Alexander Wendt / 21.05.2019 / 12:02 / Foto: Bildarchiv Pieterman / 31 / Seite ausdrucken

In Wien fliegen, in Berlin sitzen bleiben

Von dem Autor Frank Goosen stammt der Roman „Liegen lernen“, einer der vielen Romane über die achtziger Jahre in Westdeutschland, also die Zeit, in der praktisch nichts los war. Ein angemessener Roman über das spätmerkelistische Berlin sollte am besten „Sitzen bleiben“ heißen.

Wobei ihn weder Jana Hensel noch Julie Zeh oder eine andere verfassen wird, denn Zeitromane entstehen immer erst Jahre später. Und wie das Magazin von der Erregungsspitze eins in Hamburg uns mit einem schlecht ausgeleuchteten Foto Spätmerkels und der Zeile „Nach ihr die Finsternis“ lehrt, steht sowieso eine finstere, schriftlose Zeit bevor. Vielleicht aber auch nur der Blackout, der schneller kommen kann, als ein Umweltstaatssekretär braucht, um den Satz „wir brauchen keine Grundlast“ auszusprechen.

Jochen Flasbarth auf Twitter:

„Wie in einem früheren Tweet ausgeführt, wird es Grundlast „Im klassischen Sinne“ nicht mehr geben. Grundlast war im alten fossil-atomaren Energiesystem eine nahezu unveränderbare Größe. Im digital-erneuerbaren, wird es „residuale Grundlast“ geben, mit erheblichen Flexibilitäten“

Zappenfinster wird es jedenfalls, wenn die Sonnenkanzlerin weichen muss, und für das, was dann folgt, brauchen wir keinen Berlinroman mehr. Dann genügt es völlig, eine Kerze aus dem Wachs ausgestorbener Bienen anzuzünden, den „Herr der Ringe“ aus dem Regal zu nehmen und sich bei der Lektüre ergänzend vorzustellen, wie Robert Habeck über Mordor herrscht und ab und zu seinen Außenminister Gollum antanzen lässt.

Ösis lernen das jetzt. Ossis wissen es von früher

Wenn, dann müsste „Sitzen bleiben“ jetzt und ganz schnell geschrieben werden. Denn mit dem Rücktritt des sogenannten Vizekanzlers Strache in Österreich fällt gleichzeitig auch auf, wer alles nicht zurücktritt, sondern bleibt, auch und gerade diesseits der Ostmark.

Aber zunächst zu Strache: Das Video mit ihm auf Ibiza enthüllt nichts, was nicht schon jeder über die Intelligenz dieses Politikers wusste oder wissen konnte. Selbstredend ist es perfide, einen Politiker beim Gespräch mit einem Lockvogel so lange zu filmen, bis ihm die Zunge endgültig erlahmt und er noch nicht einmal unfallfrei Strabag sagen kann, von den sechs Stunden sechs Minuten zusammenzuschneiden, das Ganze ungefähr zwei Jahre lang aufzuheben und vor den Europawahlen zu platzieren.

Es mag gemein sein, aber dieser Vizekanzler a. D. war eben auch „eine Gemeinheit“ (Thomas Bernhard). Ganz nebenbei zeigt der Film auch, dass Strache das alte Österreich mit seinem Hinterzimmerpackeln und dem Verteilen von Staatsaufträgen eben doch besser repräsentiert als Sebastian Kurz. In Straches Partei wird jetzt darüber geklagt; beziehungsweise, wie schon Karl Kraus wusste: „Wer außer den Politikern, die sie begehen, beklagt die Dummheiten in der Politik?“ Denn, abermals Kraus: „In zweifelhaften Fällen entscheide man sich für das Richtige.“ Auch dann, wenn heimlich eine Kamera zuschaut. Womit jeder jederzeit rechnen sollte. Ösis lernen das jetzt. Ossis wissen es von früher.

Jan Böhmermann sollte die interessierte Öffentlichkeit übrigens weniger auf der Seite derjenigen suchen, denen das Video angeboten wurde, sondern im Kreis der Organisationshelfer.

Giffey blieb einfach in ihrem Ministerium sitzen 

Und nun zurück nach Berlin, der Stadt, in der sich kaum noch einer des letzten Rücktritts entsinnen kann. Wann fand der eigentlich statt? Schavan 2013? Mit ihren 238 Plagiatsstellen bewegt sich die Doktorarbeit von Familienministerin Franziska Giffey mindestens auf Guttenberg-Niveau und lässt Schavan weit unter sich, wobei sich Giffey von den anderen beiden noch dadurch unterscheidet, dass sie in ihrer Dissertation mehr oder weniger ihre eigene politische Tätigkeit beschrieb, also einen Gegenstand, der mangels Distanz für sie grundsätzlich nicht als Promotionsthema hätte infrage kommen dürfen. Laut Untersuchung durch die Plagiats-Aufspürplattform Vroniplag finden sich auf 76 von 205 Seiten der Promotion Giffeys Plagiate unterschiedlichen Umfangs. Bisher blieb Giffey einfach in ihrem Ministerium sitzen. Günstigerweise gibt es im Fall der SPD-Politikerin kaum Medien, die bei Tag und Finsternis nachfragen, warum sie noch im Amt ist.

