Wolfram Weimer / 24.10.2019 / 06:15 / Foto: Pixabay / 19 / Seite ausdrucken

Irland kann zum Brexit-Gewinner werden

Als Boris Johnson noch Außenminister war, fragte er seinen Stab einmal, wer eigentlich dieser Leo Varadkar sei: “Warum heißt der nicht Murphy wie all die anderen Iren?” Ein klassischer Johnson-Scherz, doch einer mit Pointe. Denn der irische Premierminister ist tatsächlich alles andere als ein typischer Politiker Irlands.

Er ist Arzt, Sohn eines indischen Immigranten und bekennend schwul. Und er verfolgt im katholischen Irland ganz eigene Wege. So befürwortet er die Legalisierung der Abtreibung, geht kaum – was in Irland eigentlich zur politischen Kultur gehört – auf Beerdigungen und macht lieber nächtliche Überstunden mit Akten, als im Pub bei Livemusik ein Bierchen zu trinken. Seine Gegner rufen ihn “swot” – Streber.

Varadkar führt eine Minderheitsregierung und steht innenpolitisch seit Monaten unter Druck. Dass er sich überhaupt seit gut zwei Jahren im Amt halten kann, hat er eigentlich dem Brexit zu verdanken. Denn die Sorge der Iren vor dem Schock eines No-Deal-Brexits ist so groß, dass man die eigene, mäßig beliebte Regierung lieber im Amt hält, um Stabilität zu gewährleisten.

„Nichts darf die offene Grenze gefährden“

Für Irland ist der Brexit eine Existenzfrage. Kein EU-Staat ist unmittelbarer betroffen, in keinem Land sind die wirtschaftlichen Folgen gravierender, nur hier gibt es eine Landgrenze, und diese ist für Irland zudem eine Frage nationaler Identität. Die Offenheit der Grenzen ist ein Kernelement des Karfreitagsabkommens von 1998, das den nordirischen Bürgerkrieg beendet hat und den Frieden sicherstellt.

“Nichts darf die offene Grenze gefährden”, tönt Varadkar daher seit Monaten in die Brexit-Verhandlungen. Und er hat Erfolg. Dem Premierminister ist es gelungen, die gesamte EU geschlossen hinter Irland zu versammeln, und auch der letzte Kompromiss im Brexit-Poker trägt seine Handschrift. In London weiß man inzwischen, wer den Schlüssel zur Lösung des Problems in der Hand hält: der Nicht-Murphy aus Dublin.

Der britische “Guardian” schreibt: “Johnson ist gezwungen, zu ihm aufzuschauen. Buchstäblich und bildlich. Denn der 1,93 Meter große Varadkar steht auf den Schultern der Europäischen Union, ihrer Kommission, ihres Parlaments und aller 27 Mitgliedstaaten.” Selbstbewusst verkündet Varadkar daher an die Adresse Londons: “Keine britische Regierung sollte Irland etwas aufzwingen, was die Menschen in allen Teilen Irlands nicht wollen.”

Nordirland nähert sich Irland an

Tatsächlich führt der neueste Brexit-Kompromiss dazu, dass Nordirland wirtschaftlich künftig näher an Irland als an Großbritannien gebunden scheint. London-Korrespondent Sebastian Borger diagnostiziert sogar: “Erstmals in den 800 Jahren englisch-irischer Geschichte hat das kleinere Land größeres Gewicht als das einstige Empire – jedenfalls solange die europäische Solidarität trägt.”

Johnson und Varadkar haben sich auf einem bildmächtigen Spaziergang in Thornton Manor auf den jetzigen Brexit-Plan geeinigt. Seit diesem Spaziergangs-Deal steigen die Sympathiewerte Varadkars wie Johnsons an. Beide würden davon politisch Nutzen tragen, sollte er gelingen. Beide wären in ihren Ländern dann die Brexit-Macher, die das Schlimmste verhindert haben. Beide könnten vorgezogene Neuwahlen mit Zuversicht ausrufen.

Für den untypischen Iren, der sich als schwuler Swot verhöhnen lassen musste, wäre der Wahlsieg ein persönlicher Triumph. Varadkars Vater, ein Hindu aus Mumbai, ist in den Sechzigerjahren nach England eingewandert, um dort als Arzt zu arbeiten. Er heiratete eine irische Krankenschwester und zog nach Dublin. Leo wurde katholisch wie seine Mutter und Arzt wie sein Vater, fleißig wie beide. In der liberal-konservativen Partei Fine Gael machte er Karriere von der Lokalpolitik bis ins Parlament. Nach dem Machtwechsel von 2011 berief ihn Enda Kenny zum Minister für Verkehr, Tourismus und Sport, ab 2014 war er Gesundheitsminister. Im Januar 2015 outete er sich an seinem 36. Geburtstag als erster Minister in der irischen Geschichte als homosexuell. Er wollte vor dem Referendum über die gleichgeschlechtliche Ehe klarstellen, dass es von ihm aus keine “versteckte Agenda” gebe.

