Gunter Weißgerber / 03.02.2025 / 06:25 / Foto: Imago / 137 / Seite ausdrucken

„In den letzten Tagen bewiesen Sie Mumm“

Gunter Weißgerber, langjähriger SPD-Parlamentarier im Bundestag, schrieb einen offenen Brief an den CDU-Bundeskanzler-Kandidaten Friedrich Merz, in dem er auf die Abstimmung vom vergangenen Freitag Bezug nimmt. Wir dokumentieren sein Schreiben:

Friedrich Merz MdB

Die CDU und die Bundestagswahl am 23. Februar 2025

Sehr geehrter Kollege Merz,

in den letzten Tagen bewiesen Sie Mumm, Konsequenz, eingängige Eloquenz. Dazu möchte ich Ihnen gratulieren. Seien Sie sicher, zwei Drittel der Bevölkerung atmeten auf. Schöpften sogar Hoffnung. 

Als Sozialdemokrat, seit 2019 wieder ohne Parteibuch wie vor 1989, der sich immer gegen das Salonfähigmachen von Linksaußen, auch zum Schutz vor einem daraus folgenden Aufschwung von Rechtsaußen, verwahrte, sage ich ihnen mit dem Selbstbewusstsein eines Demokraten, das Parlament ist der Ort der Diskussion, der Entscheidungsfindung, der Abstimmung. 

Nie spielte für meine frühere Partei in den Zeiten meiner Bundestagszugehörigkeit eine Rolle, wer ihr im Parlament zustimmt. Jede Stimme zählte. Egal von wem. Angenehmer waren Zustimmungen aus den Reihen der demokratischen Konkurrenz. Etwaige Zustimmungen aus dem Pulk der vormaligen Diktatur- und MfS-Partei SED (SED-PDS, PDS, Linke) wurden nicht gesucht, abgewiesen wurden die nie! Der Zeitgeist nannte das Demokratie.

Bleiben Sie bitte auf diesem Weg der Mehrheitsfindung im Parlament. Scheren Sie sich nicht um die wieder aufgenommen Hass- und Hetzelustbarkeiten gegen CDU/CSU. Helmut Kohl jedenfalls stand da immer sehr erfolgreich drüber. Wohlwissend, die strukturelle Mehrheit der Bevölkerung ist konservativ, will keine Experimente, dafür Sicherheit im Inneren wie im Äußeren. 

Helmut Kohl und Franz-Josef Strauß hätten auch niemals eine Transformation ins Wirre zugelassen. Preiswerte Energie sahen die beiden Herren ebenso alternativlos für die Existenz der Bundesrepublik wie die Sicherheit im westlichen Bündnis und die tatsächliche Solidarität mit Israel. 

Was das westliche Bündnis und Israel angeht, stehen Sie nach meinem Eindruck noch immer dort, wo die Union seit 1949 immer stand. Bitte bleiben Sie dabei.

Der ökologisch-sektiererisch basierte Rückbau Deutschlands in Gesellschaft, Wirtschaft, Automobilbau, Energieversorgung, Forschung und Wissenschaft harrt dagegen noch ihrer glaubwürdigen Ablehnung. Hier müssen Sie unbedingt noch vor der Wahl liefern.

Was Meinungsfreiheit und Zensur angehen, nehmen Sie sich bitte eine Anleihe bei der neuen US-Administration. Das schreibe ich auch, weil ich annehme, dass der erste Verfassungszusatz der US-Verfassung – Stichwort Meinungsfreiheit – in Kürze eine herausragende Rolle in der Kommunikation mit der demokratischen Führungsmacht der westlichen Welt spielen wird. Wäre ich Präsident Trump, würde ich vor Verhandlungen mit der EU und Deutschland eine Vorbedingung nennen, die da hieße 

Wir verhandeln nur mit unseren westlichen Partnern, wenn die umfassende Meinungs- und Informationsfreiheit garantieren. Basta!

Sehr geehrter Kollege Merz, in meiner engeren und weiteren Umgebung bemerke ich Positionsveränderungen hinsichtlich der kommenden Bundestagswahl und speziell in der Sicht auf die Union. Vor kurzem noch unentschlossen, wen zu wählen, weil die Adressaten für das Kreuz an der richtigen Stelle verloren waren, nähert sich nach meinem Dafürhalten ein größerer Teil des Wahlbürgertums der Union wieder an. Viele Menschen überlegen, ihnen und CDU/CSU sozusagen als Vorschuss ihre Stimme zu geben. „Dem Mann müssen wir auf die Schulter klopfen!“, so höre ich das.

Falls das so geschieht, lieber Kollege Merz, dann nehmen Sie diese Wahlstimmen bitte nur als Vorschuss auf ihr Versprechen, Deutschland wieder in Ordnung bringen zu wollen. Halten Sie dieses Versprechen nicht, dann tragen Sie Mitverantwortung für eine/n AfD-Kanzler ab 2029. Die Leute haben den Kanal bis obenhin voll.

Beste Grüße und noch besseres Gelingen

Gunter Weißgerber
02.02.2025

P.S.: Ich erlaube mir, diesen Brief zu veröffentlichen.

 

Redaktioneller Hinweis: Gunter Weißgerber (Jahrgang 1955) trat am 8. Oktober 1989 in das Neue Forum ein und war am 7. November 1989 Gründungsmitglied der Leipziger SDP. Für die SDP/SPD sprach er regelmäßige als Redner der Leipziger Montagsdemonstrationen 1989/90. Er war von 1990 bis 2009 Bundestagsabgeordneter und in dieser Zeit 15 Jahre Vorsitzender der sächsischen Landesgruppe der SPD-Bundestagsfraktion (1990 bis 2005). Den Deutschen Bundestag verließ er 2009 aus freier Entscheidung. 2019 trat er aus der SPD aus. Die Gründe dafür erläutert er hier. Er sieht sich, wie schon mal bis 1989, wieder als “Sozialdemokrat ohne Parteibuch”. Weißgerber ist studierter Ingenieur für Tiefbohr-Technologie. Er ist derzeit Unternehmensberater und Publizist.

Foto: Imago

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Leserpost

netiquette:

P. Bruder / 03.02.2025

Wenn Merz Lob von einem Sozi bekommt, was sagt uns das? Merkel war bei den Grünen beliebt… Wer nochmals der CDU auf den Leim kriecht, dem ist nicht mehr zu helfen. Die Definition von Wahnsinn ist, immer das Gleiche zu tun und andere Ergebnisse zu erwarten.

Sam Lowry / 03.02.2025

Man kann nur beten, dass genug CDU-Wähler aufwachen und ein Kreuz bei der AfD machen werden. Mann darf doch mal träumen. Die pennen seit 2015… die Geimpften. Macht wohl die Birne weich, oder? Ich vergesse und verzeihe NIEMALS!!!

Michael Wendmann / 03.02.2025

Sehr guter Text.  Meine Stimme hat die Union auch. Zudem sollte man auch beachten,  dass jede Stimme für die AfD auch eine Stimme für rot-grün ist Dass niemand mit der AfD Koalition möchte, hat Sie übrigens auch selber zu verantworten, wenn selbst die Vorsitzende völligen Unsinn wie beispielsweise “Hitler war ein Kommunist” erzählt.

Sam Lowry / 03.02.2025

Frau Miosga… ääääääh, Herr Weißgerber… alles weitere wäre strafbar… Selbstzensur. JETZT!

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