Von Klaus Leciejewski.
Havanna verfügt über eine Eigenschaft, die während eines kurzen touristischen Aufenthaltes nicht zu erkennen ist. In Reiseführern wird immer wieder die Bemerkung von Alejandro Carpentier zitiert, dass Havanna eine „Stadt der Säulen“ sei. Dies ist sie ganz gewiss, aber dasselbe könnte auch von zahlreichen anderen kubanischen Städten behauptet werden, von großen wie kleinen. Überall ziehen sich an den Häusern dieser Städte Arkaden und Kolonnaden entlang. Aber eines findet sich nur in Havanna, unzählig viele Parks, unzählig, weil sie niemals gezählt wurden, denn es sind große, auch mittlere, und immer wieder kleinere, oft auch nur grüne Ecken. Es gibt bekannte und verschwiegene, überfüllte und leere, eindrucksvolle und harmlose. Allerdings sind heute einige nicht mehr vorhanden, sie wurden planiert und auf ihrem Boden abstoßend hässliche Plattenbauten hochgezogen.
Andere gab es vor 50 Jahren noch nicht. Der Schutt zusammengefallener Häuser wurde weggeräumt und darauf eine kleine Parkanlage errichtet. Von den Felsen der Festungen aus gesehen, setzt sich das Meer scheinbar in dem Meer der Häuser fort. Aber dazwischen sind überall grüne Inseln, und sogar der Horizont ist von grünen Tupfern übersät. Havanna benötigt keine grüne Lunge, denn eine jegliche seiner Straßen wird in ihrem Lauf wenigstens einmal von einem Park aufgehalten. Sie alle sind durch Menschenhand entstanden, aber dann der Schöpferkraft der Natur überlassen worden. Sie gehören zur Architektur der Stadt, und sind doch weitaus mehr Natur als Architektur.
Inmitten der Stadt zieht sich entlang des Flüsschens Almendares der eigenartigste Park der Stadt hin. Er schaut so verwunschen aus, als wäre er direkt aus einem Märchenbuch oder einem Fantasy-Film entsprungen. Riesige Bäume mit herunterhängenden Kletterpflanzen, an deren dichten Blättern die Sonnenstrahlen abzuperlen scheinen, als wäre es ein grüner Wasserfall. An ihren Seiten hängen Feenhaare herab, und auf den höchsten Ästen der allergrößten hocken Geier in ihren Nestern. Unter ihnen führen kaum erkennbare Pfade in grüne Unendlichkeit. Auch er war als Kunstpark entstanden, aber dann hatte sich die Natur seiner angenommen, und zu einem Urwald umgestaltet. Seit ewigen Zeiten treffen sich an seinen Ufern Afrokubaner, um im Gleichklang mit der Natur ihre überlieferten afrikanischen Religionen zu zelebrieren. Unter den Touristen sprach sich dies als Kuriosität herum. Sie lassen sich in schicken hochbetagten amerikanischen Cabriolets herankutschieren oder quellen aus wackligen chinesischen Bussen heraus. Für jedes Spektakel haben sie Geld, und ein solches wird ihnen jetzt nur an den Ufern des Almendares geboten.
Bürgerliches Havanna
Sehr selten finden sich vor oder hinter den Häusern Havannas kleine Gärten, mal eine Bananenstaude, oder ein Mangobaum, auch Avocados und Guaven, sowie immer wieder Palmen, mehr nicht. Ganz anders die liebevolle Pflege eines jeden freien Fleckchens Erde wie in Süddeutschland oder gar wie in England. Die Einwohner Havannas leben nicht in ihren Gärten, sie leben in ihren Parkanlagen. Der Rückzug in die eigene kleine Welt ist ihnen völlig fremd. Ständig führt ihre Lebensfreude sie zusammen. Die sozialistische Gesellschaft mit ihrer Angst vor dem allmächtigen Überwachungssystem hat ihnen diese Lebensfreude nicht austreiben können. In kaum einer Stadt der Welt sind Geschäft und Kunst eine Symbiose eingegangen, ohne dass das eine oder das andere leidet. Havanna ist die Ausnahme von dieser Regel. Hier gingen Geschäftssinn und Lebensfreude eine innige Verbindung ein. Das typische latinoamerikanische „manana“ war in Havanna nur schwach zu finden. Seine Bürger waren in ihren Geschäften stets mehr Nordamerikaner als Latinos. Vielleicht waren sie weniger stolz als die Mexikaner oder Argentinier, aber immer hatten sie mehr wirtschaftlichen Erfolg als diese.
Das Meer und ihr Fleiß brachten dem Bürgertum das Geld, ihre Lebensfreude brachte sie dazu, es für die Architektur ihrer Häuser und für ihre Parkanlagen einzusetzen. Havanna war nicht die Stadt der Malerei und der Musik, auch nicht die der Literatur oder des Theaters. Es war eine kunstbeflissene Stadt für die Architektur. Hier konnte jeder Architekt berühmt, und ein jeder Bürger konnte sein eigener Architekt werden. In keiner Stadt im Rest der Welt residieren so viele Diplomaten in herrschaftlichen Villen wie hier im politisch bedeutungslosen Havanna. Gleich, ob Protz oder Verspieltheit, ob praktischer Sinn oder ästhetischer Anspruch, ob verstaubte Tradition oder exzentrisches Wagnis - das Bürgertum Havannas gab jedem und jedes seine Chance.
