Gastautor / 02.10.2024 / 19:05 / Foto: Imago / 15 / Seite ausdrucken

Israel steht allein

Von Bernard-Henri Lévy.

Eine Reihe verblüffender Siege hat neue Wege zur Freiheit im Nahen Osten eröffnet.

Wir kennen das apokryphe, aber zutreffende Zitat von Lenin: „Es gibt Jahrzehnte, in denen nichts geschieht, und es gibt Wochen, in denen Jahrzehnte geschehen.“

Nun, genau das ist im Nahen Osten und darüber hinaus passiert und passiert immer noch, mit den mit Sprengfallen versehenen Pagern vom 17. September, der Niederlage der Hisbollah im Libanon am 29. September und einen Tag später mit dem Vorrücken israelischer Bodentruppen in den Südlibanon.

Eine terroristische Armee, die mächtiger war als al-Qaida und ISIS zusammen, ist dauerhaft geschwächt und vorerst enthauptet worden.

Das iranische Regime, für das die Hisbollah die Avantgarde, das Juwel in der Krone oder, um die bolschewistische Metapher fortzusetzen, sein wertvollstes Kapital war, ist durch eine Niederlage geschwächt, die auf die Bombardierung seines Botschaftskomplexes in Syrien, die Hinrichtung von Hamas-Chef Ismael Haniyeh im Herzen von Teheran und das Scheitern seiner Generaloffensive gegen Israel am 17. April folgt. Und es scheint, dass das Regime zum ersten Mal seit fast einem halben Jahrhundert endlich in die Defensive geraten ist, zerbrechlich und schwankend.

Die Häfen von Hodeidah und Ras Issa im Westen des Jemen wurden von einem Geschwader von Kampfjets angegriffen, nachdem die Houthis, eine weitere Marionette der Ayatollahs, den Fehler gemacht hatten, den Flughafen Ben-Gurion anzugreifen, auf dem der Premierminister gerade gelandet war.

Der Libanon entkolonialisiert sich

Ja, der Libanon, dieses glorreiche Land von Adonis und Gibran, das Nerval, Lamartine und Chateaubriand in Erstaunen versetzte und lange Zeit ein Beispiel für Weltoffenheit und Toleranz war, wurde dann nichts weiter als eine Kolonie des Irans, ein Spielball seiner imperialen Strategie und deshalb ein gescheiterter Staat – jetzt lockert sich der Schraubstock, und das libanesische Volk kann, wenn es will, sein Schicksal wieder selbst in die Hand nehmen ...

Israel atmet auf ...

Iranische Frauen lächeln ...

Was von den Demokraten in Syrien übrig geblieben ist, erinnert sich daran, dass die Hisbollah an vorderster Front an dem Massaker beteiligt war, das Bashar Assad an Hunderttausenden der ihren verübte, und in Idlib gibt es große Freudensprünge ...

Die Familien der 58 französischen Fallschirmjäger und der 241 amerikanischen Marineinfanteristen, die 1983 bei den beiden Selbstmordattentaten auf Lastwagen getötet wurden, die Überlebenden der Anschläge von 1986 in Paris auf das Kaufhaus Tati, die Renault-Kneipe, das Polizeirevier, den Regionalzug RER, den Hochgeschwindigkeitszug TGV Paris-Lyon usw. sind ebenso wie Präsident Biden der Meinung, dass der Gerechtigkeit Genüge getan wurde.

Kurz gesagt, die freie Welt, die wirkliche Welt, die sich von New York, Paris und Rom bis zu den Menschenmassen erstreckt, die sich von Teheran bis Ankara und von Moskau bis Peking und Kabul nicht damit abfinden, unter schwachsinnigen und blutigen Diktaturen zu leben, kann ein wenig aufatmen und die Zeichen eines möglichen Wandels erkennen.

Natürlich ist noch nichts entschieden

Die Hisbollah hat immer noch zehntausende von Raketen auf Israel gerichtet. Und die Geschichte hat mehr Phantasie als der Mensch, wie Marx sagte, um in demselben metaphorischen Register zu bleiben, und es sind die „fünf Könige“ Iran, Russland, die Islamische Internationale, Türkei und China nicht chancenlos, ganz im Gegenteil.

Aber die Israelis haben uns eine Lektion in Entschlossenheit und Mut erteilt.

Sie taten das Gegenteil von dem, was die europäischen und amerikanischen Cheerleader des Münchner Abkommens wie gebrochene Schallplatten wiederholten: „De-eskalieren! De-eskalieren!“ Schließlich gibt es nach den Theorien des gerechten Krieges, und auch nach Clausewitz, Situationen in der Welt, in denen eine Eskalation leider notwendig und die einzige Option ist.