Möglicherweise will sie einfach das Feld nicht vor Ursula von der Leyen räumen, die vor Kurzem „die Verantwortung“ für die teils manipulierten Berichte, teils die weitergeleiteten Gelder für die Sanierung der Gorch Fock übernommen hatte. Zur Erinnerung, es geht um die Kostenexplosion für die Sanierung eines 90 Meter langen Segelschiffs von 10 auf etwa 135 Millionen Euro. Das überschreitet noch die Budgetsteigerung für vier neue Fregatten um gut eine Milliarde Euro; im Fall der Gorch Fock nahm das Bundeswehrgeld von der Werft aus zudem teilweise seltsame Wege, in von der Leyens Ministerium wurden Akten zu dem Fall systematisch frisiert. Kürzlich sagte von der Leyen, sie übernehme die Verantwortung. Was sie damit meinte, blieb unklar. Die Verantwortung trägt sie als Ministerin ja sowieso. Früher folgte ministeriellen Worten, man übernehme die Verantwortung, meist noch der Hinweis auf die Familie, Dank für die großartige Zeit und bei Bundesverteidigungsministern schließlich der Zapfenstreich. Bei von der Leyen folgt Sitzenbleiben.

Schließlich und endlich weilte Angela Merkel in der vergangenen Woche in Wuppertal, noch nicht, um dort eine Damenboutique zu eröffnen, sondern einen sogenannten Dialog mit ausgewählten Bürgern zu führen. Auf die Frage, was sie von Schülerabwesenheit für das Klima halte, antwortete sie dort: „Die Schulpflicht ist eins, aber es gibt auch noch andere Erwägungsgründe.“ Für eine Kanzlerin, die ihren Amtseid unter anderem darauf abgelegt hat, die Gesetze zu wahren, ist diese Äußerung beachtlich. Wobei sie hier sagen könnte und auch wird, dass sie ihr Amtseid nur dazu verpflichtet, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes zu wahren, die Schulgesetze aber Ländersache seien, ätsch. Von der Veranstaltung soll sogar ein Video existieren.

Das Parlament wird mit wichtigen Fragen nicht mehr befasst

Es ist derzeit nicht ganz klar, ob Straches Ibizaparty einen materiellen Schaden angerichtet hat, außer natürlich für ihn selbst. Aber wenn, dann dürfte er kaum die Höhe überschreiten, die durch die Abschaltung von sieben Atomkraftwerken noch vor dem Atomausstiegsgesetz 2011 auf Merkels Wink verursacht wurde, denn ein Gericht sah den Schritt später als rechtswidrig an und sprach den praktisch enteigneten Energieversorgern etliche Millionen Euro Schadensersatz zu.

Für Merkels Entscheidung 2015, das „Asylrecht in ein Asylantragsrecht“ zu verwandeln (so der frühere Bundesverfassungsgerichtspräsident Hans-Jürgen Papier), soll hier gar keine den Rahmen sprengende Kostenrechnung angestellt, sondern nur die Petitesse angefügt werden, dass sie eine derart gravierende Rechtsänderung zwingend dem Bundestag hätte vorlegen müssen. Indem sie das nicht tat, verstieß sie gegen Artikel 20 (2) Grundgesetz, die Staatsfundamentalnorm („Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat. (2) Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt“). Denn die Legitimation der gesetzgebenden Gewalt durch das Wahlvolk läuft ins Leere, wenn das Parlament mit entscheidenden Fragen gar nicht mehr befasst wird. Dass keine der damals im Bundestag vertretenen Parteien gegen diese faktische Entmachtung klagte, macht die Sache nicht besser.

Dem Vernehmen nach beabsichtigt Merkel, bis 2021 sitzen zu bleiben, um die Finsternis noch hinauszuzögern oder noch schnell den Grundlastausstieg durchzuziehen, wer weiß. Erst dann kommt die Boutique in Wuppertal respektive der Besuchsreigen ihres großen Freundeskreises aus der Weltpolitik, aus dem einer nach dem anderen in die Uckermark reisen wird.

Und jetzt zurück zu Karl Kraus: „Wird in Österreich ein Verfassungsbruch begangen, dann gähnt die Bevölkerung.“

Dieser Beitrag erschien zuerst auf Publico.

