Im Rausch der Dekadenz

Josef Kraus ist bekannt für seinen politisch scharfen Blick und seine unabhängige Denkweise. Wachsam, witzig und warnend sind seine Worte gegen Wahnsinn.

Als ich erstmals das neue Buch von Josef Kraus durchblätterte, dachte ich an den langjährigen Kultur-Korrespondenten der FAZ und heutigen Achse-Autor, Thomas Rietzschel. Der schrieb schon vor zwölf Jahren in seinem Buch „Die Stunde der Dilettanten - Wie wir uns verschaukeln lassen“:  Die Gesellschaft sei geprägt durch Dilettanten, die viel wollten, aber nur wenig könnten. 

Kraus schreibt, dass sich diese Klage durch die ganze Menschheitsgeschichte zieht. Dazu passt ein Zitat von Adam Smith,“Der Wohlstand der Nationen“, 2. Buch, S.282 (Erstausgabe anno 1776) : "Große Nationen werden niemals durch private, doch bisweilen durch öffentliche Verschwendung und Misswirtschaft ruiniert. In den meisten Ländern werden nämlich alle oder nahezu alle öffentlichen Einnahmen dazu verwendet, um unproduktive Leute zu unterhalten.“ Der Verlust an Wohlstand wird langsam spürbar, für alle sozialen Schichten.

Allerdings kann jeder von uns seit Jahren täglich die Moralfürsorge in den Medien spüren, die mit staatlicher Propaganda gefüttert werden. Der moralische Kompass ist wichtiger als unvoreingenommene Berichterstattung. Ein Gefühl von Aussichtslosigkeit macht sich in Umfragen breit. In der aktuellen FORSA - Umfrage trauen nur noch 24 Prozent der Befragten dem Staat zu, seine Aufgaben erfüllen zu können. In derselben Umfrage geben nur 21 Prozent an, ein großes Vertrauen in die Bundesregierung zu haben. 

Aufgrund meines beruflichen Hintergrundes verfolge ich besonders die Außenpolitik und die Brüsseler Politik. Im Auswärtigen Amt werden die Botschafter heutzutage aufgerufen, öffentlich  „Wirbel zu machen“. Undenkbar zu meiner Zeit. So kann man sich Zugänge verbauen und die eigene Arbeit erschweren. Noch hat Deutschland weltweit bei vielen Menschen ein positives Image. Aber wir können uns eine Außenpolitik, die Menschen und Länder in Gut und Böse sortiert, nicht leisten. Mit der zunehmenden Tendenz zur Belehrung verliert unsere Außenpolitik an Einfluss und hilft den deutschen Interessen sicher nicht.

Wo blieb der Aufschrei der Wirtschaft?

Da ich auch Brüssel ein bisschen kenne und zuvor persönlicher Referent für EU-Fragen  des damaligen Staatsministers Klaus von Dohnanyi war, erlaube ich mir auch hier einen Seitenblick. Damals war Jacques Delors Präsident, und ich hatte nie den Eindruck, dass Deutschland der Willkür der Brüsseler Politik wehrlos ausgeliefert war. 

Kraus schreibt, Europa werde bedroht von innen: Nach Nachlassen seiner biologischen Vitalität, von seinen Selbstzweifeln, ja seinem Selbsthass und vom Irrglauben, ein EU-Bürokratiemonster könnte Identität vermitteln. Deutsche Interessen werden in Brüssel nur noch selten gewahrt. Im Gegenteil werden wir von den Wurzeln unseres industriellen Wohlstandes abgeschnitten. Sehr seltsam, dass es keinen Aufschrei der Wirtschaft gibt, denn die Wirtschaft erstickt in Bürokratiemonstern wie Lieferkettenrichtlinie, Renaturierungsgesetz, KI-Verordnung oder Gesetz über digitale Dienste. Wieder Moral statt Interessen.

Das ging zuerst in den USA schief. Der US-Bierkonzern Anheuser-Busch, der Sportartikelkonzern Nike, der Rasierklingenhersteller Gillette und die Handelskette Target erlitten nach woker Werbung gewaltige Einbrüche im Umsatz sowie sinkende Aktienkurse. Rasch wurden sie zur Kehrtwende gezwungen.

