Kann man Verantwortung empfinden für etwas, das man kaum kennt? Etwas eigentlich Fremdes und Fernes? In Israel gibt es das seltsame Phänomen der „einsamen Soldaten“, Mädchen und Jungen, die allein nach Israel emigrieren, um ein Land zu verteidigen, das sie kaum kennen.
In der Regel fühlen Menschen Verantwortung für etwas, das sie besitzen oder selbst in die Welt gebracht haben, wie ihre Kinder und Enkel, oder selbst hergestellt oder kreiert wie ein von ihnen gebautes Haus, einen Garten oder ein Kunstwerk. Für etwas, das nach ihrem Gefühl „ihres“ ist, eng und einzigartig an ihre Existenz gebunden. Kann man Verantwortung empfinden für etwas, das man kaum kennt? Etwas eigentlich Fremdes und Fernes? Für ein Land, in dem man nicht geboren wurde, dessen Sprache man nicht beherrscht, in dem niemand aus der näheren Familie lebt, das man noch nie oder höchstens ein- oder zweimal zuvor besucht hat?
In Israel gibt es das seltsame Phänomen der „einsamen Soldaten“. Hebräisch chayalim bodedim, englisch lone soldiers. Gemeint sind junge Mädchen und Jungen, meist noch Teenager, die allein nach Israel emigrieren, ohne ihre Familien, um in der israelischen Armee zu dienen und ein Land zu verteidigen, das sie kaum kennen. Ihre Familien, durch Beruf, Geschäfte, existenzielle Verpflichtungen an ihr Herkunftsland gebunden, können ihnen nicht folgen. Daher sind sie auf sich allein gestellt. Das Erstaunliche ist ihre hohe Zahl. Zur Zeit sind es 7.000 „einsame Soldaten“, die meisten von ihnen Ausländer, aus rund 60 Ländern: aus den USA, Australien, Kanada, Frankreich, Brasilien oder Uruguay, aus Russland, Deutschland, der Schweiz oder Äthiopien, oft aus komfortablen Verhältnissen, doch bereit, auf alles Gewohnte zu verzichten und die Härten des Soldatenlebens in Israel auf sich zu nehmen.
Als junge Juden fühlen sie sich Israel verbunden, sogar verantwortlich für seine Zukunft, so sehr, dass sie bereit sind, für dieses Land ihr Leben zu riskieren. Auch wenn sie keine israelischen Staatsbürger sind, daher eigentlich zu nichts verpflichtet. Sie treffen ihre Entscheidung oft allein. Zeigen eine für 18- bis 20-Jährige bewundernswerte Entschlossenheit. Wenden sich an jüdische Organisationen in ihren Ländern, die ihnen bei der Einreise nach Israel behilflich sind, bei ihrer Einbürgerung und Einberufung zur Armee. Sie dienen auffallend oft in Kampf- und Eliteeinheiten. Die „einsamen Soldaten“ sind bekannt für ihre hohe Motivation und Tapferkeit. Längst hat die israelische Armeeführung erkannt, dass sie die „Moral der Truppe“ stärken.
Oft kümmern sich Familien anderer Soldaten um die „Einsamen“
Für die rund siebeneinhalb Millionen Juden in Israel ist das Gefühl, eine weltweite Gemeinde von Sympathisanten hinter sich zu haben, von entscheidender Bedeutung. Die meisten Juden leben nach wie vor im Ausland, in der Diaspora, hebräisch galut. Viele von ihnen unterstützen Israel nach Kräften. Aber wenn junge Menschen, die im Ausland Karriere machen und vergleichsweise sichere Existenzen aufbauen könnten, auf all das verzichten, um in Israel zur Armee zu gehen und dort ihr Leben zu riskieren, dann macht das auf die im Land geborenen Israelis besonders tiefen Eindruck. Was fasziniert junge Menschen aus Amerika, Europa, Australien an dem kleinen, ewig umkämpften Land? Was auch immer, es muss, um diesen Schritt zu wagen, eine magische Anziehung vorliegen, die man nur sehr ungefähr in Worte fassen kann. Doch was zählen Worte, wenn man mit seiner Tat beweist, dass man zu diesem Land in Liebe gefallen ist?
Von daher gilt den „einsamen Soldaten“ viel Teilnahme in Medien und Bevölkerung, besonders in Zeiten des Krieges. Die Familien ihrer Kameraden laden sie übers Wochenende zu sich nach Hause ein, um ihnen das Gefühl menschlicher Nähe zu geben und ein gutes Shabat-Essen. Es gibt Hilfsorganisationen, die sich ihrer annehmen. Zunächst staatliche wie die Agudah lema'an ha chayal, die Association for the Needs of the Soldiers, die dafür sorgt, dass sie die ihnen zustehenden Unterstützungen erhalten, etwa die montliche Zahlung vom Ministerium für Einwanderung, die Mietbeihilfe vom Ministerium für Bau- und Wohnungswesen, die Gutscheine für Lebensmittel und andere Erleichterungen. Insgesamt erhalten „einsame Soldaten“ etwa das Doppelte an monatlichen Subsidien als Soldaten mit Familien und Elternhäusern.
