Von Susanne Baumstark.
Darauf hat man im Land gerade noch gewartet: dass nun auch Menschen mit Behinderung nach der Bundestagswahl von gesinnungsjagenden Zeitungsfritzen instrumentalisiert werden. „Darf ein Café, in dem Menschen mit und ohne Behinderung arbeiten, das für eine Vielfalt der Gesellschaft steht, öffentlich bei Facebook schreiben, dass AfD-Wähler im Café nicht erwünscht sind?“, stellt die Lippische Landes-Zeitung (LZ) zur Debatte. Sie bezieht sich auf einen Aushang an der Tür des Cafés Vielfalt in Lemgo und auf den Facebook-Eintrag der Café-Leitung mit dem Wortlaut: „Liebe Gäste, in unserem Team arbeiten Menschen mit und ohne Behinderungen, Deutsche und Ausländer. Und das ist gut so. Zum Schutz unseres Teams sind AfD-Wähler bei uns nicht erwünscht.“
Beides wurde zwar inzwischen zurückgenommen, da die cafébetreibende Stiftung „als diakonisch-kirchliche Einrichtung der politischen Neutralität verpflichtet“ ist. Die LZ legt trotzdem mittels ihres Kommentars „Ekelhafte Eskalation“ nach: „Das Lemgoer Café Vielfalt hat politisch Stellung bezogen: Wähler der AfD sind unerwünscht. Es dauerte nicht lange, bis der Mob im Internet tobte: Demokratiefeinde! Doppelmoral! Wie im Dritten Reich!“ Dabei habe ein Gastronom nur sein Hausrecht ausgeübt: „Jeder Gastwirt darf Besucher rauswerfen, wenn sie andere Gäste verprellen oder Unfrieden stiften. Und im Falle des Café Vielfalt lassen sich durchaus Gründe finden, dass AfD-Sympathisanten hier nicht richtig aufgehoben sind.“ Das Café Vielfalt sei ein Bekenntnis zur Integration Behinderter, „die die AfD im Falle von Schulen polemisch ablehnt“. „Wer das tut, kann nicht allen Ernstes im Café Vielfalt seinen Espresso trinken wollen...“ Abgesehen von der kaum noch zu toppenden Unverschämtheit stellt sich die Frage, wie der Kommentator mit einem AfD-wählenden Behinderten zurande käme? Darf der dann auch keinen Espresso im Café Vielfalt trinken? Oder soll er von vornherein nicht frei wählen dürfen?
Im Wahlprogramm der AfD steht tatsächlich: „Kinder mit besonderem Förderbedarf erhalten in der Förderschule eine umfassende Unterstützung, die die Regelschule nicht leisten kann. Die AfD setzt sich deshalb für den Erhalt der Förder- und Sonderschulen ein.“ Das geht allerdings konform mit neueren Einschätzungen im betroffenen Umfeld. Das Handelsblatt berichtet: Lehrer in Deutschland halten eine gemeinsame Beschulung mehrheitlich für sinnvoll, in einer Forsa-Befragung sprachen sich aber wegen Umsetzungsproblemen 59 Prozent für den Erhalt der Förderschulen und 38 Prozent für einen teilweisen Erhalt aus. 42 Prozent sagten, Kinder mit Behinderung würden besser in Förderschulen unterrichtet. „Die Umfrage zeige, dass bei der Inklusion Anspruch und Wirklichkeit nicht im Einklang sind.“
Entsprechend ist auch die FDP vorerst für den Erhalt von Förderschulen – dürfen FDP-Politiker dann auch keinen Espresso im Café Vielfalt trinken, weil sie dann „Gäste verprellen oder Unfrieden stiften“? Außerdem: „Tausende Eltern fürchten, dass die Inklusion für ihre Kinder nicht das Richtige ist“, und kämpfen für den Erhalt der Förderschulen. Und: „Im Sauerland führt eine Mutter eine Kampagne zur Erhaltung von Förderschulen. Sie meint, dass ihr lernbehinderter Sohn dort besser aufgehoben ist - und weiß schon fast 12.000 Unterstützer hinter sich.“ Müssen alle diese Eltern draußen vor der Tür warten, bis ihre behinderten Kinder ihre Tasse Schokolade alleine im Café Vielfalt getrunken haben?