Josef Kraus ist bekannt für seinen politisch scharfen Blick und seine unabhängige Denkweise. Drei Jahre lang hat er an dem Buch „Im Rausch der Dekadenz, LMV, 2024 gearbeitet. Wachsam, witzig und warnend sind seine Worte gegen Wahnsinn. 
Er plädiert für ein Menschenbild, das von der Gleichberechtigung vor dem Gesetz ausgeht und vom freien Willen des Menschen; ein Menschenbild, in dem Freiheit vor Gleichheit und Eigenverantwortung vor Bevormundung rangieren. Das sei das, was uns eigentlich ausgemacht hat und was wir jetzt vergessen sollen.
Er möchte den Leser nicht nur zum Nachdenken, sondern auch zum eigenen Recherchieren und Vertiefen anregen. Dazu helfen seine Querverweise und Literaturempfehlungen am Ende des Buches. So wird der Lesefluss nicht gebremst.

"Samenspender*innen" und "Sensenfrau"

Er bewahrt sich auch in diesen düsteren Zeiten den Humor.

Für Avantgardisten oder Opportunisten zitiert er zum allgemeinen Amüsement Beispiele (mit Fundstelle) für eine „gerechte Sprache“:

Passagierende
Kinder und Kinderinnen,
Samenspender*innen
Krankenschwesterinnnen
Eltern und Elterinnen
Feuerwehrmännerinnen
Verstorbene Mitarbeitende
Prostatapatienten und Prostatapatientinnen,
Studierende im Schlaf erstochen
Wie man den Flammen Herr oder Frau werden kann
Deutsche und Deutschinnen
Sensenfrau
Witwer und Witwerinnen
Weibliche Priesterinnen

etc.

Sündenstolz 

Sein wichtigster Punkt, mit dem er die Dekadenz als Selbstaufgabe und Selbstverschlampung festmacht, ist der europäische und deutsche Sündenstolz. „Die ständige Wiederholung: Wir waren die Schlimmsten in der Weltgeschichte, wir haben nur Übel über die Welt gebracht, und es wäre alles ein Paradies, wenn wir nicht gewesen wären.“ 

Er zitiert die Ethnologin Susanne Schröter. Sie schreibt über die Dauerbeschallung mit Achtsamkeitsparolen: "Eine laute Minderheit versucht, der Gesellschaft die eigene Weltsicht überzustülpen. Unternehmen, Politiker und Individuen müssen den Vorstellungen dieser Ideologen nachgeben. Und sie knicken ein. An den Universitäten werden Professoren unter Druck gesetzt, sich einem woken 'Unterwerfungssystem' zu beugen…so vergiftet wie derzeit war das Debattenklima seit den '1968ern' nicht mehr…“ 

1968 bekämpften sie den Staat, heute sind sie Abgeordnete, Richter, Journalisten oder  Gründer einer NGO, die vom Staat alimentiert wird. Das Ergebnis ist überall zu sehen von den Medien, SPD, FDP bis zur CDU. Alle wirken sie grün. 

In den Funkhäusern werden die Grundsätze Objektivität, Unparteilichkeit, Meinungsvielfalt sowie Ausgewogenheit in der Realität nicht beachtet. Die „gefühlte Elite" (Begriff von Dirk Maxeiner geprägt) der Journalisten vermittelt Fakten fast nur noch im Lichte von „Haltung“ und falls nicht genehm, auch gar nicht. In Talkshows sind - wie etwa vorbildlich bei Servus TV - liberalkonservative Vertreter kaum noch dabei. Ein gefährliches Problem ist deshalb ein steigender Vertrauensverlust der Bürger in die Institutionen. 

Josef Kraus schafft es, ganz abgesehen vom informativen Gehalt, ein überzeugendes Buch zu schreiben. Er schöpft aus einem ganz eigenen, reichen Quellenfundus und präsentiert so manches Unbekanntes oder Vergessenes. Sein Engagement für eine ehrliche Diskussion zeigt dieses Buch mehr als anschaulich. Die Thesen sind thematisch und argumentativ strukturiert. Ich würde mich freuen, wenn sie noch mehr den Weg in den öffentlichen Diskurs finden würden. Man muss mit manchen Positionen nicht übereinstimmen, um seinen Gedanken mit Gewinn zu folgen. Das Buch ist ein gelungenes Stück Aufklärung und sehr lesenswert.

