Immer mehr Macht bei Selenskyj

Mitten im Krieg vollzieht die Ukraine weitreichende personelle Änderungen in der Regierung, die immer mehr Macht in den Händen von Präsident Selenskyj konzentriert. 

Kiew hat einen politischen Paukenschlag erlebt. Am Montag und Dienstag reichten mehrere führende ukrainische Minister ihre Rücktrittsgesuche ein, darunter auch Außenminister Dmytro Kuleba. Am Mittwoch nahm die Werchowna Rada die Rücktritte von vier Ministern an, wobei der Antrag von Kuleba zunächst jedoch nicht behandelt wurde.

Die Rücktrittsgesuche betrafen unter anderem Iryna Wereschtschuk, Vizepremierministerin für die Wiedereingliederung der vorübergehend besetzten Gebiete, Olha Stefanischyna, Vizepremierministerin für europäische Integration, den Minister für strategische Industriezweige Oleksandr Kamyschin, Justizminister Denys Maljuska sowie Umweltminister Ruslan Strilets. Auch der Vorsitzende des Staatsvermögensfonds, Witalij Kowal, reichte seinen Rücktritt ein.

Am 4. September begann die Umbesetzung im Kabinett der Ukraine, doch verliefen die Rücktritte zunächst nicht wie geplant. Die Werchowna Rada weigerte sich, die Gesuche von Wereschtschuk und Kowal anzunehmen. Besonders bemerkenswert war, dass das Parlament nicht wagte, über den Rücktritt des Außenministers Dmytro Kuleba abzustimmen. 

Am Abend trafen Präsident Wolodymyr Selenskyj, Premierminister Denys Schmyhal sowie die Kandidaten für die neuen Regierungsposten mit der Fraktion „Diener des Volkes“ zusammen. Dieses Treffen scheint die zögernden Abgeordneten maßgeblich beeinflusst zu haben. Am 5. September stimmte die Rada schließlich über die Rücktritte ab, die am Vortag nicht verabschiedet worden waren.

Kurz vor dem Rücktritt ein Gespräch mit US-Außenminister Blinken

Am Mittwoch veröffentlichte der Parlamentspräsident Ruslan Stefantschuk auf seinen Social-Media-Kanälen Kulebas Rücktrittsgesuch und fügte hinzu, dass die Angelegenheit in einer der kommenden Plenarsitzungen behandelt werde. Im Gegensatz dazu stimmte die Rada der Entlassung von Stefanyschyna, Kamyschin, Strilets und Maljuska unverzüglich zu. 

Präsident Wolodymyr Selenskyj antwortete ausweichend auf die Frage, ob Kulebas Rücktritt mit einem neuen Posten einhergehen könnte. „Wir brauchen neue Energie, und diese Schritte sind Teil der Stärkung unseres Landes in verschiedenen Bereichen“, erklärte er die Umstrukturierungen in der Regierung. Er fügte hinzu, dass auch die Außenpolitik und Diplomatie nicht von diesen Veränderungen ausgenommen seien. „Es ist jedoch noch zu früh, um über die Zukunft der Minister zu sprechen“, sagte er weiter.

Trotzdem war das Interesse an dem Thema groß. Obwohl Kuleba persönlich seinen Rücktritt eingereicht hatte, erschien er weder am 4. noch am 5. September im Parlament. Dies führte zu Vorwürfen einiger oppositioneller Abgeordneter, die ihm Respektlosigkeit gegenüber dem Parlament vorwarfen und seine pro-europäische Haltung infrage stellten. Kurz vor seinem Rücktritt führte Kuleba jedoch noch ein Gespräch mit US-Außenminister Antony Blinken, der ihm für seine Zusammenarbeit dankte und ihn als Schlüsselfigur beim Aufbau der internationalen Koalition zur Unterstützung der Ukraine würdigte.

Kuleba, der als einer der Architekten der internationalen Koalition zur Unterstützung der Ukraine galt, hat sich als Vermittler zwischen Kiew und den westlichen Hauptstädten Berlin und Washington einen Namen gemacht. Dank dieser Kontakte wird spekuliert, dass er möglicherweise einen hochrangigen Posten in Brüssel, entweder bei der EU oder der NATO, übernehmen könnte. Alternativ könnte er als Botschafter in Belgien und Luxemburg eingesetzt werden. Doch hinter seinem Rücktritt könnten tieferliegende politische Gründe stehen.

Es gibt Hinweise darauf, dass innerhalb des Präsidialamtes Unzufriedenheit über Kulebas zurückhaltenden Verhandlungsstil herrschte. Dieser Kontrast zu Selenskyjs energischer und direkter Art, westliche Partner wie US-Präsident Joe Biden und den deutschen Bundeskanzler Olaf Scholz zu kritisieren, könnte eine Rolle bei der Entscheidung gespielt haben, Kuleba zu ersetzen.

