Revolutionsgarde, die zum Abschuss des zivilen Linienflugs PS752 führte. Dazu kommen Naturkatastrophen und selbstverschuldete Krisen – Folgen von Inkompetenz, Misswirtschaft und ideologisch verbrämtem Regierungsstil, euphemistisch „revolutionäre“ oder „dschihadistische Verwaltung“ (revolutionären Managements) genannt. Die Unzufriedenheit der Bevölkerung angesichts sinnloser, planloser und oft entwürdigender Staatsdienstleistungen, die Desorientierung staatlicher Organe sowie das katastrophale Management der Wasserressourcen haben die Gesellschaft bis an die Grenze ihrer Belastbarkeit geführt.
Offener, systematischer Aufstand
Diese existenziellen Konflikte haben sich wie ein Spinnennetz um das Regime gelegt und die Gesellschaft an den Rand einer Explosion gebracht. Wie viele totalitäre und autoritäre Regime, suchte auch die Islamische Republik die Ursachen ihrer selbstgeschaffenen Krisen nicht bei sich – sondern intensivierte die Repression gegen die Schwächsten in der Gesellschaftspyramide.
Die antihumanistische Politik und das systematisch gewaltvolle Verhalten der Regierenden haben die Gesellschaft in einen akuten Krisenzustand (critical point) versetzt. Die Menschen – ausgelaugt, entrechtet, erschöpft, hoffnungslos und verarmt – warten auf den nächsten Funken, der eine neue Erhebung wie „Frau, Leben, Freiheit“ entfachen könnte.
Der entscheidende Wandel bei den jüngsten Protesten:
Die Ablehnung der Islamischen Republik hat sich in einen offenen, systematischen Aufstand gegen das Prinzip der „Herrschaft des Rechtsgelehrten“ (Velayat-e Faqih) und gegen Ali Khamenei (Ali Chamenei) selbst verwandelt. Die Sicherheitskräfte – allen voran die Revolutionsgarde – spielen weiterhin eine zentrale Rolle in der Unterdrückung der Proteste und der Machterhaltung. Doch das Festhalten an Gewalt konnte die strukturellen Ursachen des Volkszorns nicht beseitigen.
Neben der ökonomischen Misere zeigt der Aufstand um „Mahsa Jina Amini“ deutlich, dass Einschränkungen der Meinungsfreiheit, der Menschenrechte – insbesondere der Rechte der Frauen – und der menschlichen Würde zu den wichtigsten Triebfedern der gesellschaftlichen Unruhe zählen.
Strukturelle Erosion im Machtzentrum
Auf der sicherheits- und innenpolitischen Ebene zeigen sich deutliche Anzeichen einer fortschreitenden Erosion der inneren Kohärenz des Machtapparats. Differenzen innerhalb des Machtzentrums rund um den Obersten Führer, Diskussionen um die Nachfolge, die Flucht oder Passivität einzelner Sicherheitskräfte und die wachsende Unzufriedenheit innerhalb von Basij und Revolutionsgarde – all dies weist auf einen tiefen inneren Bruch hin.
Die Spekulationen über die Nachfolge des 85-jährigen Ayatollah Ali Khamenei häufen sich. Die Ungewissheit über einen potenziellen Nachfolger – insbesondere angesichts der umstrittenen Kandidatur seines Sohnes Mojtaba – hat eine neue Dimension struktureller Verwundbarkeit im Zentrum der Velayat-e Faqih (absoluten geistlichen Führung) erzeugt, vor allem nach dem mysteriösen Tod von Ebrahim Raisi.
Gleichzeitig ist das psychologische Sicherheitsnetz der Repressionskräfte zusammengebrochen: Die Zahl der Fluchten, Rücktritte und das gezielte Leaken vertraulicher oder geheimer Informationen durch unzufriedene Insider ist beispiellos. Bestätigte Berichte über interne Abscheu innerhalb des Sicherheitsapparats – insbesondere in den unteren Rängen – sprechen Bände.