Josef Kraus: Im Rausch der Dekadenz - Der Westen am Scheideweg, Verlag: LMV, 2024, ISBN-13: 9783784437248, 336 Seiten, 24,00 Euro

Volker Seitz, ist Botschafter a.D. und Autor des Bestsellers „Afrika wird armregiert, dtv, 2021 (11. aktualisierte Auflage)

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maciste rufus / 03.11.2024

maciste grüßt euch. schön. und? das alles wissen wir seit vielen jahren. analysen haben wir sattsam, wird etwas getan? bekennt ihr euch zu rechts, zur afd, unterstützt ihr rechte organisationen, seid ihr bereit zum kampf auf der straße? ist euer körper trainiert, seid ihr mental bereit zum kampf auf leben und tod? ich behaupte, daß das unwahrscheinlich ist. wer übrigens unsere erbärmliche und niederträchtige situation mit dem rom der spätantike gleichsetzt, ist historisch ahnungslos. denkt im ersten schritt an das trumpeltier: “fight, fight, fight”. bekennt euch bedingungslos zu rechts, wenn ihr wollt, daß eure kinder und enkel überdauern. battle on.

Wolfgang Kolb / 03.11.2024

Lieber Herr Seitz! Vielen Dank fuer die Buchvorstellung! Leider werden diejenigen, die es betrifft oder die dagegen anschreiben koennten es wohl nicht beachten und lesen.

Heinz Johansmeier / 03.11.2024

Zum Abschnitt „Zur Erheiterung“ im neuen Buch von Josef Kraus ein paar ergänzende Vorschläge zur Gendersprache bei Be- und Einwohnenden von Städten: Kölnende, Bonnende, Düsseldorfende, Speyernde, Emdende, Berlinende, Essende, Dresdende, Baselnde, Genfende, Wienende usw. - Einen habe ich noch: Frankfurtende. Hier bedarf es eines Warnrufs in Anlehnung an den bekannten Sportreporter aus Berlin-Adlershof, Heinz Florian Oertel, der bei einem Bericht von der Ruderregattastrecke in Oberschleißheim während der Olympiade 1972 in München mahnte, den Ort müsse man vorsichtig aussprechen…

gerhard giesemann / 03.11.2024

Man sollte Realitätsverkennung nicht mit Dekadenz verwechseln.

sybille eden / 03.11.2024

Dekadenz ? Die ” unsere Demokratie” ist doch nur das Make Up eines vom Neomarxistischen Krebs zerfressendes Gesellschaftsmodell. Und es gibt, wie beim medizinischem Krebs, noch kein Wundermittel dagegen. Trump und Milei sind eine kleine Hoffnung.

Andrea Lorenz / 03.11.2024

“Wir waren die Schlimmsten in der Weltgeschichte, wir haben nur Übel über die Welt gebracht…” Wer ist “wir”?

Sepp Kneip / 03.11.2024

„Die ständige Wiederholung: Wir waren die Schlimmsten in der Weltgeschichte, wir haben nur Übel über die Welt gebracht, und es wäre alles ein Paradies, wenn wir nicht gewesen wären.“  Wer so etwas sagt, ist ein Mörder. Er erschlägt das Selbstbewusstsein einer Nation, die sich in ihrer Geschichte zwar einiges “geleistet”, aber wieder zu sich selbst gefunden hat. Natürlich darf man die Gräueltaten der NS-Zeit nicht verschweigen. Dass sie gesühnt wurden, hat man den Nürnberger Prozessen zu verdanken. Ich möchte die Nation sehen, die eine solche Wiedergutmachung geleistet hat, wie die Deutschen. Eine solche Nation von der Landkarte vertilgen zu wollen, ist Wahnsinn. Aber diese Bestrebungen gibt es. Es gibt sie im Rahmen einer spätrömischen Dekadenz, deren milliardenschweren Protagonisten jedoch nicht der Moral, sondern dem Eigennutz frönen.

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