Zunehmende Kontrolle der Regierung durch das Präsidialamt

Die weiteren Personalien wurden deutlich einfacher abgewickelt. Der zurückgetretene Minister für strategische Industriezweige, Oleksandr Kamyschin, kündigte auf seinem Telegram-Kanal an, vor den Ausschüssen für Wirtschaft und Verteidigung Bericht zu erstatten und dann in einer neuen Rolle im Verteidigungsbereich weiterzuarbeiten. Laut der „Ukrainska Prawda“ könnte Kamyschin zum Berater des Präsidenten werden.

Olha Stefanyschyna, die Vizepremierministerin für europäische Integration, wird nach ihrer formellen Entlassung wahrscheinlich wieder in ihr Amt zurückkehren und zusätzlich als Justizministerin fungieren.

Für den Posten des Umweltministers ist Switlana Hryntschuk vorgesehen, derzeit stellvertretende Energieministerin. Auch andere Ministerien stehen vor personellen Veränderungen, die die Kontrolle des Präsidialamts weiter festigen dürften. Oleksij Kuleba, ein enger Vertrauter des Präsidialamts, könnte das Ministerium für Infrastruktur und Regionalpolitik übernehmen.

Mykola Totschyzkyj, ein erfahrener Diplomat und ehemaliger Vertreter der Ukraine beim Europarat, soll den amtierenden Kulturminister Rostyslaw Karandejew ersetzen. Diese Ernennung steht sinnbildlich für die zunehmende Kontrolle des Präsidialamts über die Regierung, insbesondere in Schlüsselpositionen wie dem Kulturministerium.

Nach Angaben der ‚Ukrainska Prawda‘ plant die Rada außerdem, einige der kommissarischen Minister dauerhaft zu ernennen, darunter Oleksandr Porkhun als Veteranenminister und Matwej Bednyj als Minister für Jugend und Sport.
Diese Umstrukturierungen in Schlüsselpositionen verdeutlichen den zunehmenden Einfluss des Präsidialamts.

Das Präsidialamt ist die eigentliche Regierung

Der kollektive Rücktritt mehrerer Minister deutet in den meisten Ländern auf eine politische Krise hin. Doch die ukrainische Führung betont ausdrücklich, dass ihr Land eine Ausnahme darstellt. Trotz der Annahme zahlreicher Rücktritte wird versichert, dass diese Umstrukturierung keine wesentlichen Auswirkungen auf das Land haben werde. Doch wie glaubwürdig ist diese Aussage wirklich?

Richtig ist, dass Vertreter der Regierung seit mehr als einem halben Jahr von bevorstehenden Veränderungen sprechen. Mehrfach wurde sogar über eine baldige Ablösung des Premierministers spekuliert. Doch dringlichere Angelegenheiten oder der Mangel an qualifizierten Nachfolgern haben dazu geführt, dass die personellen Fragen bisher in den Hintergrund getreten sind. 

Zutreffend ist auch, dass personelle Veränderungen in der Regierung angesichts der tragischen Ereignisse des Krieges verblassen. Andererseits bieten kaum Ereignisse so sehr die Chance, das eigene politische Profil zu schärfen, wie Krisenzeiten. Ein herausragendes Beispiel dafür ist Präsident Selenskyj. Seine Entscheidung, während des russischen Angriffs in Kiew zu bleiben, verschaffte ihm mehr Anerkennung und Ansehen, als es ihm in Friedenszeiten je möglich gewesen wäre.

Schließlich wird man fragen dürfen, welche Auswirkungen ein Regierungswechsel überhaupt hat, wenn der Einfluss der Regierung auf die Lage im Land ohnehin begrenzt ist. Der Krieg hat die Ukraine faktisch zu einer Republik gemacht, in der das Präsidialamt die eigentliche Regierung ist. Selenskyjs Appell, „den Institutionen der Ukraine neue Kraft zu verleihen“, mag wohlklingend sein, doch darf er nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Präsidialamt die Macht zunehmend in seinen Händen konzentriert.

Das wusste auch Dmytro Kuleba, der seit 2020 das Amt des Außenministers bekleidete. Am Donnerstag wurde Andrij Sybiga zu seinem Nachfolger ernannt, was viele Beobachter überraschte. Kuleba galt als einer der erfolgreichsten Minister und spielte eine Schlüsselrolle bei der Bildung einer internationalen Koalition gegen die russische Aggression. Sybigas Ernennung verdeutlicht die enge Verflechtung der Außenpolitik mit dem Präsidialamt, insbesondere mit Andrij Jermak, einem der engsten Vertrauten von Präsident Selenskyj.