Hinzu kommt die Veröffentlichung von Teilen der Finanzdokumente über Korruption im Umfeld des Führers und unter hohen Kommandeuren, die offenbar von internen Quellen an die Öffentlichkeit gelangten. Dies verdeutlicht eine tiefe Vertrauenskrise innerhalb der sogenannten „eigenen Reihen“.
Darüber hinaus gibt es deutliche Hinweise auf beginnende Sabotageakte und Störmanöver innerhalb der Machtstrukturen selbst: von der gezielten Löschung sensibler Daten bis hin zum Verrat geheimer Reisepläne und strategischer Operationen.
Ein international isolierter Iran
Auf der geopolitischen Bühne steht die Islamische Republik unter massivstem politischen und wirtschaftlichen Druck – als direkte Folge der Drohnenlieferungen an Russland, der aktiven Beteiligung am Ukraine-Krieg, der Eskalation ihres Atomprogramms und ihrer Rolle bei regionalen Provokationen, insbesondere beim Massaker vom 7. Oktober (mit Verbindungen von Irak bis Jemen).
Entgegen den Erwartungen des Regimes hat Donald Trump die US-Präsidentschaftswahl für sich entschieden. Seine Rückkehr ins Weiße Haus hat die letzten Hoffnungen der Islamisten zerschlagen. Wie absehbar, leitete Trumps Wiederwahl eine neue Phase verschärfter Sanktionen ein – unter dem Banner eines erweiterten „Maximum Pressure 2.0“ und dem strategischen Ziel, den Iran vollständig aus der Weltwirtschaft zu isolieren.
Iranische Öltanker auf dem Weg nach China werden beschlagnahmt oder müssen auf riskante, versicherungsfreie Schmuggeltransporte ausweichen. Die FATF, in enger Zusammenarbeit mit der G7, hat Banken in den Emiraten und Katar unter Druck gesetzt, wodurch viele bisherige Umgehungsrouten für iranische Transaktionen blockiert wurden.
Die Lieferung von Drohnen und Munition an Russland hat die EU dazu veranlasst, umfassende neue Militärsanktionen gegen den Iran zu prüfen. Parallel dazu wird in Europa intensiv über die Aktivierung des sogenannten Snapback-Mechanismus im Rahmen des JCPOA nachgedacht – insbesondere in Frankreich. Die Aufnahme der Revolutionsgarde in die Terrorliste der EU wird derzeit sowohl im Deutschen Bundestag als auch in der französischen Nationalversammlung diskutiert.
Verheerender strategischer Schlag für die Islamische Republik
Auch im regionalen Kontext ist das islamistische Einflussnetz des Regimes schwer angeschlagen. Die von Teheran gesteuerten Proxies – von Syrien über Libanon bis Gaza – wurden durch gezielte israelische Schläge massiv geschwächt. Die Houthis im Jemen erleiden erhebliche Rückschläge durch die Allianz aus arabischen Staaten und den USA. Die Hamas ist nahezu zerschlagen, die Hisbollah erleidet schwerste Verluste – militärisch wie politisch. In der libanesischen Politik, wo sie kurzzeitig eine dominierende Rolle einnahm, ist sie faktisch entmachtet. Der Sturz des Assad-Regimes in Syrien im Dezember 2024 war ein verheerender strategischer Schlag für die Islamische Republik. Angesichts der dramatischen Verschiebungen im regionalen Gleichgewicht ist es keineswegs abwegig, dass selbst die Houthis ihre politische Ausrichtung überdenken.
Das Ergebnis all dieser Abenteuerpolitik – genährt von einem religiösen Wahngebilde namens Mahdismus – ist ein beispielloser strategischer Absturz. Die USA haben die Zeichen des bevorstehenden Systemkollapses erkannt. Die Trump-Regierung, koordiniert mit Israel, hat dem Regime nur ein einziges Verhandlungsangebot unterbreitet: ein vollständiger Nuklearwaffenverzicht nach dem „libyschen Modell“ – Abrüstung aller zivilen und militärischen Atomprogramme im Gegenzug für Sanktionslockerungen.
