Gerd Buurmann / 31.08.2024 / 10:00 / Foto: Imago / 67 / Seite ausdrucken

Artikeltyp:Meinung

Ines, Stefan und Florian

Der Mord an drei Menschen bei dem Terroranschlag in Solingen liegt eine Woche zurück, und wir wissen so gut wie nichts über die Opfer. Wer waren diese Menschen? Was waren ihre Träume und Hoffnungen? Wer trauert um sie? Die Opfer bleiben anonym. Warum?

Am 25. August 2017 war ich auf dem Berliner Breitscheidplatz, acht Monate nachdem dort am 19. Dezember 2016 ein islamistischer Attentäter elf Menschen ermordet hatte. Zuvor hatte er einen Speditionsfahrer erschossen. Vor der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche befand sich eine provisorische Gedenkstätte in Erinnerung an die Ermordeten. Damals war an dieser provisorischen Gedenkstätte auch ein Hinweis auf den Terroranschlag in Barcelona vom 17. August 2017 zu sehen, bei dem siebzehn Menschen ermordet worden waren. 

Als ich die Liste der Opfer von Barcelona sah, fiel mir sofort der große Unterschied zur Liste der Berliner Opfer auf. Die Opfer von Barcelona hatten Namen und Gesichter. Alle deutschen Opfer blieben gesichtslos, und von nur einem deutschen Opfer wurde wenigstens der Name genannt. Auch unter den Opfern des Anschlags auf dem Breitscheidplatz waren Menschen, die keine Deutschen waren. Ihre Namen wurden genannt, und es wurden auch Bilder von ihnen gezeigt.

Über die deutschen Opfer des 19. Dezember 2016 erfuhr man jedoch damals auf dem Breitscheidplatz nichts. Sie blieben Menschen ohne Gesicht, lediglich Teil einer kalten, bürokratischen Zahl: Acht! Acht gesichtslose Opfer ohne Geschichte. Monatelang wusste man nichts über ihre Angehörigen. Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte sie nicht einmal kontaktiert. Ihre angebliche Trauer über das Schicksal der Opfer war so anonym wie die Opfer selbst. Knapp ein Jahr nach dem Anschlag auf den Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz in Berlin meldeten sich die Angehörigen der Opfer in einem offenen Brief zu Wort.

Vom Staat allein gelassen

„Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin, am 19. Dezember 2016 erschoss ein islamistischer Terrorist in Berlin einen polnischen LKW-Fahrer, raubte das Fahrzeug und steuerte es in den Berliner Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz. Er ermordete dabei weitere elf Menschen aus Israel, Italien, Tschechien, der Ukraine und Deutschland. Mehr als 70 Personen wurden – teilweise sehr schwer – verletzt.

Wir, die Verfasser dieses Briefes, sind Familienangehörige aller zwölf Todesopfer. Einige von uns gehören auch selbst zu den Verletzten und Nothelfern am Breitscheidplatz. Wir haben uns nach dem Anschlag in einer Gruppe zusammengeschlossen und stehen miteinander in Kontakt. Wir teilen unsere Trauer, versuchen uns gegenseitig so gut es geht zu unterstützen und informieren uns über Entwicklungen in der Politik und den Medien.“

In dem Brief erklärten die Opferfamilien, dass sie sich nach dem Anschlag vom Staat alleingelassen fühlten. Besonders Angela Merkel warfen sie vor, dass sie selbst ein Jahr nach dem Anschlag weder persönlich noch schriftlich kondoliert habe.

In allen anderen Ländern ist es normal, dass nach einem Anschlag die Namen und Gesichter der Opfer veröffentlicht werden, um menschliche Anteilnahme zu ermöglichen. Nur in Deutschland werden die Opfer ihrer Menschlichkeit beraubt und zur Anonymität verurteilt, und das geschieht nicht ohne Grund. Bei anonymen Opfern lassen sich Floskeln leichter absondern. Genau das tun deutsche Politiker, wenn sie nach einem Anschlag Dinge sagen wie: „Wir lassen uns unsere Art zu leben nicht nehmen“, oder: „Gerade jetzt müssen wir zusammenstehen!“

Wer ist dieses „Wir“? Die Opfer vom 19. Dezember 2016 in Berlin und die Opfer vom 23. August in Solingen sind es nicht. Sie wurden barbarisch aus diesem „Wir“ herausgerissen. Ihnen wurde nicht nur ihre Art zu leben genommen, sondern ihr ganzes Leben. Sie stehen nicht mehr, schon gar nicht zusammen. Sie sind tot, ermordet, vernichtet.