 

Foto: Bildarchiv Pieterman

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Sabine Lotus / 21.05.2019

Zurücktreten?  (¬_¬)  *Pause* Haha, hahaha…der war gut. Neiiiin, wir schauen schön staunend weiter zu, wie sich die Hyänen weiter die Gelder abzwacken. Vielleicht sollten wir es ihnen sogar gönnen, denn in dem Dreckloch, in das die sich verkriechen, wenn das Pottemkinsche Dörfchen hier zusammenkracht, werden die viel Geld für ihre Security brauchen. Sehr sehr viel Geld. (Was auch immer das noch wert sein wird, wenn es soweit ist)

Günter Wagner / 21.05.2019

Wieder ein sehr guter Wendt Artikel. Darf ich einen Grund anfügen warum sie noch sitzen, die Giffey und die v.d. Leyen, die stellvertretende Vorsitzende des ‘Arbeitskreis Pferd im Deutschen Bundestag’ (Vorsitzende:Nahles)? Ich mache es trotzdem: weil sie Frauen sind.  Da bleibt man sitzen während die Herren aufstehen. Ja es musste ja kommen:  Sexismus, Sexismus - aber mein Einwand beruht auf Beobachtung im Gegensatz zu schwer sexistischen Versuchen, man denke nur an die ein oder andere Edeka-Werbung. P.S. Man stelle sich vor, der Seehofer z.B. hätte einen ‘Arbeitskreis Modelleisenbahn im Deutschen Bundestag’ gegründet.  Umfang und Höhenflüge der Häme darüber hätten unvorstellbaren Umfang angenommen! Er hätte deswegen zurücktreten müssen!

Claudius Pappe / 21.05.2019

Gerade gelesen. Unsere Sonnenkönigin weiht heute in ihrem Wahlkreis in dem 300 Seelen Ort Ummanz das schnellste Glasfasernetz Deutschlands ein. Die 1 Million Euro Kosten tragen zu 100 % Bund und Land. Ist das nicht auch ein Grund zurückzutreten Frau Merkel ? Vetternwirtschaft ? Wahlstimmenkauf ? Zum Wohle meines Wahlkreises.

Dr. Andreas Kleemann / 21.05.2019

Denk ich an Merkel und ihre Satrapen dieser Tage, kommt bei mir die Erinnerung an die Szene auf, als seinerzeit Ceaucescu in Rumänien ganz volksnah selbst dann noch vom Balkon seines Amtssitzes winkte, als eine große Volksmenge bereits lautstark seinen Rücktritt forderte. Der Unterschied: Der Rumäne war ein Diktator, Frau Merkel …. natürlich nicht. Sie spricht außerdem lieber mit “ausgewählten Bürgern”. Das hat Stil. Sitzen bleiben? Ach was! Das ist nur eine Art Angststarre. Meine Vermutung stattdessen: Ab Montag beginnt auch hierzulande das große Kegeln.

Markus Mertens / 21.05.2019

Das Wort “Grundlast” wird noch große Bekanntheit erlangen.  Nämlich dann, wenn die Stromkunden -gegen Aufpreis- bei ihrem Tarif die Option erhalten,  ihren Bedarf mit “grundlastfähigem Strom” zu decken.  Um dann bei intelligent gewordenem Stromnetz von ebenso intelligenten   “Lastabwürfen” verschont zu bleiben.

Detlef Fiedler / 21.05.2019

Hallo Herr Wendt. Frühere deutsche Kanzler sahen sich noch genötigt per Ermächtingsgesetz die gesetzgeberische Gewalt an sich zu ziehen, bevor sie wider der Verfassung und über die Köpfe der Volksvertreter hinweg handelten. Das braucht man heute doch garnicht mehr um Rechtsänderungen herbeizuführen. Jedenfalls dann nicht, wenn man Agitation und Propaganda von der Pike auf gelernt und zu DDR-Zeiten als Theologentochter studieren durfte. Und hier wird, wie bei den von Ihnen sonst noch beschriebenen weiteren Protagonisten auch, die am Ende richtig dicke Suppe von anderen auszulöffeln sein. Nämlich von denen welche eigentlich, gemäss Amtseid, vor Schaden bewahrt werden sollten. Ein Film über derartige Politiker könnte den Titel tragen “Das Geld der anderen”. Je nach Präferenz aber auch “Die Grundlast der anderen”.

Stephan Bujnoch / 21.05.2019

“Residuale Grundlast” ist ein Oximoron und Herr Flassbarth maximal teilintelligent. Dies ist wieder ein Versuch technischen “Framings”, um Flatterstrom zur Grundlast zu erklären. Residual heißt übrig bleibend i.S. die gibts auch noch. Es ist genau das technische Mißverständnis des EEG, daß die zeitlich und mengenmäßig unzuverlässigen Energiequellen Windkraft und Fotovoltaik zur Grundlast hochstilisiert prioritär einspeisen dürfen. Auch Glaubensbekenntnisse kommen an der Physik nicht vorbei. Wo die Sonne der Wissenschaft tief steht, werfen auch Physikwichtel lange Schatten, leider.

B. Ollo / 21.05.2019

Inhaltlich kann man dem Artikel wenig hinzufügen. Aber die Liste der Sesselkleber und Goldbacken auf Staatskosten ließe sich noch beachtlich erweitern.

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