Doch das Regime, gefangen in einer von Khamenei forcierten ideologischen Zwangshaltung – einst exekutiert durch Mahmoud Ahmadinejad –, hat das Atomthema tief mit seiner nationalen Sicherheit und seiner ideologischen Identität verknüpft. Jeder Rückzug von dieser Position wäre ein innerer Super-GAU: ein Aufstand jener Teile der Bevölkerung, die ihr Leben für diese gescheiterte Ideologie geopfert sehen.
Entsprechend wurde das US-Angebot brüsk zurückgewiesen. Das Schicksal Muammar al-Gaddafis dient dem Regime dabei als abschreckendes Beispiel für den Preis des Vertrauens in den Westen. Einige Analysten verweisen jedoch darauf, dass das iranische Nuklearprogramm heute weitaus fortgeschrittener ist als das Libyens je war – was direkte Vergleiche hinfällig mache.
Zugzwang mit Kriegsgefahr?
Möglicherweise zählt der militärische Angriff der Islamischen Republik auf israelisches Territorium zu den schwerwiegendsten strategischen Fehlkalkulationen des Regimes. Diese Angriffe – hinter denen Jahrzehnte propagandistischer Drohungen und martialischer Rhetorik standen – offenbarten nicht nur die begrenzte Schlagkraft der Islamischen Republik, sondern führten auch zur nahezu vollständigen Zerschlagung ihrer Radar- und Luftabwehrsysteme durch Israel. Selbst die optimistischsten westlichen Regierungen mussten daraufhin erkennen, wie gefährlich dieses Regime tatsächlich ist.
Die Vergeltung Israels hat zu massivem Druck radikaler Kräfte innerhalb des Systems geführt, das Regime zu einer „Antwort“ zu zwingen – eine Antwort, zu der es realpolitisch jedoch nicht in der Lage ist. Infolge dieses Abenteuers und der zunehmenden Provokationen im Atomprogramm steht das Regime nun vor einer realen Kriegsgefahr: Ein militärischer Angriff auf Irans Atomanlagen durch Israel oder die USA bis spätestens Mitte 2025 ist kein fernes Szenario mehr.
Die Führung in Teheran sieht sich in einem strategischen Deadlock, aus dem sie kaum Auswege erkennt. Der Verkauf von Öl erfolgt faktisch nach dem Modell „Öl gegen Lebensmittel und Medikamente“ wie einst im Irak unter Saddam Hussein. Parallel dazu hat die eskalierende wirtschaftliche Krise die iranische Gesellschaft in ein Stadium der Desintegration getrieben: Armut, Hunger und Hoffnungslosigkeit nehmen rapide zu.
Verheerende Entwertung der Landeswährung
Hinzu kommt die beispiellose – wenn auch in ihrer Wirkung begrenzte – Unterstützung der freien Welt für die auf Menschenwürde basierende Protestbewegung „Frau, Leben, Freiheit“. Diese internationale Solidarität hat das theokratische Regime weiter in den strategischen Korridor des Zugzwangs gedrängt.
Ein besonders eindrucksvolles Beispiel für diesen „Zugzwang“ liegt in der verheerenden Entwertung der Landeswährung: Innerhalb von sieben Jahren hat der Rial rund 1.300 Prozent seines Werts verloren (der US-Dollar stieg von 64.000 IRR im April 2018 auf über 900.000 IRR im April 2025). Dies entspricht einer etwa vierzehnfachen Abwertung der Währung.