Und die Israelis erinnerten die Welt daran, dass es Momente in der Geschichte gibt, in denen ihr (Israels) Überleben auf dem Spiel steht, in denen ganze Völker (Libanon, Syrien, Jemen, irakische und syrische Kurden) als Geiseln genommen und bedroht werden, in denen die Strategie des Kompromisses vom Feind (früher Nazi-Deutschland, heute die Islamische Republik Iran) als Einladung verstanden wird, noch härter zuzuschlagen – Momente also, in denen eine dieser starken Taten, die die Feiglinge „Eskalation“ nennen, das Blatt wenden, die Machtkarte neu zeichnen und Leben retten kann.

Israels Verbündete müssen sich neu formieren

Die IDF handeln allein deshalb so, weil dies heute die Situation ist, in der sie sich befinden.

Aber sie handeln – im Gegensatz zu dem, was Sesselstrategen, die ein „außer Kontrolle geratenes Israel“ anprangern, überall behaupten – mit Maß und ohne Hybris.

Sie brechen die operativen Fähigkeiten eines Staates innerhalb eines Staates, der die Welt terrorisiert hat. Und sie tun dies, wie immer, während sie versuchen, alles zu tun, um unschuldige Zivilisten zu verschonen.

Und wie wir alle seit dem Fall der großen Imperien und in jüngerer Zeit der UdSSR wissen, fürchten Diktatoren nicht nur das Scheitern, sondern auch die äußere Demütigung, die sie vor ihrer inneren Opposition nackt dastehen lässt – so dass Israel dabei sein könnte, im Iran selbst den großen Traum der westlichen Republiken, der gemäßigten arabischen Länder und wiederum der Heldinnen der Demokratie zu erfüllen, die seit zwei Jahren in Teheran mutig unter den Rufen „Frau, Leben, Freiheit“ aufmarschiert sind.

Aus diesen Gründen müssen sich Israels Verbündete dringend neu formieren, um es zu unterstützen, nicht nur zur Verteidigung, sondern für den Sieg.

This story originally appeared in English in Tablet magazine, at tabletmag.com, and is reprinted with permission. Die englische Originalfassung findet sich hier.

 

Bernard-Henri Lévy (Foto oben)ist ein französischer Journalist, Publizist und Mitbegründer der Nouvelle Philosophie. Er schreibt regelmäßig für das Wochenmagazin Le Point, ist einer der Direktoren des Verlagshauses Éditions Grasset, er gibt die alle vier Monate erscheinende Zeitschrift La Règle du Jeu heraus, und er ist Anteilseigner der Tageszeitung Libération.

Foto: Imago

Achgut.com ist auch für Sie unerlässlich?
Spenden Sie Ihre Wertschätzung hier!

Hier via Paypal spenden Hier via Direktüberweisung spenden
Leserpost

netiquette:

L. Schwarzschild / 02.10.2024

So sinnvoll und wünschenswert in der aktuellen Situation eine offensivere Unterstützung Israels durch die westlichen Republiken wäre, so wenig ist Israel geholfen, wenn seine kleinen, aber feinen Siege von den letzten, auf ewig im Ende der Geschichte hängengebliebenen Gespenstern der Freiheit zu Marschsignalen für neue Befreiungsabenteuer zwischen Peking und Ankara umgedeutet werden. Die Menschenmassen dort leben unter genau den schwachsinnigen und blutigen Diktaturen, welche ihren Kulturen, ihrem mindset entsprechen, während die inzwischen zumeist nach Deutschland umgesiedelten syrischen Freiheitskämpfer gut dabei sind, in Europa den letzten Schein der Zivilisation auszulöschen und die post-posthistorischen Fieberträume der Realglobalisten von der weltweiten schwachsinnigen und blutigen Dikatur im asiatischen Stil der Realisierung näherzubringen.

Stefan Riedel / 02.10.2024

Ist all das nicht woke genug? Der 7. Okt. 2023 war schon woke genug? Babys zu vergewaltigen und danach zu enthaupten? Und dann Videos drehen?

Leo Hohensee / 02.10.2024

Wahrscheinlich sollte man Israel nicht kretisieren. Also stelle ich nur die Frage, veranstaltet Netanjahu nicht so langsam eine Menschenschlachterei in seinen Nachbarstaaten? Angerichtet wird, trotz fürchterlichem Anlass, doch jetzt auch ein großes Unrecht. Kindern und Enkeln der auch in ihrem Stolz hochgradig verletzten Opfer der israelischen “Machttaten” werden sich diese Niederlagen wie Engramme in ihre Gene einbrennen. Sät man so nicht Hass für die Ewigkeit?