Systematische Besetzung wichtige Positionen mit Selenskyj-Vertrauten

Sybiga, ein erfahrener Diplomat mit einer erfolgreichen Karriere in der Außenpolitik, war von 2016 bis 2021 Botschafter der Ukraine in der Türkei. In dieser Zeit trug er maßgeblich zur Stärkung der militärischen und wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Kiew und Ankara bei, insbesondere durch den Erwerb der ‚Bayraktar‘-Drohnen, die im Ukraine-Krieg eine wichtige Rolle spielten. Seit 2021 war er als stellvertretender Leiter des Präsidialamts tätig.

Gemeinsam mit der Türkei wurden mehrere große Projekte im Bereich der Verteidigung und Luftfahrt realisiert, darunter die Modernisierung türkischer Hubschrauber und der Kauf von „Bayraktar“-Drohnen durch die Ukraine. Auch die prinzipielle Entscheidung, eine Produktionsstätte für diese Drohnen in der Ukraine zu errichten, fiel in seine Amtszeit.

In dieser Weise war Sybiga zudem eine Schlüsselfigur bei der Stärkung der Beziehungen zwischen Präsident Selenskyj und dem türkischen Staatschef Recep Tayyip Erdoğan. In den ersten Tagen des russischen Großangriffs im Februar 2022 gehörte Sybiga zu den engsten Beratern Selenskyjs und war bei den ersten Gesprächen des ukrainischen Präsidenten mit internationalen Staats- und Regierungschefs anwesend.

Sybigas Ernennung verdeutlicht nicht nur die strategische Bedeutung der Außenpolitik, sondern auch, wie Selenskyj systematisch wichtige Positionen mit Vertrauten besetzt, um die Kontrolle über Schlüsselbereiche der Regierung zu sichern. Nachdem das Verteidigungsministerium bereits fest unter seinem Einfluss steht, wird die Außenpolitik durch Sybigas enge Beziehung zum Präsidialamt nun ebenfalls zunehmend zentralisiert. Dies zeigt, wie Selenskyj die Macht im Präsidialamt konsolidiert.

Insofern lassen sich die Personalentscheidungen rund um Oleksij Resnikow, Wolodymyr Saluschnij und Dmytro Kuleba auch als strategische Schritte gegen potenzielle Konkurrenten interpretieren. Zudem kommt folgendes hinzu: Trotz Selenskyjs Verdienste um die Verteidigung der Ukraine gegen die russische Aggression steht fest, dass er aktuell ohne demokratische Legitimation regiert. Seine Amtszeit endete am 20. Mai 2024, seither stützt sich seine Präsidentschaft nicht mehr auf ein demokratisches Mandat.

Zunehmende Machtkonzentration in den Händen von Präsident Selenskyj

Aus ukrainischer Sicht gibt es zumindest eine positive Nachricht: Die drei Hauptaufgaben – Waffenlieferungen und Unterstützung, Sanktionen gegen Russland sowie die Stärkung der internationalen Diplomatie – bleiben bestehen. Allerdings erfolgt dies nun unter der noch stärkeren Kontrolle des Präsidialamts.

Somit lässt sich die eingangs gestellte Frage, ob die Umstrukturierungen in der ukrainischen Regierung als Zeichen eines Aufbruchs oder eines Niedergangs zu deuten sind, eindeutig beantworten: Sie sind weder das eine noch das andere, sondern vielmehr Ausdruck der zunehmenden Machtkonzentration in den Händen von Präsident Selenskyj.

Dass die Ukraine in Kriegszeiten die strikte Einhaltung demokratischer Prozesse zurückstellt, ist nachvollziehbar und kann nicht ernsthaft kritisiert werden. Dies gilt umso mehr, wenn man sich wie die ukrainische Regierung der Maxime verschreibt, den Krieg mit größter Entschlossenheit weiterzuführen. 

Fest steht jedoch auch, dass der Krieg eines Tages enden wird. Für die Ukraine wird es dann entscheidend sein, ob ihre Regierung bereit ist, die während des Krieges erlangte politische Macht wieder abzugeben, um die angestrebte Transformation zu einem demokratischen Staat nach westlichen Standards erfolgreich zu vollziehen.

Ob die Ukraine unter Wolodymyr Selenskyjs Führung den Weg zurück zu einer stabilen Demokratie findet oder ob er letztlich als reiner Kriegspräsident in die Geschichte eingehen wird, bleibt ungewiss.

 

Dr. Christian Osthold ist Historiker mit dem Schwerpunkt auf der Geschichte Russlands. Seine Monographie über den russisch-tschetschenischen Konflikt ist in der Cambridge University Press rezensiert worden. Seit 2015 ist Osthold vielfach in den Medien aufgetreten.

