Zurzeit ist es der Begriff der „Instrumentalisierung“ selbst, der so häufig instrumentalisiert wird. Von denjenigen, die ihn als Vorwurf erheben.
Die Vorwürfe kommen zuhauf: Die AfD instrumentalisiere den Dreifach-Messermord von Solingen durch einen abgelehnten syrischen Asylbewerber für ihre Zwecke. Für ihren Wahlkampf. Konkurrierende Politiker erheben diesen Vorwurf, die Medien, Zeitungen, Magazine, sie geben ihn wieder, machen ihn sich in Kommentaren zu eigen.
In der Tat: Wenn die AfD jetzt meint: Am kommenden Sonntag hätten die Thüringer und Sachsen mit ihrem Kreuzchen „die Wahl zwischen Solingen und der AfD“, so kommen die Strategen der Partei mit dieser Behauptung reichlich vollmundig daher. Selbst ein Wahlgewinner Höcke hätte erstmal keine Chance, einen erneuten Anschlag eines jungen Messermannes komplett zu unterbinden. Weiterer Tenor der AfD: Jetzt ist das passiert, was vorhersehbar war.
Der Vorwurf der anderen lautet aber auch auf Pietätlosigkeit, „Ausnutzung“ des monströsen Gewaltverbrechens für den eigenen Wahlkampf. Und das auch noch am ersten und zweiten Tag danach, da doch eigentlich noch Trauer angesagt sei.
Auch das kann man so sehen. Aber erstens: Etwas anderes als Wahlkampf durch die konkurrierenden Parteien ist dieser ihr Vorwurf an die AfD schließlich auch nicht. Auch die hätten ja pietätvoll mit ihrer Retourkutsche erstmal die Trauerzeit abwarten können, wenn sie hier schon scharfe Kritik vorbringen.
Nein, die Forderung nach tagelangen Schweigeminuten kann man so oder so nur als blauäugig bezeichnen – bezogen auf beide Seiten. Warum sollte eine Partei, die jeden Tag vor solchen Verbrechen warnt, schließlich auch, weil an fast jedem Tag ansatzweise Ähnliches passiert, ausgerechnet im Endspurt des Wahlkampfes zu so einem Ereignis schweigen, wenn es plötzlich – mal wieder – besonders dicke kommt?
Man würde es ihr nicht abnehmen. Das Thema Ausländerkriminalität, Ausländergewaltkriminalität, ja die illegale, unkontrollierte Migration ist der Hauptpunkt im Wahlkampf der AfD (des BSW übrigens auch, wenn man es genau nimmt). Und zwar auch aus einem Grund: Die Migration ist derzeit das Thema, das den Menschen im Land am meisten unter den Nägeln brennt, seit langer Zeit.
Nicht auf dem Mist der AfD gewachsen
Beinahe rührend ist es auch, wenn das reichweitenstarke Portal T-online feststellt: „Innerhalb der wenigen Stunden zwischen der Tat und der Festnahme spekulierten AfD-Politiker in den sozialen Netzwerken jedoch bereits über die Herkunft des Täters und dessen Motive, wie der "Tagesspiegel" berichtet. Der Täter habe ein "südländisches Erscheinungsbild“ und einen "dichten, kurzen Vollbart", hieß es etwa auf Facebook oder dem Kurznachrichtendienst X.“
Soweit T-online. Zum einen allerdings hätten deren Redakteure, bevor sie so etwas schreiben, das recherchieren können, was jeder, der am Freitagabend ein- oder zweimal Nachrichten gehört hatte, als Aussage eben von Zeugen kannte. Das mit dem „südländischen Erscheinungsbild“ ist nicht auf dem Mist der AfD gewachsen. Zum zweiten ist es im Rückblick immer etwas zweischneidig, jemand irgendetwas als reines Vorurteil vorgeworfen zu haben, was sich dann hinterher als Realität herausstellte, und zwar genau so.
Wie immer man zu dieser vielleicht voreiligen Aussage (die ja eben nicht von der AfD kam) steht: Der Verlauf der Dinge bestätigte auch dieses Mal nur die Wahrscheinlichkeiten, die schließlich auf Statistiken beruhen: "Deutlich wird auch, dass die Kriminalität durch die irreguläre Migration stark zugenommen hat. (…) In Relation zur Gesamtbevölkerung hätten statistisch sechs Mal häufiger ausländische Staatsbürger zum Messer gegriffen als Deutsche, machte der Chef der Bundespolizei, Dieter Romann, klar.“ (Aus einem Beitrag der Neuen Zürcher Zeitung vom 20. August 2024 über einen Bericht der deutschen Bundespolizei über das Geschehen in Bahnhöfen und Zügen.)
Vollends unglaubwürdig aber wird der Vorwurf, die AfD betreibe Wahlkampf auf dem Rücken der Opfer, wenn man das eigene Verhalten der anderen Parteien nach rechtsextremen Anschlägen dagegenhält.