Drei Menschen gibt es nicht mehr

Ines W. war eine engagierte Apothekerin, Mutter und leidenschaftliche Kanufahrerin, die ihr Leben der Gemeinschaft und der Integration widmete. Ihr Herz schlug für den Ohligser Turnverein und das Cobra-Kulturzentrum, wo sie sich unermüdlich für Minderheiten und Vielfalt einsetzte. Ihre Leidenschaft für das „Festival für Vielfalt“ war Ausdruck ihres tiefen Engagements für ein harmonisches Zusammenleben.

Stefan S., der über drei Jahrzehnte in den Kalkwerken Oetelshofen tätig war, war ein geschätzter Kollege und Freund. Er war bekannt für seine Liebe zu Straßenbahnen und Frachtschiffen sowie seine Leidenschaft für Billard. Seine Kollegen beschreiben ihn als liberalen und gebildeten Menschen, dessen Werte Offenheit und Toleranz waren.

Florian H. war ein herzlicher und rockiger Musikliebhaber, der in Düsseldorf lebte und für seine Arbeit nach Solingen kam. Er war ein leidenschaftlicher Gitarrenspieler mit einem markanten Stil, der das „Festival der Vielfalt“ spontan besuchte.

Das sind die drei Menschen, die in Solingen ermordet wurden.

Jeder Politiker, der nach einem mörderischen Anschlag gebetsmühlenartig sagt: „Wir lassen uns unsere Art zu leben nicht nehmen“, schließt damit die Opfer des Anschlags aus, denn ihnen wurde die Art zu leben genommen. Auch den Freunden und Familien wurde die Möglichkeit genommen, mit ihren geliebten Menschen zu leben. Ihnen wurden ganze Welten entrissen, Menschen, die leben und lieben wollten, Menschen mit einem Gesicht.

In die Gesichter der Opfer schauen

Ein Politiker, der sich weigert, den Opfern ins Gesicht zu sehen, will nicht über die eigene Verantwortung nachdenken. Die Menschen, die in Solingen ermordet wurden, lebten in einem politischen und gesellschaftlichen Kontext, in dem sie Opfer wurden. Sie wurden ermordet, weil der Täter nicht aufgehalten wurde, weil er unter uns lebte und geduldet wurde. Der Mord hätte verhindert werden können.

Auch der Mord auf dem Breitscheidplatz in Berlin hätte verhindert werden können. In ihrem offenen Brief erklärten die Opferfamilien, dass der Anschlag am Breitscheidplatz vermeidbar gewesen wäre und kritisierten besonders das Versagen der deutschen Behörden im Umgang mit dem Attentäter. Es habe ein „Kompetenzchaos“ zwischen verschiedenen Landeskriminalämtern gegeben, wodurch Chancen zur Abschiebung des Terroristen verpasst wurden. Trotz bekannter Bedrohung durch Islamisten sei es versäumt worden, notwendige Reformen der Sicherheitsstrukturen in Deutschland durchzuführen.

Auch in Solingen deutet sich an, dass eklatante Fehler bei den Behörden und in der Politik dazu geführt haben, dass dieser Anschlag stattfinden konnte. Wer eine solche Schuld auf sich geladen hat, kann natürlich nicht in die Gesichter der Opfer schauen und erträgt ihre Namen nicht, denn dann müsste er ja in seine eigene Verantwortung und in seine eigene Mitschuld blicken. Das ist der Grund, warum die Opfer in Deutschland anonym bleiben.

 

Gerd Buurmann. Als Theatermensch spielt, schreibt und inszeniert Gerd Buurmann in diversen freien Theatern von Köln bis Berlin. Er ist Schauspieler, Stand-Up Comedian und Kabarettist.  Im Jahr 2007 erfand er die mittlerweile europaweit erfolgreiche Bühnenshow „Kunst gegen Bares“. Mit seinen Vorträgen über Heinrich Heine, Hedwig Dohm und den von ihm entwickelten Begriffen des „Nathan-Komplex“ und des „Loreley-Komplex“ ist er in ganz Deutschland unterwegs. Seit April 2022 moderiert er den Podcast „Indubio“ der Achse des Guten. Sein Lebensmotto hat er von Kermit, dem Frosch: „Nimm, was Du hast und flieg damit!“

Foto: Imago

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Leserpost

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Sigrid Leonhard / 31.08.2024

@Christina, “Absichtlich falsch dargestellte Kolonialgeschichte, Hetzjagden, die nie stattfanden, Vergewaltigte, Tot getretene, Erstochene , die angeblich selbst schuld sind, weil sie provoziert hätten, gesichtslose Opfer - zeigen mir, dass Deutsche in Deutschland für unsere Politiker “lebensunwertes Leben” sind. “.... “Dieser Tage muss ich oft an unsere jüdischen Opfer denken, an das, was wir ihnen angetan haben…” Ich denke dieser Tage an die Indianer (ist die Bezeichnung erlaubt? Bibbber?), die ihre zukünftigen Besatzer sehr gastfreundlich empfingen - anfangs.