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Leserpost

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Bernd Gottschalk / 09.09.2024

...@Christiane Neidhard,...Vielen Dank für den Hinweis auf Karl Heinz Deschner…für mich neue Puzzleteile vervollständigen ein Bild…. dank der achgut Kommentare…

Franz Klar / 09.09.2024

@T. Schneegaß : “Schön zu lesen, wie die meisten Kommentatoren das hier klar zum Ausdruck bringen” . “Wir sind mehr! Wir stehen für Frieden, Solidarität, Respekt, Toleranz und Achtsamkeit.Wir sind mehr! Für Frieden und Solidarität! Gegen Hass und Hetze!” ( Quelle wir-sind-mehr com ) . Da sagen die meisten lieber nix mehr ...

Burek Götznow / 09.09.2024

” ... oder ob die UA zurück zu einer stabilen Demokratie findet ...” Man kann nur dann irgendwohin zurückfinden, wenn man dort schon einmal war. Nicht einmal die größten UA-Hardcorefans wie z.B. SZ haben vor dem Krieg behauptet, in der UA herrsche “stabile Demokratie”. Wenn es diese bis 2014 nicht gab, gab es sie danach noch weniger. Schade, in der Achse gab es früher tatsächlich Artikel mit Substanz und Fakten.

A. Ostrovsky / 09.09.2024

Wer die Diktatur mit allem unterstützt, was er hat, darf sich dann nicht wundern. Das ist eine Binse, aber so ungeheuer viele Leute begreifen es trotzdem nicht.

Steffen Huebner / 09.09.2024

Das eigentliche Problem ist doch, dass die ganzen Rohstoffe, die Black Rock, Bill Gates, Soros u.a. bereits gehören, sich unter der ukrainischen Schwarzerde befinden.

Steve Acker / 09.09.2024

Ingo Minos “Der Beitritt der Ukraine zur EU kann somit beschleunigt und demnächst abgeschlossen werden.” ich bin dafür Wird die EU zerfetzen,  auf allen Ebenen , nicht nur wirtschaftlich. wird nicht schön besser ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende

Steve Acker / 09.09.2024

Zu Ukraine und westliche Werte, einfach mal das Thema Mirotvorets anschauen. Diese Seite, eine echte Schande,  gibt es seit 8 jahren, also lange vor dem Krieg. UNO, EU, G7 , ‘bundesregierung haben die Ukraine aufgefordert die Seite zu schliessen. Nichts haben die gemacht. Die denken doch gar nicht dran, und scheren sich überhaupt nicht um Rechtsstaat. Die Seiten im englischen und deutschen Wikipedia sind recht informativ über mirotvorets.

Jörg Themlitz / 09.09.2024

@Fred Burig: Herr Burig, ganz ruhig. Ich bin seit 2005 jeweils das halbe Jahr in der CZ unterwegs. Ich habe in der Arbeit und in der Freizeit mit Tschechen, Slowaken, Ukrainern, Ungarn, ein Bulgare zu tun. Deren Auffassung unterscheidet sich grundsätzlich von dem, was Herr Gerd Maar hier schreibt. Die mit EU Geld geschmierten Regierungen handeln natürlich anders. Das ist dann so wie in DE. Die Regierung macht das, was die grüne 12 Prozent Partei und das grün woke Staatsfernsehen wollen. Das Volk ist ja eh doof. Erst recht der Ossi. Eine derartige sozialistische Überhebung erlebt der Ostteil (Mitteldeutschland) zum dritten Mal. Die beiden ersten Male waren schon nicht schön. Selbst “meine” beiden Ukrainerinnen, Ingenieurin und Justitiarin, die 2022 auf unserer Weltkarte Russland mit bunten Schweinen überklebt hatten (zu Recht und meint natürlich nicht, dass die Russen Schweine sind), sind zu der Auffassung gelangt, Selenskyj wird das Knie beugen müssen. Das ist nicht schön. Der zerfetzte Körper des 18 jährigen Sohnes ist auch nicht schön. Frieden jetzt. Zu Polen. Die Ukrainer haben bestimmt nicht vergessen, dass die auf dem den Polen 1945 zugesprochenem Gebiet lebenden Ukrainer, in Nacht und Nebelaktionen, früh am Morgen das ukrainische Dorf umstellen, halbe Stunde Zeit, kleiner Koffer plus Ausweispapiere, rauf auf den LKW und ab in das völlig zerbombte Ostpreußen und auf die Insel Usedom. Während die UNO damit zu tun hatte, sich selbst, die Menschenrechte und die Selbstbestimmung der Völker zu feiern.

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