Ulrike Stockmann / 22.11.2020 / 13:00 / Foto: US / 21 / Seite ausdrucken

„In China muss man funktionieren wie ein Roboter.“

Die Kasachin Sayragul Sauytbay wurde 1976 im autonomen kasachischen Bezirk Ili in Ostturkestan, im heutigen Nordwesten Chinas geboren. Dies gilt als Stammland der Kasachen und Uiguren, die zu den Turkvölkern zählen. 1949 wurde das Gebiet unter Mao Zedong der Volksrepublik China einverleibt, allerdings als Autonome Region Xinjiang. Muslimische Minderheiten wie die Uiguren und Kasachen sind im heutigen China der Verfolgung ausgesetzt.

Sayragul Sauytbay studierte Medizin, arbeitete zunächst als Ärztin in einem Krankenhaus und wurde später vom chinesischen Staat als Direktorin für mehrere Vorschulen eingesetzt. In den 2010ern wurde der Druck auf die kasachische Minderheit immer größer, 2016 wurde die Region von China endgültig zum Polizeistaat ausgebaut. Beispielsweise wurden Handys der muslimischen Bewohner eingesammelt, eine Hotline zum gegenseitigen Denunzieren eingerichtet – und Straflager erbaut, die nach außen als „Umerziehungslager“ getarnt werden. Laut Schätzungen sind heute mindestens 1 Mio. Menschen dort inhaftiert. In den Lagern herrschen grausame und unmenschliche Bedingungen: Neben Drill durch „Umerziehung“ werden die Menschen seelisch und körperlich zugrunde gerichtet, unter anderem durch Folter, Vergewaltigung, Zwangsmedikation und Zwangssterilisation.

2016 reisten daher Frau Sauytbays Mann und ihre zwei Kinder nach Kasachstan aus. Sayragul Sauytbay war dies leider nicht mehr möglich, da sie zu diesem Zeitpunkt über keinen Pass mehr verfügte. Kurz nach der Ausreise ihrer Familie wurden allen Muslime in der Region ihre Pässe abgenommen.

Im November 2017 wurde Sayragul Sauytbay in eines der Straflager beordert, allerdings als Chinesischlehrerin, sodass sie etwas besser behandelt wurde, als die übrigen Gefangenen. Nach 5 Monaten im Lager kam sie überraschend frei, erhielt allerdings die Ankündigung, nach drei Tagen wieder abgeholt zu werden, jedoch als reguläre Gefangene. Ihr wurde klar, dass dies für sie die Endstation wäre. Sie wagte daher die Flucht nach Kasachstan, die ihr mit viel Glück gelang.

Nur durch Protest keine Auslieferung

Nachdem sie dort eine kurze Zeit mit ihrem Mann und ihren Kinder verbrachte, wurde sie vom kasachischen Geheimdienst abgeholt, der sie auf Druck von China an die chinesische Regierung ausliefern wollte. Einzig ein großer Protest der kasachischen Bevölkerung und die Aufmerksamkeit internationaler Medien und Menschenrechtsorganisationen konnte dies verhindern. Da der Staat Kasachstan im Zuge der „Neuen Seidenstraße“ durch Kredite mit etwa 12 Milliarden Dollar an China verschuldet ist, fühlt sich das Land der chinesischen Regierung verpflichtet.

Sayragul Sauytbay und ihre Familie bekamen Asyl in Schweden, wo sie heute leben. Seither betätigt sich Frau Sauytbay als Menschenrechts-Aktivistin, die internationale Politiker trifft, um auf das Leid ihres Volkes aufmerksam zu machen. Zu ihren Verwandten in Ostturkestan kann sie aus Sicherheitsgründen keinen Kontakt pflegen, nur über Umwege hört sie hin und wieder von ihrer Familie dort.

Ich begegnete Sayragul Sauytbay zum Interview in Berlin. Vor der Wiedergabe des Gespräches möchte ich noch einen Absatz aus ihrem Buch zitieren, damit die Dramatik der Situation in den chinesischen Straflagern zum Ausdruck kommt. Frau Sauytbay berichtet über ihren ersten Tag im Straflager:

„Punkt sechs Uhr öffneten sich automatisch alle Türen auf beiden Fluren. Kurz blieb mir die Luft weg. Aus den offenen Zellen der Gefangenen linker Hand strömte ein bestialischer Gestank aus Schweiß, Urin und Fäkalien und verbreitete sich über die Halle hinweg im ganzen Stockwerk (...) (In einer Zelle) drängten sich (...) bis zu 20 Menschen auf 16 Quadratmetern zusammen (...) In einer Zelle verfügten die Gefangenen über einen einzigen Plastikeimer mit Deckel, der als Toilette diente. Nur alle 24 Stunden durfte einer von ihnen dieses Behältnis leeren. War der Eimer aber bereits nach fünf Stunden voll, blieb der Deckel oben darauf. Selbst wenn die Blase der Eingesperrten bis zum Platzen voll war oder die Gedärme lärmten, mussten sie durchhalten, bis der Eimer geleert war. Das führte bei einigen auf Dauer zu schlimmsten Organbeschwerden und zu einer Luft, die bei allen schwerste Übelkeit verursachte.“

Im Buch „Die Kronzeugin“ erzählt die Autorin Alexandra Cavelius die Geschichte von Sayragul Sauytbay, basierend auf zahlreichen Gesprächen.