Eine versteckte Agenda der anderen Art werfen ihm die Nationalisten in London vor. Varadkar habe mit der Rückendeckung Brüssels so geschickt verhandelt, dass er Nordirland ein wenig aus Großbritannien herausgebrochen habe. In Dublin sieht man das ähnlich, nur eben mit positivem Urteil. Dort wird genüsslich die Episode aus der Jugend Varadkars kolportiert, als er bei einer Klassenfahrt nach Nordirland Feuerwerksraketen zurück nach Irland schmuggelte. Jetzt sei es an der Zeit, diese gesamtirisch abzufackeln.

Quelle: n-tv.de

Dieser Beitrag erschien zuerst bei The European.

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Leserpost

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beat schaller / 24.10.2019

Ach Herr Weimer, ich mag gar nicht mehr “orakeln” und lasse lieber nun mal endlich den Dingen ihren freien lauf. Auf Spekulationen ist nichts aufzubauen. Wenn dann mal alles entschieden ist, dann ist es Zeit und sinnvoll, genaue Auslegeordnung zu machen. Dann kann man feststellen, was mindestens im Augenblick weiterlaufen kann und an was man arbeiten muss. Danach wird man sich auf die neue Situation ausrichten und zwar in der EU (mit Wunden lecken) und in GB mit neuen Wegen und Chancen.  Alles Andere haben andere Kommentatoren bereits gesagt.    

Wilfried Cremer / 24.10.2019

Mir haben Iren gesagt, dass ihre Wiedervereinigung kurz bevorsteht. Dann ist es jedenfalls vorbei mit den Extrawürsten im Fußball; andersrum auch auf der großen Insel.

U. Unger / 24.10.2019

Sorry Herr Weimer, es gibt für die Zeit nach dem Brexit mehrere, als wahrscheinlich anzunehmende wirtschaftliche Entwicklungspfade, mit absoluten Veränderungsmöglichkeiten +-, sowie relativ. Zur vollständigen Betrachtung muß man mindestens Irland, Nordirland, GB ohne NI, EU ohne Ir bewerten. Ihre Prognose dürfte lediglich einen Unterfall betreffen, der mit einer sehr geringen Eintrittswahrscheinlichkeit behaftet ist. Wobei ich das mögliche Ereignis 0 schon weggelassen habe. Ich werte Ihre Prognose mal als den Fall. Ir+,Ni+, GB+, EU+, ganz wohlwollend optimistisch (Konkurrenz belebt das Geschäft!), dass es allen gelingt die Folgen des Brexit durch unterschiedliche Maßnahmen zum eigenen Vorteil zu nutzen. Was müsste nach Borgers These geschehen, damit NI diese Position erreichen kann: NI+++? 3 mal so clever? Wohl kaum. Also andere Variante, Rosinenpickerei und Druck, was nicht ohne Nachteile für andere Beteilgte geht. Ergebnis NI +++, Ir, GB, EU+ (Borgers These). Wer bitte glaubt, dass Nordirland diese Position erreicht? Welche Regierung außerhalb Nordirlands kann dies zulassen, geschweige überleben? Für mich, das wahrscheinlichste Ergebnis GB++, NI +, I -, EU—, Summe 0. Was stützt meine These? GB wird um gigantische Beträge entlastet, NI als Teil GBs mit. Der EU fällt der Nettozahler weg und Ir bleibt Teil der EU samt Beitragslücke, hat aber den Vorteil durch NI, durch Nähe Trittbrettfahrer sein zu können. Nun, was dürfte passieren, falls Irland ganz enorm mit profitiert und eine Entwicklung zum EU Nettozahler beginnt? Auf der Insel nebenan eine prosperieierende Volkswirtschaft ohne EU, auf der eigenen Insel beides. Dies vor dem Hintergrund nun einen Teil der eigenen Gewinne weggeben zu sollen? Richtig, es entsteht eine Opposition mit Austrittsversprechen. Zudem dürfte ein erfolgreiches GB generelle Signalwirkung haben. Politisches Gewicht hat der wirtschaftlich Starke! Für NI trifft dies auf absehbare Zeit nicht zu. Wie lange bleibt die EU stark?.......

