Israel als Überlebenstrainer für Europa 

Die Corona-Krise verdeckt, dass die politische Situation im Nahen Osten alles andere als stabil ist. Das Chaos vor unserer Haustür ist mit globalen Visionen nicht zu bewältigen. In einer Realpolitik der Kulturen sollte es für Europa vor allem um die Stabilisierung des Raums gehen.

Die Begegnungen von "Orient und Okzident" enden häufig im Zusammenprall. Denn sowohl Integration als auch Intervention tragen selten gute Früchte. Beide Kulturkreise sind von grundlegenden Inkompatibilitäten gekennzeichnet, die statt ihrer jeweiligen Universalität Abstand und Koexistenz erfordern. Auf deren Basis wäre dann die Kooperation bei kulturübergreifenden Notwendigkeiten der wissensbasierten Zivilisation aussichtsreich. Für eine Doppelstrategie von Koexistenz und Kooperation wären die Funktionssysteme zu unterscheiden.

Eine Harmonie der Kulturen wird meist in interkulturellen und interreligiösen Dialogen gesucht, wo sie am wenigsten gelingen kann. Im Kampf der Religionen hat der Islam im Orient längst den Sieg davongetragen. Christen sind in ihrem Herkunftsgebiet allenfalls noch als diskriminierte Minderheiten geduldet. Mit jeder Radikalisierungswelle droht ihnen neue Vertreibung, die in manchen Staaten schon nahezu abgeschlossen ist. Im nachchristlichen und kulturrelativistischen Europa gilt diese Zerstörung von Multireligiosität jedoch nicht als Menetekel.

Beschworen wird ein Globalismus und ein Multilateralismus, der nicht schützt, weil er nicht einmal zwischen Freund und Feind zu unterscheiden vermag.

Die Lektüre von Samuel Huntingtons "Kampf der Kulturen" hätte weitere west-östliche Verstrickungen verhindern können. Huntington hatte – im Gegensatz zur Unterstellung seiner zahlreichen Nichtleser – keineswegs zum "Kampf der Kulturen" aufgerufen, sondern vor immer neuen Einmischungen und Verstrickungen des Westens in fremde Kulturkreise gewarnt. Gegenüber den beiden Herausforderer-Kulturen des Westens, China und dem Islam, sei Selbstbegrenzung auch deshalb geboten, um sich gegen sie behaupten zu können. Die Akzeptanz einer multikulturellen Weltordnung sowie die Selbstbehauptung der eigenen Kultur seien zwei Seiten einer Medaille.

Konsequent den Geboten der Selbstbehauptung unterworfen

Das ideologische Motiv der Interventionen gegen autoritäre Unrechtsregime im Nahen Osten war der demokratische Universalismus. Mit der Beseitigung Saddam Husseins und Muammar al-Gaddafis wurden der Irak und Libyen von stabilen Diktaturen befreit und in die Anarchie und in Stammeskriege gestossen. Das herbeigebombte Machtvakuum in Libyen hat längst Russland und die Türkei auf den Plan gerufen, die sich die Gelegenheit zum Plündern nicht entgehen lassen. Große Übel wurden gegen noch größere eingetauscht. Bei der Aufteilung Libyens wird es Gewinner geben, Europa wird ob der Flüchtlingsströme aus Libyen zu den Verlierern gehören.

Israel verstrickt sich schon deshalb nicht in die Konflikte seiner Nachbarschaft, weil es sich über keine der Konfliktparteien Illusionen macht. Seine Strategie ist konsequent den Geboten der Selbstbehauptung unterworfen. Europäische Multikulti-Perspektiven gelten hier als blanke Naivität.

Die Zukunft Israels liegt aber nicht nur in andauernder Wehrhaftigkeit, sondern auch in seiner Teilhabe an der wissensbasierten Zivilisation. Im Jahr 2017 meldeten der Irak, Palästina, Jemen, Syrien und Jordanien zusammen neun hochkarätige Patente an. Aus Israel kamen mehr als zweihundertmal so viele. Längst ist die Fähigkeit zur Meerwasserentsalzung und zur Begrünung der Wüsten wichtiger als Religionen und Identitäten. Einige arabische Staaten haben schon verstanden, dass sie deshalb die Israeli besser nicht "ins Meer treiben" sollten. Und auch angesichts des die Region destabilisierenden Iran gilt den Arabern das koexistierende Israel unterdessen als das kleinere Übel.