Ulrike Stockmann: Liebe Frau Sauytbay, Sie sind zwecks einer Anhörung vor dem Bundestags-Ausschuss für Menschenrechte und Humanität nach Deutschland gekommen, um über Ihre Erfahrungen in chinesischen Straflagern auszusagen. Sind Sie mit Ihrer Anhörung zufrieden?

Sayragul Sauytbay: Ich habe mich sehr darüber gefreut, dass ich als Sachverständige vor dem Ausschuss des deutschen Bundestages an der Anhörung teilgenommen und die Möglichkeit bekommen habe, dort über das Leid meines Volkes in Ostturkestan berichten zu können. Es war leider zu kurz für mich, ich hätte gerne länger gesprochen. Trotzdem bin ich glücklich und dankbar, dass ich überhaupt die Möglichkeit hatte auszusagen, obwohl Deutschland gerade mit der Corona-Krise zu kämpfen hat.

Stockmann: Sie leben momentan in Schweden und haben auch andere westliche Länder, wie etwa die USA, bereist, wo Sie den US-Außenminister Michael R. Pompeo und Melania Trump getroffen haben, da Ihnen der „International Women of Courage Award 2020“ verliehen wurde. Haben Sie das Gefühl, dass westliche Politiker Ihr Anliegen ernst nehmen?

Sauytbay: Seitdem ich auf der Flucht bin, berichte ich unaufhörlich über das Leid meines Volkes. Schweden hat mir ermöglicht, meine Stimme nochmal stärker zu erheben.

Westliche Länder wie etwa Deutschland, Kanada, Frankreich oder die USA und deren Politiker haben mir viele Gelegenheiten gegeben, über meine Anliegen zu sprechen, beispielsweise dadurch, dass sie mich zu Veranstaltungen in ihre Parlamente eingeladen haben.

„Die Chinesen tun nur das, was ihnen die Regierung vorschreibt“

Stockmann: Welche Dinge sollte jeder im Westen lebende Mensch über China wissen?

Sauytbay: Ich denke, jeder Bürger in freien, westlichen Staaten sollte wissen, was China für ein Land ist und vor allem, was für bösartige Absichten die Regierung dieses Landes hat. Man sollte sich klar darüber werden, dass die Zukunft der Menschen in freien Ländern stark von den weltweiten Plänen Chinas betroffen ist.

In China ist freie Meinungsäußerung und eine freie Presse unmöglich, so etwas gibt es dort nicht. Die Bevölkerung Chinas liest und hört nur das, was die Partei ihnen vorgibt. Alle Medien unterstehen der kommunistischen Partei Chinas. Die Chinesen tun nur das, was ihnen die Regierung vorschreibt. Somit erfährt die chinesische Bevölkerung überhaupt nicht, was im Ausland vor sich geht. Daher erfahren Chinesen von ihrer Regierung nur Negatives über den Westen und nur Positives über China. Sie glauben, in China läuft alles gut.

China präsentiert sich gegenüber dem Westen immer von seiner strahlenden, freundlichen Seite. Aber dieses Land hat zwei Gesichter. Mit einem freundlichen Lächeln versuchen sie, im Ausland die Menschen für sich zu gewinnen. In Wahrheit präsentieren sie sich nach außen jedoch sehr falsch. Das Ausland hält sie für freundlich und ehrlich, aber in Wahrheit haben sie sehr böse Absichten.

Stockmann: Im Buch beschreiben Sie Ihre Entwicklung von der guten chinesischen Staatsbürgerin zu einer, die aufgrund ihrer leidvollen Erfahrung zu einer Regimegegnerin wird. Also Ihren Weg vom Gehorsam zum Ungehorsam. Habe ich Sie dahingehend richtig verstanden, dass in einem solchen System jeder schon verloren hat, der auch nur ein bisschen dem Regime nachgibt? Weil man auch durch Gehorsam nur verlieren kann?

Sauytbay: In China muss man funktionieren wie ein Roboter. Man darf nur das tun, was einem die kommunistische Partei erlaubt. Ein eigener Wille ist nicht erwünscht. Sie stellen sich ihre Bevölkerung wie Maschinen vor, die man per Knopfdruck bedienen kann.

Die kommunistische Partei unterzieht ihr Volk einer Gehirnwäsche, sodass es am Ende nur noch Rot sieht. Man darf die vorgegebenen Linien nicht verlassen.

