Wolfram Weimer / 16.11.2018 / 14:30 / Foto: Ich / 13 / Seite ausdrucken

Im Loderfeuer der Seehofer-Scheiterhaufen

Horst Seehofer ist der Sündenbock des Jahres. Das politische Berlin fällt mit einer Vernichtungslust über den CSU-Vorsitzenden und Innenminister her, als habe er Kronjuwelen gestohlen oder den Reichstag abgefackelt. Alle Parteien – inklusive seiner eigenen – sind sich verdächtig einig, dass Seehofer für die politischen Krise der Berliner Republik maßgeblich verantwortlich sei; allenthalben fordern sie lautstark seinen Rücktritt.

Der wird nun kommen, auf Raten, in Zeitlupe und gequält, aber der politische Ruin ist besiegelt. Niemand springt ihm mehr öffentlich zur Seite, nicht einmal diejenigen, die genau wissen, dass er die CSU aus der tiefen Krise von 2008 reichlich spektakulär zur absoluten Mehrheit zurückgeführt und Bayern für ein Jahrzehnt sehr erfolgreich regiert hat sowie in der Merkel-Ära zuweilen zur Stimme der schweigenden bürgerlichen Mehrheit im Land geworden ist.

Nun gibt Seehofer mit mancher Entgleisung und Fehltritten (wie zuletzt in der Maaßen-Affäre) leicht Anlass zur Kritik, seine Sprunghaftigkeit hat ihm obendrein – nicht ganz verfehlte – Schmähungen von “Drehhofer” bis “Crazy Horst” eingebracht. Doch die gewaltige Größe des Seehofer-Popanz, der derzeit über Berlin und München aufgeblasen wird, hat einen anderen Grund als seine objektiven Fehler und Schwächen.

Söder stand zur Wahl, nicht Seehofer

Seehofer ist der perfekte Sündenbock des für die Volksparteien so miserablen Jahres 2018. Allen voran für Markus Söder. Er kann mit dem Seehofer-Bashing perfekt die Schuld des schlechten Ergebnisses auf seinen Konkurrenten abwälzen. Wer fragt jetzt noch nach dem eigenen Schlingerkurs im Wahlkampf? Wenn Seehofer allenthalben als Vater des Misserfolges angesehen wird, kann Söder selbst flugs den Parteivorsitz erobern und beide bayerischen Spitzenämter in einer Hand vereinen – keine schlechte Ausbeute in Anbetracht eines katastrophalen Wahlergebnisses, bei dem eigentlich Söder zur Wahl stand und nicht Seehofer.

Zweitens passt der Seehofer-Sündenbock auch der CDU perfekt in den Kram. Indem man Seehofer zum Inbegriff von Regierungschaos stilisiert, lenkt man elegant davon ab, dass die eigene Kanzlerin in der Migrationsfrage schwere Fehler begangen hat und mit ihrer Großen Koalition insgesamt ein schwaches Bild abgibt. An den grotesken Sommerkonflikten um Grenzkontrollen hat auch Merkel ihren Anteil, sie hätte den quälend spät gefundenen und harmlosen Kompromiss von Anfang an anbieten und der CSU entgegenkommen können. Doch auch sie ließ die Dinge eskalieren. Im Loderfeuer der Seehofer-Scheiterhaufen aber sieht man ihre Fehler kaum mehr.

Dass CDU und SPD in dieser Bundesregierung vom Dieselskandal bis zur Digitalisierung keine gute Figur machen, kann man ebenfalls hinter Seehofer-Beschuldigungen gut kaschieren. Für die SPD ist das Sündenbockspiel bequem, wirken doch die peinlichen Fehltritte von Andrea Nahles damit kleiner und tabuisiert man so die ungelösten Richtungs- und Machtfragen in der Sozialdemokratie. Grüne und Linke wiederum können mit Seehofer-Kritik davon ablenken, dass auch sie ihren Anteil an der Migrationkrise haben, indem sie nicht einmal nordafrikanische Staaten zu sicheren Herkunftsländern erklären wollen.

Die AfD wäre auch ohne Seehofer aufgestiegen

In Wahrheit haben die großen Krisensymptome der Volksparteienrepublik mit Horst Seehofer so gut wie nichts zu tun. Auch ohne Seehofer wäre der Aufstieg der AfD gekommen. Auch ohne ihn wären CDU, CSU und SPD bei den Wahlen eingebrochen. Auch ohne Seehofer hätte es die Polarisierung der Republik in der Migrationfrage gegeben. Und die Abnutzungserscheinungen der Ära Merkel wie ihrer großkoalitionären Regierungen wären auch ohne jede bayerische Ingredienz zutage getreten. “Wenn wir die lebensbedrohlichen Probleme der Volksparteien mit der Personalie Seehofer ersticken wollen, werden wir scheitern. Die Probleme reichen viel tiefer”, sagt ein Präsidiumsmitglied der CDU in Berlin.