Sigrid Leonhard / 31.08.2024

“Das ist der Grund, warum die Opfer in Deutschland anonym bleiben.” Nö, nicht alle Opfer in Deutschland bleiben anonym. Recherchieren Sie einmal.                    Z.B. in Wikipedia werden die Opfer des Anschlags in Hanau 2020 akribisch mit Namen und kurzem Lebenslauf aufgeführt: “Beim Anschlag in Hanau am 19. Februar 2020 erschoss der 43-jährige Tobias Rathjen (R.) neun Menschen mit Migrationshintergrund, danach seine Mutter und sich selbst. Das Bundeskriminalamt (BKA) stufte die Morde des von paranoiden Wahnvorstellungen geprägten Täters als rechtsextrem und rassistisch motiviert ein…...”                Nur als Beispiel.

Sigrid Leonhard / 31.08.2024

Warum wohl? Die Namen der Mordopfer Ines, Stefan und Florian passen nicht zum Narrativ “Wer ist Opfer und wer ist das schon von vorne herein auf keinen Fall” des politisch/medialen Komplexes. Ganz einfach.

M. Buchholz / 31.08.2024

Danke für den Artikel, auch mir ist dieses Phänomen der Berichterstatung nicht aufgefallen. Aber genau so ist es. Mich wundert es aber auch nicht, dass der Großteil der Medienlandschaft das dreckige Spiel noch mitspielt.

Brian Ostroga / 31.08.2024

Ich denke das Verschweigen der Opfernamen hat durchaus politische Motive, dadurch wird die Instrumentalisierung des Vergessens leichter. Opfer ohne Namen sind am Ende nur eine aufsummierte Zahl, der man entwaffnend ein Opfer mit Namen entgegenstellt. Gibt man Opfern Namen, dann gibt man den Lesern/Zuhörern auch Erinnerungen an sie, um ihrer zu gedenken. An einem Beispiel: Es wurde zur Europawahl die Gewalt gegen Politiker kritisiert. Mit Namen genannt wurde Herr Ecke und später gesellte sich Frau Giffey namentlich dazu. Zwischen beiden Angriffen wurden 2 AfD-Stadträte in BW, ein AfD Politiker in Nordholm, einer in Dresden und ein weiterer ebenfalls in Sachsen beim einkaufen angegriffen. Regional erhielten die AfD-Politiker Namen, überregional waren es nur “Ecke, Giffey und AfD-Politiker”. Es geht hier nun um Terror, das Prinzip ist aber auch hier anzutreffen. Wenn vom Anschlag in Mannheim die Rede ist, dann wird das eigentliche Ziel des Anschlags, der Islamkritiker Stürzenberger, fast nie erwähnt und der getötete Polizist Rouven L. zumindest hin und wieder mit Namen. Ein jeder kann mal den Selbsttest machen. Da es um Gedenken geht schränke ich bei folgender Frage den Zeitraum ein. Welches Extremismusopfer, vor dem Jahr 2024, fällt einen spontan ein? Man wird feststellen, es wird in der Regel ein Opfer von Rechtsextremen sein.

Rainer Hanisch / 31.08.2024

Der wandelnde Hosenanzug hatte 2015 gesagt: “Egal ob ich schuld bin, nun sind sie halt da.” Das ganze Ding geht der “mächtigsten Frau der Welt” doch glatt am Arsch vorbei! Und das ist die Einstellung fast aller Politikdarsteller. Außer emotionsloses Geschwurbel kommt nie etwas anderes.

Klaus Peter / 31.08.2024

Aber wehe, vor einer Moscheetür geht wieder ein Polen-Böller hoch….

Max Hertz / 31.08.2024

Ich frage mich, was hätten die drei ermordeten Menschen anders gemacht, wenn man Ihnen diesen Mord und den Mörder vorausgesagt hätte ? Und was hätten Sie gesagt, wenn Sie gewusst hätten, dass ihre Namen aus politischen Gründen nicht genannt werden ? Und wenn sie gehört hätten, mit welchen gebetsmühlenartiken Floskeln die verantwortlichen Politiker die Opfer bedauert haben….ich weiss es alles nicht. Es gibt Menschen, die einfach unbelehrbar sind. Ich denke aber, dass die drei aus dem Leben gerissenen Menschen sich für eine andere Gesellschaft eingesetzt hätten. Sie und ihre Angehörigen tun mir zutiefst leid und haben mein aufrichtiges Mitgefühl.

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