Die Palästinenser sind nur vordergründig die Verlierer des Paradigmenwechsels. Ihr geforderter Nationalstaat verliert sowohl angesichts des Zerfalls der Staaten in der Levante als auch angesichts des endlosen Kampfes zwischen Hamas und Fatah an Attraktion. Manche Palästinenser haben begriffen, dass sie umso besser leben, je mehr sie sich mit Israel arrangieren. Dies gilt vor allem für die 1,5 Millionen israelischen Palästinenser, aber auch dort, wo die säkulare Fatah mit Israel diskret kollaboriert. Das jährliche Pro-Kopf-Einkommen im Westjordanland ist höher als jenes in den meisten arabischen Staaten.

Entwicklung gelingt nicht über kollektivistische Identitäten, sondern über individuelle Kompetenzen. Die zahllosen von Europa finanzierten NGO sollten die Palästinenser nicht in ihrer kulturalistischen Opferrolle bestärken, sondern sie fit machen für eine Teilhabe an den Daten- und Produktströmen der globalisierten Zivilisation. Erste Voraussetzung hierfür wäre eine Differenzierung und Trennung nach religiösen, politischen und ökonomischen Kategorien. Darüber würde die Dominanz Israels leicht als das kleinere Übel gegenüber dem totalitären Islamismus der Hamas erkannt.

Realistisches Gefahrenbild

Die Selbstbehauptung Europas erfordert zunächst ein realistisches Gefahrenbild. Doch trotz aller Terroranschläge gelten nicht die Islamisten als verwerflich, sondern die Warner vor ihnen als "islamophob", zumindest als krank, wenn nicht als rechtsextrem. Das Erkennen des Feindes galt einmal als wichtigste Aufgabe der Politik. In der europäischen Regenbogenkultur droht hingegen jede Unterscheidung zwischen Feind und Freund und sogar schon zwischen Eigenem und Fremdem verloren zu gehen.

Europas Zukunft liegt weder in einer ökonomisch motivierten Äquidistanz zu China noch in guten Beziehungen zu Iran, sondern in der Notwendigkeit einer Abgrenzung und der Selbstbehauptung des liberaldemokratischen Kulturkreises. Während die USA sich zurückziehen könnten, bliebe Europa den nahöstlichen Wirren nahezu schutzlos ausgeliefert.

Stattdessen bringen die Wortführer in der Europäischen Union den amerikanischen Verbündeten durch maßlose Kritik und Missachtung der Verpflichtungen gegen sich auf. Sie beschwören einen Globalismus und Multilateralismus, der nicht schützt, weil er nicht einmal zwischen Freund und Feind zu unterscheiden vermag. Niemand kann mit der ganzen Welt solidarisch sein. Die Schwärmereien über globale Gemeinsamkeiten gehören vom Kopf auf die Füße partikularer Interessen und auf Strukturen des gegenseitigen Eigennutzes gestellt.

Sonst drohen den Europäern nicht weniger als eine kulturelle Unterwerfung unter den Islam und eine ökonomische Unterwerfung durch China, zudem auch noch die Erpressbarkeit durch mittlere Mächte wie die Türkei und Russland. Ein "Europa, das schützt", vertrüge mehr Vielfalt nach innen und brauchte weit mehr Handlungs- und Selbstbehauptungsfähigkeit nach außen.

Bei der Opposition gegen Assad handelte es sich bei der Mehrheit nicht um Demokraten, sondern um Islamisten. Der Westen betrachtet das Assad-Regime als Monster – statt als kleineres Übel. Aber das größtmögliche Übel ist der islamistische Totalitarismus. Solange entlang der Kategorien Demokratie oder Diktatur gedacht und gekämpft wird, irrt der Westen in den Religions- und Stammeskonflikten des Nahen Ostens hilflos herum und weiß allenfalls, gegen wen, aber nicht für wen er kämpfen soll.

Autoritarismus und Totalitarismus

Letztlich spitzt sich alles auf die aus dem Kalten Krieg bekannte Unterscheidung zwischen Autoritarismus und Totalitarismus zu. Im ideologischen Kalten Krieg galten autoritäre Regime wie Franco-Spanien oder die damalige säkulare Türkei als kleinere Übel – und als Verbündete. Übertragen auf den heutigen Nahen Osten bedeutet dies: politische Koexistenz mit autoritären, aber säkularen Regimen und gegebenenfalls Eindämmung des Islamismus mit ihnen.