Seehofer hat das Pech, dass alle Seiten Negatives auf ihn projizieren wollen – und er ihnen die Angriffsflächen bietet, das auch tun zu können. Er verliert darob nicht nur Ämter, sondern auch Ansehen und endet als tragische Figur. Der Sündenbock ist ein nützliches Tier für selbst ernannte Unschuldslämmer.

Dieser Beitrag erschien zuerst auf The European

Sie lesen gern Achgut.com?
Zeigen Sie Ihre Wertschätzung!

via Paypal via Direktüberweisung
Leserpost

netiquette:

Rupert Drachtmann / 16.11.2018

Sehr geehrter Herr Weimer, mit Herrn Seehofer trifft es schon den richtigen. Er hatte seine Chance und politische Verantwortung dem Handeln von Merkel entgegen zu wirken. Hier hat er schlicht versagt. Seine jetzige Rolle hat er selbst zu verantworten .

Fritz kolb / 16.11.2018

Das bayerische Wahlergebnis war keinesfalls so schlecht, Herr Weimar, wie aktuell immer wieder behauptet wird. In Hessen waren es 10 Punkte weniger, im Bund steht die CDU aktuell nach Umfragen so da wie in Hessen. Nicht auszudenken wo sie stünde, wäre das Ergebnis der Bayern auf Hessen-Niveau gewesen. In der unsäglichen Merkel-Migrationspolitik hat der Herr Seehofer zunächst als Innenminister den rechtlich richtigen Weg eingeschlagen. Wäre er dabei geblieben, hätte das der CSU sehr genützt. Ich werfe ihm aber vor, dass er, aus welchen Gründen auch immer, dann „den Schwanz eingezogen hat“, wie man so schön sagt. Was ja leider schön öfter geschehen ist und ihm den Spitznamen „Drehhofer“ eingebracht hat. Ich hoffe aber trotzdem, dass er noch einige Zeit Innenminister bleiben wird, zumindest so lange, wie Merkel Kanzlerin ist. Denn wissen Sie, wer auf Seehofer folgen wird?  Ein weichgespülter Minister vom Kaliber de Maziere, der als Pudel von Frau Merkels Gnaden die idiotische Grenzöffnung abgenickt hatte, wäre weit schlimmer.

Constanze Rüttger / 16.11.2018

Im Grunde genommen mag ich Seehofer ja nicht, aber er ist genauso ein Bauernopfer wie Maaßen.

Gernot Radtke / 16.11.2018

Vergessen wir dabei nicht Seehofers schändlichen Verrat an Hans Georg Maaßen, der den schamlosen Lügen/Verdrehungen der Regierung zum Chemnitzer Migrantenmord widersprochen und den Deutschen mutig die Wahrheit gesagt hat. Erst Maaßens Beförderung, dann deren Kassierung, dann (‚ehrlose‘) Entlassung; am bitteren Ende wahrscheinlich noch ein Disziplinarverfahren. Wenn im Theater der miesesten Haupt- und Staatsaktionen ein ‚Schurke‘ von anderen ‚Schurken‘ abgeräumt wird, hält sich das Mitleid bei den Zuschauern in engen Grenzen. Eher lebt im Publikum die erwartungsfrohe Frage auf: Wer ist der nächste? Mehr davon!

Michael Lorenz / 16.11.2018

“... zuweilen zur Stimme der schweigenden bürgerlichen Mehrheit im Land geworden ist.” Genau deswegen wird er ja geschasst. Denn so ist er in der Gesellschaft von Warnern wie Sarrazin. Roman Reusch, Buschkowski ... und die haben alle ihr ‘Päckchen’ bekommen. Erst die spätere Geschichtsschreibung wird ihnen Recht geben. Wobei Seehofer dann trotzdem -zu Recht! - schlecht wegkommt, als trauriger, dauereinknickender Bettvorleger, der er ist!

Hubert Bauer / 16.11.2018

Seehofer wird aber von der Union noch für den Europawahlkampf gebraucht. Er ist ja das letzte konservative Alibi der CDU/CSU. Wenn ein altes Mütterlein am Wahlstand fragt, was noch konservativ an der CDU/CSU ist, kann der Wahlkampfhelfer einfach mit “Horst Seehofer” antworten. Nach der Europawahl wird man ihn dann aber endgültig in Rente schicken.