Der durchschnittliche Warenkorb iranischer Haushalte ist dadurch nicht etwa um ein Drittel, sondern um über 90 Prozent geschrumpft. Millionen von Angestellten – darunter Lehrer, Beamte, Arbeiter und Soldaten – kämpfen inzwischen buchstäblich ums Überleben. Die Proteste verschiedener Berufsgruppen reißen nicht ab.
Aus Angst vor einem neuen Aufstand – wie jenen im Dezember 2017, im November 2019 und im Jahr 2022 – griff das Regime zur Maßnahme eines historischen Lohnerhöhungsprogramms (ein weiterer erzwungener Zug), jedoch ohne konkrete Angaben zur Finanzierung. Die entsprechenden Budgetpläne sind geprägt von Intransparenz, Populismus und fiskalischem Wunschdenken.
Das Grundproblem der Islamischen Republik – jenseits der allgegenwärtigen, institutionellen Korruption – liegt im ideologischen Fundament der „Velayat-e Faqih“. Analog zur Sowjetunion priorisierte das Regime von Anfang an nicht die nationalen Interessen, sondern ordnete seine gesamte Außen- und Innenpolitik einer irrationalen, religiös-fundamentalistischen Agenda unter: dem Export eines radikal-schiitischen Islamismus, genährt durch eine gefährliche Endzeitideologie namens Mahdismus.
Zeit kaufen statt Lösungen finden
Die Islamische Republik hat sich in den vergangenen vier Jahrzehnten als Meisterin einer Taktik hervorgetan: Verhandlungen nicht als Mittel zur Lösung von Krisen, sondern als strategisches Werkzeug zur Gewinnung von Zeit zu nutzen – um ihre verborgenen Programme unbehelligt voranzutreiben. Auch die erneuten Gespräche mit den USA, insbesondere mit dem Sondergesandten von Donald Trump, Steve Witkoff, folgen exakt diesem Muster: Ziel ist es, internationalen Druck zu entschärfen und den Sommer 2025 (beziehungsweise Herbst 1404 nach iranischem Kalender) unbeschadet zu überstehen – also genau die Zeit, in der die innenpolitischen Spannungen in den USA durch die Zwischenwahlen des Kongresses eskalieren dürften.
Die Führung in Teheran hat erkannt, dass der Fokus der US-Administration während der Wahlkampfsaison erheblich nachlässt. Dieses Zeitfenster will sie nutzen, um einen „entscheidenden Fortschritt“ im Atomprogramm zu erzielen – sei es in Form einer taktischen Atomwaffe oder einer sogenannten „schmutzigen Bombe“.
Dies ist keine bloße Spekulation, sondern ein altbekanntes Muster: Die Islamische Republik tritt nur dann an den Verhandlungstisch, wenn sie sich im Nachteil sieht – nicht mit dem Ziel eines Kompromisses, sondern um ihre Position zu stabilisieren und zu stärken. In dieser Logik bedeutet jede neue Runde der Diplomatie in Wahrheit eine neue Phase der Täuschung – eine Pause zur Reorganisation vor dem nächsten strategischen Schritt.
Daher bleibt nur ein einziger logischer und verhältnismäßig kostengünstiger Weg, um die Region vor einem weiteren zerstörerischen Krieg zu bewahren: eine kompromisslose und maximale Unterstützung für die freiheitsliebende Bewegung des iranischen Volkes. Dies ist die einzige echte Abschreckung gegenüber der apokalyptischen Ambition eines Regimes, das zwar innerlich zerfällt und außenpolitisch isoliert ist, aber in seinem Untergang noch immer eine existentielle Bedrohung darstellt.
Schlussfolgerung: Der letzte Zug
Unter all den Strategien, die die internationale Gemeinschaft in den letzten Jahrzehnten gegenüber der Islamischen Republik Iran verfolgt hat, wurde eine entscheidende Option bisher kaum ernsthaft geprüft: die uneingeschränkte, maximale Unterstützung des iranischen Volkes auf seinem Weg zur Demokratie. Weder Verhandlungen noch Appeasement oder selektive Sanktionen haben alleine ausgereicht. Doch eine starke internationale Stimme an der Seite des iranischen Volkes könnte das Kräfteverhältnis zugunsten einer freien und menschlichen Zukunft grundlegend verändern.
