Das war so: Ich hatte gerade einen Kundentermin in einem 100-Seelen-Kaff bei uns im Spessart gehabt und wollte heim, denn es dämmerte. Ich war aber noch keine 100 Meter vom Hof um die Ecke gefahren, als ich von einem Rad-Panzer, der quer über die Straße gestellt war, aufgehalten wurde, und nur dem Bremskraftverstärker am Renno ist es zu verdanken, dass ich nicht in die drei Reifen des „Fuchs“ gerauscht bin. Ich war noch völlig außer mir, weil ich so erschrocken war, als sich ein Soldat mit ABC-Schutzmaske und lässig in der Hüfte baumelndem Gewehr näherte und mir durch die Windschutzscheibe bedeutete, ich möge doch meine FFP2-Maske aufziehen. Was ich mit zitternden Händen tat. Er kam zu mir an die Fahrerseite und deutete jetzt mit dem Zeigefinger der behandschuhten rechten Hand an, dass ich das Fenster herunterlassen möge. Vor Aufregung fuhr ich die linke Scheibe im Fonds herunter, weil ich so nervös war und die Schalter so eng beieinander liegen. Nachdem ich meinen Irrtum bemerkt und die richtigen Schalter gedrückt hatte, sagte mir der wie Darth Vader keuchende Soldat: „Hier geht es nicht weiter, das Dorf ist abgeriegelt!“
Nanu? Wurde ein Schwerverbrecher gesucht? Hatten sie einen Spion geschnappt? Befand sich hier, in Hintermondfeld, eine gemeine und geheime Basis für atomare, biologische oder chemische Kriegsführung? Aus dem Augenwinkel bemerkte ich, wie drei weitere Soldaten aus dem Transportpanzer irgendwelche obskuren Geräte wuchteten, dahinter näherte sich ein Bundeswehr-LKW mit einem Rotkreuz-Aufkleber. „Was ist los?“, wollte ich wissen. „Sind Sie gesund?“, fragte der Soldat, der anhand seines Brustaufnähers als Herr Meininger zu identifizieren war. Dazu blaue Litzen und die Abzeichenrune eines Hauptfeldwebels. „Das will ich meinen“, antwortete ich und hustete. Im Nu sprang Hauptfeld Meininger einen Schritt zurück und brachte das Gewehr in Anschlag. „Sie sind nicht gesund“, brüllte er mich an. „Doch, bin ich wohol!“, brüllte ich aus dem Auto zurück, „das war Raucherhusten. Sehen Sie…?“ Ich nahm mein Zigarillo-Päckchen von der Konsole, streckte es ihm aus dem offenen Fenster entgegen und wackelte damit, dass der Hautfelswedel es durch die beiden Gucklöcher in seiner Schutzmaske deutlich erkennen konnte.
Vorsichtig trat der Soldat wieder auf mich zu. „Haben Sie in den letzten 24 Stunden einen PCR-Test gemacht?“, wollte er wissen. „Nein, wozu? Ich habe nichts!“, entgegnete ich brav. „Außerdem würde ich jetzt gerne heim“. Aber Hauptfeld Meininger schüttelte nur den Kopf und befahl: „Auto da auf die Wiese fahren und aussteigen!“ Mir war das zwar zuwider, aber mit Maschinenpistolen ausgerüsteten Menschen widerspricht man eher schlecht.
„Das vorhin war mein Raucherhusten!“
Mittlerweile hatten Soldaten, die wohl dem LKW entstiegen waren, damit begonnen, einen olivfarbenen Pavillon aufzubauen. Ein weiterer LKW war hinzugekommen, von dem nun ebenfalls Soldaten sprangen, die augenscheinlich die Aufgabe hatten, eine Straßensperre zu errichten. Sie luden Stacheldraht und ein paar primitive Stahlgestelle aus dem Fahrzeug. Und alle trugen ABC-Schutzmasken. Ich war sehr beunruhigt, aber natürlich auch neugierig. Ich fuhr das Fenster wieder nach oben, packte Mobiltelefon, Zigarillos, Schlüssel und Portemonnaie ein und verließ den Wagen. Gerade wollte ich die FFP2-Maske abnehmen, aber ein energisches „Lassen Sie das!“, verbunden mit einem metallischen Klicken hinter mir, veranlasste mich, der freundlichen Bitte Folge zu leisten. „Da vorne, zum Zelt“, hörte ich Herrn Meininger empfehlen und stapfte durch das nasse Gras auf den ersten LKW zu.
Ein – wie ich an seinen Abzeichen erraten konnte – Stabsarzt bat mich, mich hinzusetzen, er müsse einen PCR-Schnelltest durchführen, ob ich krank sei. „Bin ich nicht, das vorhin war mein Raucherhusten“, versuchte ich mich zu erklären, aber mit dem mutmaßlich misstrauisch guckenden und bewaffneten Herrn Meininger hinter mir traute ich mich auch nicht, allzu aufmüpfig zu sein. Die schienen sowieso alle recht nervös. Vor dem zweiten LKW stand mittlerweile eine 1a-Straßensperre aus Leichtmetall und Nato-Draht, und die Pioniere bauten in der Nähe meines Autos jetzt ein weiteres Zelt im Hallenformat auf. Andere wiederum holten nun Schlafsäcke und Iso-Matten aus dem zweiten LKW. „Mund auf, bitte!“, forderte mich der Stabsarzt auf, ohne meine Verteidigungsrede zu würdigen, und näherte sich erstaunlich bedrohlich mit einem seltsamen Wattestäbchen. „Was wird das?“, wollte ich wissen.