Diese Fürsorge wird ausgedehnt auf israelische Jugendliche aus ultraorthodoxen, arabischen oder asozialen Milieus, die ihre Kinder nicht unterstützen, wenn sie zur Armee gehen. Im Fall ultraorthodoxer Gemeinden kommt es nicht selten zur regelrechten Verstoßung durch Rabbi und Eltern, so dass diese Soldaten gleichfalls ohne jeden familiären Hintergrund die drei Jahre Wehrdienst überstehen müssen. Hinzu kommen Waisen, deren Zahl durch Kriege und ständige Terror-Anschläge im Zunehmen begriffen ist. Für die „einsamen Soldaten“ gibt es Clubhäuser, wo sie sich treffen und das Wochenende verbringen können, man versorgt sie dort mit warmen Mahlzeiten, Internet-Anschluss, Duschen und Waschmaschinen. Private Spendenorganisationen, betrieben von Freiwilligen, unterhalten ein ganzes Netzwerk solcher Einrichtungen. Auch Psychologinnen und Psychologen stehen zur Verfügung, um Heimweh und Depressionen abzuwehren. In vielen Fällen kümmern sich die Familien anderer Soldaten um die „Einsamen“. Auf der Website The Lone Soldier Center finden sie die nötigen Informationen über Hilfsdienste, ihnen zustehende Unterstützungen und Adressen für Beistand in praktischen Fragen.
30.000 Menschen erschienen zur Beisetzung
Die große Wertschätzung der israelischen Gesellschaft für die „einsamen Soldaten“ rückt ins Schlaglicht der Medien, wenn einer von ihnen im Kampf sein Leben verliert. Als der in Kalifornien geborene Soldat Max Steinberg im Juli 2014 in Gaza fiel, riefen soziale Medien landesweit zur Teilnahme an seiner Beerdigung auf, da er keine Angehörigen in Israel hatte. Darauf erschienen 30.000 Menschen zu seiner Beisetzung. Man flog auch seine Eltern aus Los Angeles ein und und seine jüngere Schwester, die von der allgemeinen Teilnahme am Schicksal ihres Bruders so überwältigt war, dass sie auf der Stelle beschloss, in Israel zu bleiben.
Die Teilnahme an Steinbergs Beerdigung war kein Einzelfall. Auch zu den Beisetzungen von Nissim Sean Carmeli aus Texas 2014 oder Jordan Cooper aus Pennsylvania 2024 erschienen tausende Israelis, um ihren Respekt zu bezeigen, bei Carmeli sollen es wiederum über 10.000 gewesen sein. Noch wichtiger ist jedoch die tätige Hilfe und Sympathie, die den „Einsamen“ zuvor zuteil wurde, wie tausenden anderen jungen Juden, in etlichen Fällen auch Nicht-Juden, die es gerade in schweren Tagen nach Israel zieht. Warum? Es ist eine Frage des Herzens, über die gerade junge Menschen ungern Auskunft geben, die sich in ihrem Inneren abspielt und für ihr Leben von größter Bedeutung ist wie ihre erste Liebe. Weshalb man ihnen am besten keine großen Erklärungen abverlangt.
Ich könnte manche Geschichte erzählen, etwa von dem jungen Tschechen aus der schönen und friedvollen Stadt Prag, der mich im Kibbuz Sde Boqer in der Negev-Wüste um Hilfe bat, um in die israelische Armee eintreten zu können, obwohl er kein Jude war und kein Anrecht auf israelische Staatsbürgerschaft hatte. Oder von jungen russischen Juden, die in den letzten Jahren aus Russland nach Israel kamen, um sich Russlands Krieg gegen die Ukraine zu entziehen, aber hier sofort zur Armee gingen, um für das ihnen noch unbekannte Land zu kämpfen. Uns selbst ist die Stärke des jüdischen Volkes oft ein Rätsel, seine Kraft und Ausdauer, immer neue Herausforderungen bestehen. In den „einsamen Soldaten“ zeigt sie sich in ergreifenden, überzeugenden Einzelfällen – deshalb gilt ihnen die Liebe des ganzen Landes.
Eine gekürzte Fassung dieses Textes erschien im Kulturmagazin OPUS, Ausgabe 108, März 2025
Chaim Noll wurde 1954 unter dem Namen Hans Noll in Ostberlin geboren. Sein Vater war der Schriftsteller Dieter Noll. Er studierte Kunst und Kunstgeschichte in Ostberlin, bevor er Anfang der 1980er Jahre den Wehrdienst in der DDR verweigerte und 1983 nach Westberlin ausreiste, wo er vor allem als Journalist arbeitete. 1991 verließ er mit seiner Familie Deutschland und lebte in Rom. Seit 1995 lebt er in Israel, in der Wüste Negev. 1998 erhielt er die israelische Staatsbürgerschaft. Chaim Noll unterrichtet neben seiner schriftstellerischen Tätigkeit an der Universität Be’er Sheva und reist regelmäßig zu Lesungen und Vorträgen nach Deutschland.