Diese Strategie steht im klaren Gegensatz zu der bislang bevorzugten Politik des Westens – insbesondere der EU –, die vor allem auf „Wandel durch Annäherung“ setzte. Ein Ansatz, den die westlichen Demokratien über Jahrzehnte hinweg gegenüber dem iranischen Regime verfolgten, aber nie konsequent mit dem iranischen Volk praktizierten. Doch der kurze Moment der Unterstützung während der „Mahsa-Revolution“ zeigte, welch massive Erschütterung selbst ein geringfügiges Maß an internationaler Solidarität im Fundament der Islamischen Republik auslösen kann.
Die Iraner haben in dieser Bewegung eindrucksvoll bewiesen, dass sie Träger universeller Werte sind – jener Werte, die oft als „westlich“ etikettiert werden, in Wahrheit aber zutiefst menschlich sind. Diese Nation kann zum Pfeiler eines nachhaltigen Friedens und einer stabilen Partnerschaft mit den demokratischen Staaten der Welt werden.
Ein neues Kapitel in der modernen Geschichte der Menschheit
Was unumstößlich bleibt: Wir, das iranische Volk, werden unser Heimatland zurückerobern und befreien. Die Menschheit steht nicht nur als Beobachterin am Rande eines einzigartigen historischen Moments – sie hat die Chance, Teil davon zu sein. Seite an Seite mit den mutigen Frauen und Männern Irans können wir ein neues Kapitel in der modernen Geschichte der Menschheit aufschlagen.
Der legendäre Schachmeister Garri Kasparow sagte einst, Zugzwang sei die beängstigendste Lage im Schach – eine Situation, in die sich nur ein schlechter Spieler selbst hineinmanövriert. Es ist der traurigste Ausdruck einer selbstverschuldeten Niederlage.
Jetzt – in diesem entscheidenden Moment – ist die Zeit für Illusionen vorbei. Die Islamische Republik demonstriert erneut ihre Meisterschaft im Hinauszögern von Verhandlungen, einzig mit dem Ziel, Zeit für ihre strategischen Ambitionen zu gewinnen – insbesondere für die nukleare Eskalation. Auch die neuen Gespräche mit den USA und Trumps Sondergesandtem Steve Witkoff dienen einzig diesem Zweck: den Sommer 2025 zu überstehen und von einer möglichen Schwächung der Republikaner in den Zwischenwahlen zu profitieren.
In dieser Lage bleibt nur eine vernünftige Option: die entschlossene, uneingeschränkte Unterstützung der Freiheitsbewegung des iranischen Volkes. Es ist die einzig unversuchte und doch wirksamste Strategie, um einer neuen Katastrophe im Nahen Osten vorzubeugen – ohne Krieg, ohne Blutvergießen, aber mit moralischer Klarheit und historischer Verantwortung. Die Iraner haben gezeigt, dass sie bereit sind. Jetzt liegt es an der Welt, nicht länger zu zögern.
Hinweis des Autors: Ich bezeichne Mahsa Amini mit dem Vornamen „Mahsa (Jina)“ – in Anlehnung an die Art, wie ihre Eltern, ihr Bruder und ihr Onkel sie in Interviews nannten. Einige politische Gruppen verwenden gezielt die Reihenfolge „Jina Mahsa“, was jedoch dem Wunsch ihrer Familie widerspricht.
Pouya Bahrami ist unabhängiger Journalist und Analyst für den Iran und den Nahen Osten. In seiner iranischen Heimat war er als unabhängiger Reporter tätig, bis er aufgrund seiner journalistischen Tätigkeit über 13 Jahre in Gefängnissen der Islamischen Republik Iran verbringen musste.