Adam West / 02.10.2024

Liebe Israelis, ich weiß nicht wie ich anfangen soll, aber ich nutze diesen Artikel mal um etwas mitzuteilen. Mein Vater war Jahrgang 1917 und BO in der Wehrmacht. Meine Mutter ist 1927 geboren und in den Luftschutzkellern Berlins aufgewachsen. Das hat beide geprägt und sie haben mir und meinen Geschwistern mit Nachdruck die Geschichte des Holocausts vermittelt. Ich bin ihnen dankbar dafür. Allerdings hat sich mein Land inzwischen verändert. Schon Frau Merkel, die geistige Brandstifterin und (frühere) Sozialistin der „DDR“, hat überall in Deutschland vermeintliche „Nazis“ vermutet und sehr laut auf sie gezeigt, übrigens ganz so, wie man das auch in ihrem ersten Staat wo sie zur Elite gehörte, der sog. „DDR“ praktiziert hat - und gleichzeitig hat sie ihren UN Botschafter Heusgen in aller Stille angewiesen, Israel bei jeder Gelegenheit in den Rücken zu fallen. Das ergibt Sinn, denn auch die „Nazis“ waren nach eigenem Bekunden „Sozialisten“. Frau Baerbock, die irgendwo vielleicht irgendwas mit Völkerball studiert hat (leider weiß man das nicht so genau), setzt den Kurs der ersten Grünen Kanzlerin also nur fort. Und trotzdem Israel, Du bist nicht allein. Es gibt Millionen Deutsche denen es geht wie mir und die sich über jeden Schlag, der Israel gegen seine Feinde gelingt, aufrichtig und von Herzen freuen. Das geht ein bisschen unter, wie so vieles in diesen Tagen, aber der Stern der Leute die uns regieren, sinkt. Der Stern Israels jedoch, der einzigen Demokratie im Nahen Osten, leuchtet so hell wie lange nicht mehr. Ich weiß, das ist wenig aus einem Land, welches der Hamas vermutlich die Tunnel bezahlt hat. Aber es ist halt da. Und wie heißt es bei einem anderen Nachrichtenportal immer? Wir sind die Stimme der Mehrheit. Alles Gute Israel! Wir sind stolz auf euch.

Johannes Schuster / 02.10.2024

Hinter der Religion als Machtmittel und hinter der Entwertung der Ideologie beginnt eine neuer Abschnitt der Welt….. ? Es wäre ein Traum, den man ohne die Dummheit der Masse träumt. Die ökonomische Krise und die Währungsfragen werden über diesen Traum entscheiden, weniger die Machtfragen an sich.

Jochen Lindt / 02.10.2024

Der Autor hat unterschlagen, dass der Libanon als christlicher Staat gegründet wurde.  Israel zerstört den Libanon seit 1972 , weil Israel das Christentum als Gefahr ansieht. Insofern beschwört der Autor hier die westlichen Staaten ganz im Sinne Lenins als “nützliche Idioten”.  (Die Hisbollah ist wieder was anderes. Ein Proxy des Iran, der im wahrsten Sinne eine Umvolkung des Libanon probiert).

Chris Kuhn / 02.10.2024

Alles schön und recht, aber was uns hier verschwiegen wird: ein Land im vollen Kriegsmodus wie Israel produziert halt sonst nicht mehr viel. Nicht nur seine Exporte sind lädiert, sondern auch die Importe insbesondere von Öl erschwert und verteuert. Der Tourismus ist sowieso auf Null. Was all das für die Wirtschaft bedeutet, liegt auf der Hand. Trotz mehrheitlichen Scharens hinter der IDF, finden weiterhin Proteste gegen Netanjahu statt, und wie man hört, haben auch nicht wenige Israelis das Land vorübergehend verlassen. Daß es alleine da steht, stimmt zwar militärisch nicht, insofern die US Navy im östlichen Mittelmeer kreuzt. Politisch kann Washington im lähmenden Präsidentschaftswahlkampf keine Eskalation gebrauchen, während die Rußländische Armee in der Ukraine langsam aber sicher das Blatt wendet und China die unbestrittene Nummer Eins in Produktion und Welthandel ist. Beijing baut die Neue Seidenstraße vor allem in Südasien weiter aus und kann es sich inzwischen leisten, den Import von Chips aus Taiwan und den USA einzustellen.

Weitere anzeigen Leserbrief schreiben:

Leserbrief schreiben

Leserbriefe können nur am Erscheinungstag des Artikel eingereicht werden. Die Zahl der veröffentlichten Leserzuschriften ist auf 50 pro Artikel begrenzt. An Wochenenden kann es zu Verzögerungen beim Erscheinen von Leserbriefen kommen. Wir bitten um Ihr Verständnis.

Verwandte Themen

Es wurden keine verwandten Themen gefunden.

Unsere Liste der Guten

Ob als Klimaleugner, Klugscheißer oder Betonköpfe tituliert, die Autoren der Achse des Guten lassen sich nicht darin beirren, mit unabhängigem Denken dem Mainstream der Angepassten etwas entgegenzusetzen. Wer macht mit? Hier
Autoren

Unerhört!

Warum senken so viele Menschen die Stimme, wenn sie ihre Meinung sagen? Wo darf in unserer bunten Republik noch bunt gedacht werden? Hier
Achgut.com