Der Arzt atmete schwer durch seine Schutzmaske. „Ich entnehme Ihnen nun Speichel aus dem Rachenraum und wir überprüfen dann, ob Ihr Speichel Corona-Viren enthält“, erklärte er. Ich wurde etwas ungeduldig: „Wie schnell geht das denn bei einem Schnelltest?“ „In 24 bis 48 Stunden haben wir das Ergebnis“, tröstete mich der Arzt. Ich wollte noch etwas in Richtung „Wollen Sie mich verarschen“ sagen, aber kaum hatte ich den Mund offen, hatte mir der Arzt schon das Wattestäbchen zwischen die Kiemen gesteckt und stocherte in meinem Rachen, sodass ich Würgereiz bekam. Dann zog er die Teile heraus, verpackte sie sorgfältig und vermerkte meinen Namen auf der Packung, den er von meinem Personalausweis abschrieb, welchen ich im wahrsten Sinne des Wortes unter Hängen und Würgen aus meinem Portemonnaie kramte.
„Höchste Seuchengefahr! Einsatz im Inneren zur Gefahrenabwehr!“
„Und jetzt? Wie geht es weiter? Kann ich jetzt gehen?“, wollte ich wissen. Der Stabsarzt schüttelte den Kopf. „Nicht, solange wir nicht Ihr Testergebnis haben. Sie folgen jetzt Hauptfeldwebel Meininger zur Essensausgabe, dann suchen Sie sich einen schönen Platz im Zelt. Ihr Handy…“, er tippte auf meine Hemdtasche, in der sich mein Mobiltelefon auffällig platziert befand, „…bleibt solange hier.“ Sprachs, nahm es aus meiner Hemdtasche und packte es zu der Probe. „Kontaktnachverfolgung“, ergänzte er sein gar munter Treiben. Ich war sprachlos, stand auf und trottete in die Richtung, die mir Herr Meininger mit dem Finger anzeigte.
Am Ende des frisch aufgebauten Zeltes gab es einen Stand mit alkoholfreien Getränken und geschmackstauben Sandwiches. Ich durfte mir zwei Getränke meiner Wahl und ein Sandwich nehmen und wählte einen Schlafplatz ziemlich in der Mitte des Zeltes, in dem wohl etwa 30 Leute Platz finden durften. Was tun? Ich beschloss, unter den wachsamen Augen von Herrn Meininger etwas herumzuschlendern. Und so sah ich, wie einige Dorfbewohner unter Protest aus den Häusern geholt wurden, mittlerweile hatten sich auch zwei, drei andere Gestrandete, darunter eine Mutter mit einem kleinen Kind, eingefunden, die ebenfalls unter ABC-schutzmaskierter Bekleidung und Begleitung zu dem kleinen Testzelt an LKW Eins geleitet wurden.
Im Abstand von etwa 75 Metern hatten bewaffnete und maskierte Soldaten eine Postenkette um den Flecken gezogen, auch am anderen Ende von Hintermondfeld stand ein Fuchs-Panzer. Dort desinfizierten Soldaten den Asphalt mit einem Sprühmittel. „Ja, hallo, Herr Schneider!“, hörte ich einen Soldaten neben einer Brombeerhecke rufen, und drehte mich um. „Erkennen Sie mich? Jonas Müller!“, fragte der Soldat an der Hecke freudig. „Nein, Sie haben da so ein Dings auf“, entgegnete ich wahrheitsgemäß und unter der Schutzmaske war ein Glucksen zu hören. „Stimmt, ja“, lachte Jonas Müller. „Sagen Sie, Herr Müller, was ist hier eigentlich los? Ist der Dritte Weltkrieg in Hintermondfeld ausgebrochen oder was geht hier?“, wollte ich wissen. „Inzidenz 1000“, gab der Obergefreite Müller zurück, „höchste Seuchengefahr! Einsatz der Bundeswehr im Inneren zur Gefahrenabwehr!“ „Um Himmels Willen, soll das ein Witz sein? Das Kaff hier hat knapp 100 Einwohner! Wie viele davon sind denn da krank?“, erkundigte ich mich entsetzt. Obererfreuter Jonas Müller sah sich kurz nach links und rechts und genügend Abstand zu Hauptweltfibel Meininger um, dann sagte er halblaut: „Einer!“
(Weitere Erklärungsversuche des Autors unter www.politticker.de)
Von Thilo Schneider ist soeben in der Achgut-Edition erschienen: The Dark Side of the Mittelschicht, Achgut-Edition, 224 Seiten, 22 Euro.