„Ich darf kein Mitleid zeigen, damit ich hier lebendig rauskomme“

Stockmann: Wie haben sie es geschafft, auszubrechen und den Mut zum Widerstand zu finden?

Sauytbay: Als ich im Straflager landete und sah, unter welchen Umständen die einfachen Gefangenen dort lebten, welche hoffnungslosen und leeren Augen die Menschen dort hatten, hatte ich das Gefühl, diesen Leuten etwas zu schulden. In mir entstand der Wille, unbedingt am Leben bleiben zu wollen. Ich sagte mir: „Du musst Dir alles merken und hier lebendig rauskommen. Du musst die anderen retten und der Weltöffentlichkeit berichten, was hier geschieht.“ Deshalb dachte ich in diesem Lager, angesichts der Folter der anderen: „Ich darf nicht weinen, kein Mitleid zeigen, damit ich hier lebendig rauskommen kann.“ Wie eine Maschine.

Natürlich habe ich meinen Mann und meine Kinder sehr vermisst, die zu diesem Zeitpunkt schon in Kasachstan lebten. Für eine Mutter gibt es wohl keine größere Liebe als die Liebe zu den Kindern. Ich wollte sie unbedingt noch einmal sehen, bevor ich sterbe. Daher kam mein Überlebenswillen. Ich habe mir vorgenommen, am Leben zu bleiben und meine Kinder noch einmal zu sehen. Ich gab mir selbst ein Versprechen: „Wenn ich hier lebendig raus komme, meine Kinder wiedersehe und in einem freien Land lebe, werde ich über die Grausamkeiten der chinesischen Regierung berichten.“

Stockmann: Kann das chinesische Volk unter diesen Umständen eigentlich glücklich sein?

Sauytbay: Die chinesische Bevölkerung hält sich wahrscheinlich für glücklich, weil sie gehirngewaschen ist. Die Chinesen sind gegenüber ihrer Regierung derart gehorsam geworden, dass sie nicht anders denken können. Glück oder Unglück empfinden sie wahrscheinlich gar nicht mehr. Sie sind zu gefühllosen Robotern geworden.

Wenn man in solchen Zuständen aufgewachsen ist und nichts anderes als die kommunistische Partei, keine anderen Lebensformen kennt, hält man sich für glücklich und kann sich nicht vorstellen, dass es auch andere Möglichkeiten zu leben gibt.

Stockmann: Das Gesellschaftssystem, das Sie in Ihrem Buch beschreiben, erscheint mir wie von einem anderen Planeten. Nun leben Sie in Schweden und können dort als Außenstehende die schwedische Gesellschaft beobachten. Haben Sie den Eindruck, dass die Schweden ihre Freiheit zu schätzen wissen?

Sauytbay: Ich glaube schon. Die schwedische Regierung scheint mir die Interessen und Rechte ihres Volkes an oberster Stelle anzusetzen. Die Menschen dort gehen sehr freundlich und entspannt miteinander um. Wenn ich dort in die Gesichter der Menschen blicke, scheinen sie mir sehr glücklich zu sein und ihre Freiheit zu schätzen zu wissen. Sie lieben ihr Land und ihre Demokratie. Ich lebe sehr gerne in Schweden.

Stockmann: Als Sie nach Schweden kamen, war dies das erste westliche Land, das Sie kennenlernten. War das für Sie nicht ein Kulturschock?

Sauytbay: Nein, überhaupt nicht. Ich habe mich schon immer für andere Kulturen, auch für westliche Länder interessiert. Ich habe viel gelesen und gesungen und mich daher mit ausländischer Literatur und Musik beschäftigt. Ich bin beispielsweise ein großer Fan von Modern Talking. Ihre Musik hat mir in meiner Jugend ein Gefühl von Freiheit vermittelt. Doch heute ist Modern Talking, wie vieles andere aus dem Westen auch, in China verboten.

Stockmann: Frau Sauytbay, vielen Dank für das Gespräch!

 

„Die Kronzeugin“ von Alexandra Cavelius, 2020, Europa-Verlag: Zürich. Hier bestellbar.

Foto: US

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Volker Kleinophorst / 22.11.2020

@ U. Stockmann “In China muss man funktionieren wie ein Roboter. Man darf nur das tun, was einem die kommunistische Partei erlaubt. Ein eigener Wille ist nicht erwünscht. Sie stellen sich ihre Bevölkerung wie Maschinen vor, die man per Knopfdruck bedienen kann. Die kommunistische Partei unterzieht ihr Volk einer Gehirnwäsche, sodass es am Ende nur noch Rot sieht. Man darf die vorgegebenen Linien nicht verlassen.” Der feuchte Traum aller Kommunisten. Ähnlichkeiten zu Clownsland rein zufällig nicht zufällig. China ist die Blaupause: Kommunistische Diktatur fürs Volk, Kapitalistisches Wirtschaftssystem (ganz sozialitisch ohne Arbeitnehmerrechte)  und deren Profite für die “Obertanen”.

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