Die Stadt der klügsten und wagemutigsten Kubaner
Die Quelle dieser Offenheit für die Unterschiede in der Kunst liegt im Handel über dem Meer begründet. Der Export des wichtigsten Produktes, Zucker, lief nicht nur über Havanna, obgleich der Hafen daran den größten Anteil hielt, sondern auch über etliche kleinere Häfen in der Provinz. Der Import jedoch lief fast ausschließlich über Havanna. Die Stadt musste offen sein, um diese Position zu halten. Sie musste aus den Provinzen die klügsten und wagemutigsten Kubaner anziehen können, und aus anderen Ländern Kaufleute mit denselben Eigenschaften. Die Künstler zogen nach und ihre Architektur zog wieder andere Geschäftsleute an.
Die Quelle der Lebenslust Havannas liegt zuerst im Charakter der Karibik begründet. Indessen reicht für das Verständnis dieser Frohmut in Havanna ein immergrünes, warmes Klima und die Verschmelzung europäischer, afrikanischer und süd- sowie nordamerikanischer Kulturen nicht aus. Havanna hatte eine eigene Lebenskultur. Die ersten prachtvollen Gebäude und die ersten erholsamen Parkanlagen bereiteten ungeheure Lust auf mehr. Dann ließ die Lebensfreude die Stadt explodieren, alles war Entspannung, war Leichtigkeit des Lebens, Sinnlichkeit der Architektur und Besinnlichkeit der Parks. In dieser Atmosphäre konnte sich kein Unbehagen und kein Missmut lange halten. Immer wieder stürzte sich die Stadt mit voller Wucht hinein ins ganze Leben. Und genau mit dieser Einstellung bereitete sie den Revolutionären Anfang 1959 auch einen überschwänglichen, ja ausgelassenen Empfang. Aber schneller als anderswo im Land erkannte die Stadt, welche lebensüberdrüssige Ideologie in ihr eingezogen war, und nach nur einem halben Jahr hatten diese Revolutionäre in Havanna keine Mehrheit mehr, aber nach anderthalb Jahren dann jedoch wieder, weil die Träger der Lebensfreude Havannas übers Meer geflüchtet waren.
Ohne selbstbewusste Bürger und ohne Bürger, die zu Reichtum gelangen können, vermochte die Architektur nicht weiter zu blühen. Heute sind Altstadt und Zentrum von Touristen überlaufen. Sie kommen, um das ursprüngliche alte sozialistische Havanna noch einmal zu erleben. Sie irren. Die Altstadt ist bereits das kapitalistische Havanna, weil ausschließlich mit kapitalistischen Geld wieder aus Ruinen auferstanden, und in Geschäften, Hotels sowie Museen von kapitalistischem Geist beseelt. Wie in jeder ähnlichen Altstadt der Welt können ihre alten Gebäude nicht mehr als nur Fassaden sein, wenngleich prächtig anzuschauende.
Sind die Besitzer vertrieben, verfallen die Häuser
Das sozialistische Havanna hingegen besteht weitgehend aus Verfall. Er beginnt nur wenige Schritte abseits der touristischen Wege schon in den Straßen der Altstadt. Aber diese Ruinen sind nicht stumm, sie berichten darüber, was Menschen mit ihnen angerichtet haben, die aus Machtbesessenheit und ideologischer Verblendung, erst die Bürger vertrieben, die in ihnen wohnten, und dann die Häuser sich selber überließen. Außerhalb der wieder aufgebauten Altstadt sowie in den Wohngebieten der Nomenklatura, ebenso in denen der westlichen Geschäftsleute, der Botschaften und Residenzen ist Havanna eine Landschaft verfallener Häuser geworden. Einzigartig unter den großen Städten der Welt durchzieht Havanna ein morbider Charme. Er ist der einzige neue Charakterzug der Stadt. Morbid, weil es bis zum Tode krankhaft ist, eine Stadt verkommen zu lassen. Charme, weil in diesem Verfall die noch intakten alten Gebäude umso prächtiger wirken.
Ein plastisches Beispiel dafür ist eine der zentralen Straßen Havannas. Die „Diez de Octubre“ führt vom Westen der Stadt über ihre Verlängerung, die „Infanta“, bis zum Zentrum. Insbesondere von der Kreuzung mit der „Via Blanca“ bis zu der mit der „Acosta“ war sie vor sechs Jahrzehnte eine beliebte Einkaufsstraße. Zahlreiche Geschäftshäuser mit Kolonnaden sowie Bürogebäude gaben ihr ein gutbürgerliches Gepräge. Heute? Verfall! Havanna weint, und das Herz scheint zu brechen. In den Nebenstraßen kleine Villen dicht aneinandergedrängt, aber es waren Villen, zumeist mit Säulen davor, darin wohnten weder Superreiche noch Mafiosi, hier wohnte die breite Mittelschicht, und wie überall auf der Welt baute sie sich Häuser nach dem Vorbild der Reichen, nicht so glanzvoll aber ihren Sinn für Architektur vorzeigend. Wo gibt es Vergleichbares in Berlin oder Paris oder London? Selbst in seinen Randbezirken ist Havanna einzigartig. Hier schlug sein Herz. Und Heute? Bewohnte Ruinen!