Je mehr die Türkei vom Autoritarismus in den Totalitarismus abgleitet, desto mehr sollte der Westen ihr gegenüber zur Eindämmung übergehen. Szenarien der Integration in die EU und eine fortbestehende Bündnismitgliedschaft in der NATO hätten in einer realpolitischen Strategie der Kulturen keinen Platz. Nach allen Illusionen und Überdehnungen Europas müssen Kulturen in ihrer Unterschiedlichkeit endlich ernst genommen und deren Mächte nach den Notwendigkeiten und Möglichkeiten von Eindämmung, Koexistenz und Kooperation differenziert werden.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der NZZ. Wir veröffentlichen ihn mit freundlicher Genehmigung des Autors.

 

Heinz Theisen ist Professor für Politikwissenschaft an der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen in Köln.

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Martin Landvoigt / 31.07.2020

Eine wohl durchdachte Grundorientierung. Schlüsselthese: ‘Das Erkennen des Feindes galt einmal als wichtigste Aufgabe der Politik. In der europäischen Regenbogenkultur droht hingegen jede Unterscheidung zwischen Feind und Freund und sogar schon zwischen Eigenem und Fremdem verloren zu gehen.’ Tatsächlich ist das erkennen und Vertreten von Eigeninteressen nicht moralisch verwerflich. Es ist sogar dem Eigeninteresse entsprechend, dieses nicht auf Kosten der Partner zu tun, sondern ein balanciertes Maß an Kooperation - mit Freunden - zu suchen. Eben jene dinge Mangeln aber der aktuellen politischen Elite des Westens: Augenmaß und Realitätssinn, und die Erkenntnis, dass es sehr wohl Menschen und Regierungen gibt, die uns feindlich gesonnen sind und denen auch mit Appeasement nicht beizukommen ist.

giesemann gerhard / 31.07.2020

Zum Glück sitzt DE mitten zwischen Ländern, die sehr wohl wissen, dass mit dem Scharia-Islam nicht gut Kirschen essen ist. Das scheint sich auch so langsam hier bei uns herum zu sprechen. Alhamdulliläh.

Uwe Heinz / 31.07.2020

Nachdem das Buch „Mein Kampf“ herausgegeben war, konnten schlaue Köpfe bereits ahnen, was A. Hitler in Europa vorhatte. Nachdem alles vorbei war, lasen Historiker, Soziologen und Psychologen noch viel mehr aus diesen Zeilen heraus. Es gibt da aber noch ein anderes Buch, das Salman Rushdie analysiert hat und weswegen er eine lebenslange Fatwa auf sich gezogen hat. Nun, Ihr lieben Geisteswissenschaftler, warum arbeitet ihr euch daran nicht ab? Volker Pispers sagte einmal: „Wenn man weiß, wer der Feind ist, dann hat der Tag schon Struktur!“

Arne Brandt / 31.07.2020

Natürlich ist Israel ein Vorbild. Und die Zukunft Europas liegt darin, unser eigenes Israel aufzumachen.

Horst Kruse / 31.07.2020

Ich habe gestern diesen vorzüglichen Artikel in der NZZ geliked und dazu geschrieben , dass man so etwas in den deutschen ” Qualitätsmedien ” nicht finden würde ; dazu müsse man schon die ” Achse des Guten ° oder Tichys Einblick anklicken . Wie wahr !

Klaus Klinner / 31.07.2020

Chapeau Herr Theisen, ich habe bisher noch keine so klare Darstellung des Problems, komprimiert auf so wenige Worte gelesen. Leider werden auch Sie die hiesigen politischen Entscheidungsträger und noch weniger die, die im Hintergrund die Fäden spinnen, erreichen und deren Enscheidungen beeinflussen. Ein Palästinenserstaat z.B. würde in sich schon den Sprengstoff des Scheiterns tragen und lediglich zur Schaffung eines neuen hochexplosiven Konfliktherdes im Nahen Osten führen. Mit Ausnahme ultrakonservativer Staatsgebilde hat sich dort bisher keine Staatsform dem Islamismus gewachsen gezeigt.

Gunter Baumgärtner / 31.07.2020

Ums mal ganz kurz und knapp auf den Punkt zu bringen: Israel ist so wie Deutschland sein sollte.

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