Die Zähne putze ich mir auch, sogar morgens und abends, ehrlich. Aber Anzüge? Es ist natürlich verführerisch, wenn man sich keine Gedanken um seine Kleidung machen muß, sondern immer in dieselbe Uniform schlüpft. Man schlägt zwei Fliegen mit einer Klappe: Man braucht nicht zu überlegen, was man anzieht, und kommt doch irgendwie als höherwertiger Ästhet rüber, selbst wenn man Banause ist. Mir kommen die Anzugträger oft vor, wie Kleiderständer. Besonders, wenn sie noch eine Weste tragen, wirken sie leicht wie Flummies, gekörperpanzert, wie Klaus Theweleit wohl sagen würde. Also, gut sitzen sollte er schon. Auch die Leute im T-Shirt sind nicht blöd und erfassen schnell. Der Anzug ist bürgerlich. Er sollte der Protzerei des Adels die bürgerliche Meritokratie entgegenstellen, war ein Nivellierungsmerkmal in dem Sinne von „Wir geben mit unserem gesellschaftlichen Rang nicht an, sondern heißen jeden willkommen, der was schafft und was drauf hat.“ Gegenüber dem Blaumann wiederum unterschied er die Entscheider von den bloß Ausführenden, diejenigen, die die Welt leiten von den Zurückgebliebenen. Heute wird er gerne von denen getragen, die noch zwischen Du und Sie unterscheiden möchten… und von den smarten masters of the universe, den Clickaffen der Finanzwirtschaft. Wenn es um Rücksichtnahme geht, nämlich dem Gegenüber nicht seine private Vulgarität aufzudrängen, ist der Anzug eine gute, unkomplizierte Wahl. In’s Gras, auf einen Baumstamm oder nur auf eine Treppenstufe kann man sich damit aber nicht setzen, er schränkt das Wohlbefinden also erheblich ein. Trifft man unvorhergesehen eine Schönheit in freier Wildbahn, ist man arg gehandicapt (nicht sitzen, nicht liegen, nur laufen). Wenn dann noch ein cooler, vielversprechender Freak da ist, dem alles easy ist, der die schönsten Plätze in Besitz nimmt, auch ohne Parkbank, hilft nur noch ein Kopfsprung in den Ententeich, ein Potlatsch sozusagen, im Sinne von: Ich habe noch viel mehr davon (von den Anzügen).
Ach ja, die Mode. Was für ein Glück, dass mein Karl das nicht mehr erleben muss. Ich z. B. nähe zur Zeit weite lange Hosen ( die Mode wird lang, da haben Sie vollkommen Recht, Herr Müller- Ullrich, und mit dünnen Stoffen), die schmeichelnd um die Fußgelenke flattern. Ich habe die Hoffnung nicht aufgegeben, diese mit meinen United Nude Schuhen zu tragen. Es macht mir Freude, mich ab und zu zu verwandeln. Ich habe viele Kleidungsstücke und sogar Taschen genäht. Alles aus sehr gutem Material. Ja, auch von Jil Sander bekommt man Stoffe, die trotz bester Qualität sich im preislichen Rahmen befinden. Man trägt sie auch länger, weil sie nicht unbedingt der Mode unterworfen sind. Der junge Mann, mit Namen Air Türkis (wunderbarer Name, erinnert mich an meinen Stein Aquamarin) hat absolut Recht. Rituale sind lebensnotwendig, auch für Mode. Ich mag es überhaupt nicht, wenn Leute mit Jeans in die Oper gehen. Eine Oper ist doch etwas besonderes. Das sollte man auch äußerlich zeigen, Ritual eben. Und aus einer Harris Tweed Jacke (aus dem Second Hand) kann man eine absolut tolle Dammenjacke machen. Wer den Lebensweg von Coco kennt, weiss wie es geht. Übrigens, ein Lacher zum Schluss, meine kunterbunten “Nasenschützer” sind fertig genäht. Wenn schon, denn schon. Bleiben Sie alle gesund!
Es gibt einen schönen Witz: “Diebe räumten eine ganze Primeark-Filiale aus - es entstand ein Schaden von 100 Euro.” Wenn weniger Wegwerf-Textilien produziert werden und sich vielleicht sogar das eine oder andere Label überlegt, zukünftig nicht mehr in Fernost, sonden wieder in der Heimat zu fertigen, war der Schaden vielleicht für etwas gut. Möglicherwesei erlernen die Leute sogar wieder das Strümpfestopfen. Und ganz vielleicht kommt dann auch die völlig durchgeknallte Preispolitik zwischen kik-Ramsch und Mondpreisen für Marken-Sneaker etc. wieder in die Waage. Aber unter Umständen stirbt auch nur der lokale Einzelhandel zugunsten von scheiß Zalando und Amazon…
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