Der Zauber bleibt letztlich unerklärlich
Glücklicherweise nicht alle, etliche konnten von ihren Bewohnern inzwischen gerettet werden, privat, ohne den Staat, und sie sind wieder sehenswert. Aber alles was vom alten Havanna gerettet oder neu gebaut wurde, ist mit fremden Geld entstanden, Geld der UNESCO, Geld westlicher Geschäftsleute, Geld der Überweisungen kubanischstämmiger Amerikaner und Geld der Touristen. Havanna gleicht einem riesigen Museum, seine koloniale Pracht sowieso, aber das meiste vom alten Havanna besteht aus dem Havanna vor der sozialistischen Revolution, entstanden nur innerhalb von sechs Jahrzehnten. Ausgedehnte urbane Gebiete, überall Parks und vielfältige Industrieanlagen. Was für eine Lebenskraft muss in jenen Jahren in diesem Havanna gesteckt haben! In den folgenden sechs Jahrzehnten vermochte die kommunistische Führung nichts Neues hinzuzufügen. Aber ohne etwas neu Entstandenem, ist alles, was zuvor entstanden war, heute museal, die amerikanischen Oldtimer als pittoreske Zutat.
Nach einigen Tagen des scheinbar endlosen Wechsels von prachtvollen Häusern, beschaulichen Parkanlagen und dem Malecón benötigt die Seele Ruhe. Am besten am frühen Morgen, ganz allein, in einem Fauteuil unter den Arkaden des „Hotel National“ auf einem Felsen über dem Meer, mit Blick auf die Gartenanlage und am Horizont ein schmaler blauer Streifen, dort eine Zigarre genießen. Nicht rauchen, nicht paffen, nichts Anderes als langsam genießen, und dabei die Gedanken über diese einzigartige Stadt wandern lassen.
Havanna kann in die Seele eines Menschen eindringen, wenn man sich Zeit mit ihr lässt. Der Alltagstourist hat dafür keine Zeit, und er hat dafür auch keine Augen. Er hat bereits so viele Städte besichtigt, dass er sich an die meisten davon kaum noch zu erinnern vermag. Seine Wohnung ist vollgestopft mit Andenken aus allen Teilen der Welt, und wenn sich zu viele davon angesammelt haben, muss er einen Flohmarkt damit bestücken. In Havanna ist er dabei, auch noch Havanna abzuhaken. Und trotzdem! Havanna braucht diese Touristen, und sie nehmen etwas von Havanna mit, das sie nicht in ihre Koffer verstauen können. Die Bewohner der Stadt benötigen das Geld der Touristen, mehr als jede andere Touristen-Stadt in der Welt. Sie haben in ihrer riesigen Stadt kaum noch weitere Verdienstmöglichkeiten, und schon gar keine so attraktive, zudem hat das Havanna der Gegenwart auch kein wirtschaftliches Hinterland mehr. All dieses schnell in die Busse hinein und schnell wieder heraus, schnell noch einen Mojito, schnell ein einfaches Essen, schnell in ein Museum, eine Bar, eine Zigarrenfabrik, einen Touri-Trödel-Markt und schnell noch eine weitere Sehenswürdigkeit, aber dann wieder schnell in die Behaglichkeit der westlichen Zivilisation zurück. War es das von Havanna? Bleibt da nicht in jedem auch etwas zurück? Eine Erinnerung an die Sinnlichkeit dieser Stadt und an ihre Pracht - die wiederauferstandene und die noch wiedererstehende, vielleicht auch die Ermahnung, sich nicht Menschen auszuliefern, die alles und jedes ganz genau zu wissen meinen, vor allem alles über unsere Zukunft.
Meine kleine Verehrung Havannas begann mit Stefan Zweig, und sie endet auch mit ihm: „Das letzte eines Zaubers bleibt immer unerklärlich.“
Auch den Zauber, der von Havanna auf uns übergeht, können wir letztlich nicht erklären, so wie wir nicht versuchen sollten, eine kunstvolle Einmaligkeit letztlich erklären zu wollen. Wir können diesen Zauber genießen, ohne unseren Verstand bemühen zu müssen. Gibt es etwas Schöneres über eine Stadt zu sagen!
Die erste Folge finden Sie hier
Klaus D. Leciejewski hat an verschiedenen deutschen Hochschulen Wirtschaft gelehrt, ist Autor mehrerer Sachbücher und Publizist. Er ist mit einer Kubanerin verheiratet und lebt einen großen Teil des Jahres auf Kuba