Autoritär gegen Elternwillen und Kindeswohl
All den zweifelhaften Erfahrungen mit gemeinsamer Beschulung in Regelschulen zum Trotz fordert aktuell der Zusammenschluss von 14 Verbänden und Gewerkschaften „Bündnis für Inklusion“ auf geradezu aggressive Weise, den gemeinsamen Unterricht von behinderten und nicht behinderten Schülern in Regelschulen voranzutreiben. „Dazu sollen die Förderschulen im Land mittelfristig alle geschlossen werden“, so die Osnabrücker Zeitung. Eine Aktivistin sagt: „Eltern solle zudem das Recht genommen werden, ihre Kinder auf die Förderschulen zu schicken. Denn allein ihre Existenz ist nach Ansicht der Mutter eines behinderten Kindes ein Bruch der UN-Behindertenrechtskonvention (BRK).“
Ob der Sozialverband Deutschland und die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) auch das Elternwahlrecht abschaffen wollen, sei offen. „Das Wahlrecht hat es eigentlich nie gegeben“, behaupten die Verbände. Es müssten dann auch etliche Schulgesetze geändert werden. Beim Bildungsportal NRW etwa steht dazu: „§ 20 Absatz 2 des SchulG bestimmt: „Sonderpädagogische Förderung findet in der Regel in der allgemeinen Schule statt“. Es heißt aber auch: „Die Eltern können abweichend hiervon die Förderschule wählen.“
Die Durchpeitscher der Abschaffung sämtlicher Förderschulen können sich auf zahlreiche Expertisen wie etwa des Wissenschaftszentrums Berlin berufen: Artikel 24 UN-BRK sehe „ganz bewusst kein Wahlrecht zwischen einer inklusiven und einer gesonderten Beschulung vor“. Zurückhaltender interpretierte vor einigen Jahren der Deutsche Städtetag die Lage: „Des Weiteren schließt die UN-BRK die Existenz von Förderschulen nicht aus…Bei der Umsetzung des Art. 24 UN-BRK bestehen folglich Handlungs- bzw. Gestaltungsspielräume der Vertragsstaaten.“
Weitere Aspekte: Das Wohl des Kindes gelte es vorrangig zu berücksichtigen. „In Art. 24 Abs. 3 lit. c) UN-BRK wird dieser Grundsatz dahingehend konkretisiert, dass ‚blinden, gehörlosen oder taubblinden Menschen, insbesondere Kindern, Bildung in den Sprachen und Kommunikationsformen…sowie in einem Umfeld vermittelt wird, das die bestmögliche schulische und soziale Entwicklung gestattet‘.“ Außerdem: „Ebenso ist allgemein anerkannt, dass der Schutz der Menschenrechte anderer eine immanente Schranke jedes Menschenrechts sein kann, so auch Art. 3 Abs. 1 UN-BRK.“ Das betrifft das Recht auf Bildung anderer Kinder, das durch inklusiven Unterricht gefähr-det werden könnte (nicht in jedem Fall wird). „Das Recht auf inklusive (Schul-)Bildung kann daher im Ergebnis nur im Grundsatz vorbehaltlos gewährleistet werden.“
Affront gegen die Menschenrechtsidee
Die Fokussierung auf juristisch spitzfindige Auslegungen und die kaltschnäuzige Abservierung des Elternwillens verdunkeln indessen auch die ursprüngliche Menschenrechtsidee. Seinerzeit wurde in die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte hinein formuliert: „Die Eltern haben ein vorrangiges Recht, die Art der Bildung zu wählen, die ihren Kindern zuteil werden soll.“ (Artikel 26) Die spätere linkspopulistische Vereinnahmung der Menschenrechtsdebatte bezüglich der Konkretisierung der Rechte hat inzwischen dazu geführt, dass anstatt einer Förderung des friedlichen Miteinanders verschiedene Interessengruppen wie Kampftruppen gegenüber stehen und teils jeglichen zwischenmenschlichen Respekt vermissen lassen.
Forciert wird dies noch durch die Proklamierung der Inklusion als Wahlkampfthema – in Niedersachsen wird am 15. Oktober ein neuer Landtag gewählt. Solange es dabei um den Streit der besten Konzepte im Sinne behinderter Kinder und ihrer Eltern sowie – inklusiv gedacht – auch um die Berücksichtigung der Bedürfnislage nicht behinderter Kinder ginge, wäre das in Ordnung. Allerdings ist vielfach zu beobachten, dass diverse Zusammenschlüsse mit kollektivistisch geprägten Gedankengängen bestrebt sind, die individuelle Selbstbestimmung als lästigen Störeffekt zu beseitigen. Das ist ein klarer Affront gegen die Menschenrechtsidee, die gerade individuelle Autonomie und Besonderheiten wertschätzt.
Gesinnungspolitische Instrumentalisierung behindertenspezifischer Themen betreiben im Übrigen auch diverse Verbände direkt aus der Branche heraus. So findet sich auf der Website der Lebenshilfe Folgendes: „Eine Politik wie die der AfD, die Menschen bewusst ausgrenzt, ist mit der Lebenshilfe nicht vereinbar“, so Bundesvorsitzende Ulla Schmidt. Die AfD lehne die Inklusion ab und widerspreche damit den ethischen Grundpfeilern der Lebenshilfe. Einen realistischen Eindruck vermittelt ein Vergleich der behinderungsrelevanten Arbeit in den AfD-Landtagsfraktionen.
Der Blinden- und Sehbehindertenverein veröffentlichte Wahlprüfsteine: Im Wahlprogramm zur Bürgerschaftswahl „sieht die AfD Hamburg die Teilhabe an Verwirklichungschancen im Leben als den zentralen Aspekt gesellschaftlicher Gerechtigkeit an. Gerechtigkeit bedeutet für uns, spezielle Handicaps durch unterstützendes Eingreifen auszugleichen, zumindest aber so weit wie möglich abzumildern. Den Menschen soll nach Maßgabe ihrer individuellen Leistungsfähigkeit ermöglicht werden, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten.In Fällen, bei denen dieses Ziel nicht erreichbar ist, soll karitativen Leitlinien folgend die Sicherung der Existenz durch Unterstützungsleistungen gewährleistet werden. Sie können aus dem eine prinzipielle Offenheit den Anliegen der UN-Behindertenrechtskonvention“ ableiten.
Bei der hessischen AfD heißt es: „Eine neue Sparmaßnahme gefährdet die Zukunft des Landeswohlfahrtsverbandes und damit die qualifizierte und flächendeckende Betreuung behinderter und kranker Menschen…“ Beachtenswert auch diese Rede aus Sachsen-Anhalt: „Die AfD-Fraktion unterstützt das Bundesteilhabegesetz. Es verbessert die Lebenssituation von behinderten Menschen. Leistungen werden besser koordiniert und die Teilhabe am Arbeitsleben gefördert.“ Was die Bundesebene produziert, bleibt kritisch abzuwarten.
Susanne Baumstark ist freie Redakteurin und Diplom-Sozialpädagogin. Ihren Blog finden Sie hier.