Im Februar 2020 etwa, nach dem antimuslimischen Anschlag von Hanau, hatte die damalige CDU-Chefin Kramp-Karrenbauer noch am selben Tag gefordert, jetzt sei klar, dass die CDU nie mit der AfD zusammenarbeiten dürfe. Der SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil stellte bereits am Morgen danach im ARD-Morgenmagazin fest: „Da hat einer geschossen in Hanau, danach sieht es aus, aber es waren viele, die ihn munitioniert haben und da gehört die AfD definitiv mit dazu.“ Die Grünen forderten die Überwachung der AfD durch den Verfassungsschutz ebenfalls noch am selben Tag. An dem auch der FDP-Innenexperte Konstantin Kuhle einen erhöhten „Verfolgungsdruck“ auf die Überschneidung von Rechtsextremismus und AfD einklagte. All das kein Wahlkampf, keine Instrumentalisierung?
Ein bemerkenswerter Kommentar
Dasselbe beim antisemitischen Doppelmord vor einer Synagoge in Halle im Oktober 2019, als der SPD-Politiker Karl Lauterbach sofort erklärte: „Es ist die Hetze der AfD, die dem Rechtsextremismus eine politische Stimme gab.“ Bayerns Innenminister Joachim Herrmann bezeichnete hierbei sogleich Politiker der AfD als die „geistigen Brandstifter“.
Diejenigen also, die jetzt lauthals eine Mindesttrauerzeit einklagen, bevor nach solchen Großereignissen wie jetzt in Solingen der Wahlkampf mit neuer Aktualität weitergehen dürfe (wohl am liebsten erst am Tag nach der Wahl), halten sich selbst kein bisschen an ihre eigene Forderung, haben keine Scheu, solche „Steilvorlagen“ selbst zu nutzen. Man könnte hier unzählige weitere Beispiele dokumentieren, natürlich genauso auch von der AfD bei ähnlichen Gelegenheiten.
Tatsache ist: Eine solche tagelange Enthaltsamkeit wird immer illusorisch bleiben. Übrigens sind in aller Regel im Anschluss an rechtsextreme Anschläge spätestens nach ein, zwei Tagen bereits Großdemonstrationen gegen Rechts initiiert, selbstredend auch gegen die AfD.
Man kann es auch andersherum sehen, natürlich, aber dann bitte auf beiden Seiten. In dem Sinne will ich hier am Ende einen bemerkenswerten Kommentar aus der Nordwestzeitung vom 28.2.2020 zitieren, nach jenem Anschlag in Hanau, der ebenfalls den anderen Parteien wegen ihres Umgangs mit der AfD heftige Bigotterie vorwirft, wenn auch mit entgegengesetzer Konsequenz: "Alexander Will über Hanau, die Instrumentalisierung von Opfern und die AfD":
Erinnert sich noch jemand? Wie laut war doch die Empörung, als die AfD 2016 den Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt für eine anti-islamische Anti-Einwanderungskampagne nutzte.
Drei Jahre später bekommt die Partei nun, nach dem Massaker von Hanau, eine massive Dosis ihres eigenen Giftes zu kosten. Jetzt wird die AfD zum Verantwortlichen für den Massenmord in Hessen geschrieben. So mancher identifiziert den Finger der AfD am Abzug der Glock von Hanau. Man könnte das nun den Rechtsnationalen angesichts ihrer Kampagne von 2016 gönnen, doch das wäre ein Fehler.
Heute wie damals wird eine widerwärtige Bluttat politisch instrumentalisiert. Damals pauschal gegen Einwanderer. Heute pauschal gegen eine Partei und ihre Wähler. Eins ist so falsch wie das andere. Eins ist so opfervergessen wie das andere.
Es untergräbt die Debattenkultur, ja überhaupt die Fähigkeit zur Debatte, wenn jedes Ereignis zu einer Waffe gegen den politischen Gegner umgeschmiedet wird. Wer jede Wendung politischen Geschehens daraufhin abklopft, wie sie gegen Konkurrenten zu verwerten wäre, der geht automatisch in der Analyse fehl.
Wie immer man es sehen mag. Das letzte, mit dem man den Opfern hier oder da gerecht wird, ist Bigotterie. Zurzeit jedenfalls ist es der Begriff der „Instrumentalisierung“ selbst, der so häufig instrumentalisiert wird. Von denjenigen, die ihn als Vorwurf erheben.
Ulli Kulke ist Journalist und Buchautor. Zu seinen journalistischen Stationen zählen unter anderem die „taz“, „mare“, „Welt“ und „Welt am Sonntag“, er schrieb Reportagen und Essays für „Zeit-Magazin“ und „SZ-Magazin“, auch Titelgeschichten für „National Geographic“, und veröffentlichte mehrere Bücher zu historischen Themen.