Anders Dairie / 24.10.2019

Als der DGB schon 1990/91 im Osten gleichen Lohn verlangte, obwohl die Unternehmen dies keineswegs leisten konnten, die ostdeutschen mangels Produktivität schon gar nicht,  haben die westlichen Investoren (bildlich) die Geschäftsflieger gewendet, um z.B. im Niedriglohn- und steuergebiet IRLAND zu landen. POLEN u.a. wurden ebenfalls bevorzugt.  So war das tatsächlich.  IRLAND hat den Aufschwung zulasten Deutschlands genommen. Das ist heute fast vergessen. Es ist klar, dass derjenige Premier wird und bleibt, der die sozialen Errungenschaften mit Zähnen und Klauen verteidigt.  Mr. VARADKAR wäre Pennäler und kein Politi-ker, wenn er die Widersprüche in Irland,  und die nach außen und zu GB ,  nicht nutzen würde.  Politik ist brutal ehrlich,  für den Normalo gut verdeckt, es geht immer um das Beste, was zu kriegen ist ... fremdes GELD !  Auch dem Mr. JOHNSON.  Der ewig erpresste EU-Britenrabatt - seit M. THATCHER - beweist das.

Th. Wagner / 24.10.2019

Ich finde es positiv, dass sich da 2 clevere Politiker geeinigt haben. Etwas was alles wirtschaftlich zerstört ist die Schieberitis. Nichts ist für einen Geschäftsmann, sei es Handel oder Produktionsfirmeninhaber hinderlicher als eine ewige Schwebe, wo der Rechtsrahmen in der Luft hängt. Irland macht gute Geschäfte in der EU. Irland ist kein Geberland. Großbritannien kann ich verstehen: die weltweiten Verbindungen aus dem Commonwealth sind wichtiger als EU-Bürokraten, die andauernd Geld brauchen um mit noch unsinnigeren Mitteln und Vorschriften die Industie, Handel und den Bürger zu drangssalieren. - Die deutschen Politiker wettern nur so, weil mit GB ein Nettozahler geht. Aber ich bin sicher: so wie in der Vergangenheit schaffen es die deutschen Politker mit der Bundesregierung auch diesmal wieder alles in den Abgrund zu reißen. Wenn der deutsche Steuerzahler nicht mehr zahlen kann, dann gehen in der EU auch die Lichter aus.

Herbert Dietl / 24.10.2019

Was interessiert mich (es) welche sexuelle Präferenz der, die, das Mann hat, und andere Nebensächlichkeiten? Dass der Autor nicht mal den Unterschied zwischen United Kingdom und Great Britain kennt -  schade, dass das erst am Ende des Beitrages zu lesen war, sonst hätte ich mir den Rest gespart.

Sabine Schönfelder / 24.10.2019

Wer sich in Europa gegen den Brexit, Johnson, Orban oder Salvini, insbesondere in deren Ländern, positioniert, hat mit einem Schlag jede Menge finanziell gut ausgestatteter Freunde um sich herum; die ganze EU und alle links dominierten NGOs. In Irland wanderte einst der schneidige Anteil der Bevölkerung nach Amerika aus und die ‘Zurückgebliebenen’ wählten einen schwulen Inder, der seine Position ganz clever auslotet, aber wozu? Ist es wichtig zum Regieren eines Landes mit WEM man schläft? Ist es von Bedeutung, ob eine Minderheit, ob Gleichgeschlechtliche, heiraten dürfen? Der Euro geht den Bach runter, die Migration islamisiert Europa, - mit AUFTRAG und ÖFFENTLICHER Kundgebung Erdogans und wir “gendern” uns lustig durch den Alltag. Ist es wirklich so clever als bekennender Schwuler mit einer linken, migration-und muslimfreundlichen EU zu paktieren? Aber was interessiert den Politiker sein Geschwätz von gestern oder die Folgen seines Handels in der Zukunft, wenn man heute einen kleinen Tagesruhm und Knete einstecken kann.

B. Meyer / 24.10.2019

Das ist natürlich erfreulich für Irland. Aber die Betonung auf „Sohn von Immigranten, schwul, hat sich geoutet, geht nicht auf Beerdigungen“, ist das jetzt auch für sich gestellt schon eine Leistung? Ehrlich gesagt, ich kann es nicht mehr hören. Da fragt man sich, wozu sich Normalos noch anstrengen….

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