Bernhard Freiling / 16.11.2018

Immer hatte ich den Eindruck, Seehofer wußte sehr gut, daß diese linksverrutschte CDU kein Partner mehr für seine noch immer konservative CSU ist. Oft genug artikulierte er dies. Zum Vorwurf mache ich ihm, daß er nie die sich anbietenden Konsequenzen gezogen hat. Im Endeffekt hat er dem Burgfrieden mit der CDU, meist zu seinen persönlichen Lasten, eine größere Priorität eingeräumt als dem Wohlergehen dieses Landes. Seit Ende Juni diesen Jahres ergab sich mehrfach die Möglichkeit, die CSU als die konservative Partei für ganz Deutschland zu etablieren. Meines Erachtens hat er historische Chancen seiner Partei vertan, wobei mir schon klar ist, daß er nicht im leeren Raum agieren konnte, sondern auf die Rückendeckung seiner Partei angewiesen war. Die hat sie ihm verweigert. Und da ihm offensichtlich das Charisma fehlt, sich gegen Leute wie Söder und Dobrindt durchzusetzen, steht er nun vor dem Scherbenhaufen.  Er wird ihn verschmerzen können. Die erfolgreichen Jahre als bayrischer Ministerpräsident lassen sich nicht wegdiskutieren. Spannend dürfte es werden seine - nach seinen diversen Rücktritten bestimmt ins Auge gefaßten - Erinnerungen, vielleicht nennt er sie ja auch “den Intrigantenstadl”, zu lesen. Die kann er ruhig noch während der Merkelregentschaft veröffentlichen. Freu mich drauf. ;-)

Sonja Bauch / 16.11.2018

Zum “Hetzjagd-Video” aus Chemnitz gibt es jetzt etwas Neues. “Tichys-Einblick” hat die Urheberin des Videos ausfindig gemacht und die berichtet in einem Interview über das Geschehen. Danach ist sie mit ihrem Mann in einem Trauerzug mitgelaufen und zwei Migranten haben die Gruppe massiv belästigt. “Sie waren aggressiv auf uns zugekommen und haben uns angepöbelt und einem unserer Freunde den Inhalt eines Bierbechers über seine Kleidung geschüttet.” Weil sie so erschrocken ist, hat sie die Handy- Kamera angeschaltet und dann das Weglaufen der beiden und die kurze Verfolgung gefilmt. Dass Maaßen, weil er diese Hetzjagd anzweifelte, aus dem Amt gedrängt wurde, ist ein politischer Skandal.

Weitere anzeigen Leserbrief schreiben:

Leserbrief schreiben

Leserbriefe können nur am Erscheinungstag des Artikel eingereicht werden. Die Zahl der veröffentlichten Leserzuschriften ist auf 50 pro Artikel begrenzt. An Wochenenden kann es zu Verzögerungen beim Erscheinen von Leserbriefen kommen. Wir bitten um Ihr Verständnis.

Verwandte Themen
Wolfram Weimer / 26.06.2020 / 06:00 / 80

Corona als Kanzlermacher

In der CDU knistert es. Die Kanzlerkandidatur-Frage legt sich wie eine Krimispannung über die Partei. Im Dreikampf und die Merkelnachfolge zwischen Markus Söder, Armin Laschet…/ mehr

Wolfram Weimer / 18.06.2020 / 06:29 / 104

Der Rassist Karl Marx

Die Rassismus-Debatte eskaliert zum Kulturkampf. In Amerika werden Kolumbus-Denkmäler geköpft oder niedergerissen, in England sind Kolonialisten-Statuen zerstört oder in Hafenbecken geworfen worden, in Antwerpen trifft…/ mehr

Wolfram Weimer / 12.06.2020 / 10:00 / 47

Nichts ist unmöglich: AKK als Bundespräsidentin?

„Das ist die größte Wunderheilung seit Lazarus“, frohlocken CDU-Bundestagsabgeordnete über das Comeback ihrer Partei. Die Union wankte zu Jahresbeginn dem Abgrund entgegen, immer tiefer sackten…/ mehr

Wolfram Weimer / 21.05.2020 / 12:00 / 23

Warren Buffet traut dem Braten nicht

Warren Buffetts Barreserven liegen jetzt bei sagenhaften 137 Milliarden Dollar. Das ist so viel wie das Bruttosozialprodukt der 50 ärmsten Staaten der Welt zusammengenommen –…/ mehr

Wolfram Weimer / 07.05.2020 / 06:29 / 105

Anders Tegnell: Der Stachel im Fleisch der Corona-Politik

Schwedens Staatsepidemiologe Anders Tegnell spaltet die Gemüter. Er trägt weder Anzüge noch Medizinerkittel. Er vermeidet jedes Pathos und Wissenschaftlergehabe. Im Strickpullover erklärt er mit lässiger…/ mehr

Wolfram Weimer / 23.04.2020 / 06:10 / 183

Robert Habeck: Die grüne Sonne geht unter

Am 7. März erreichten die Grünen im RTL/n-tv-Trendbarometer noch Zustimmungswerte von 24 Prozent. Monatelang waren sie konstant die zweitstärkste Partei in Deutschland, satte 8 Prozentpunkte betrug der…/ mehr

Wolfram Weimer / 17.04.2020 / 06:17 / 90

China blockiert Recherchen zur Virus-Herkunft

Wie kam das Coronavirus von der Fledermaus auf die Menschen? Der Tiermarkt in Wuhan war es wohl doch nicht. Ein Virus-Forschungslabor nebenan spielt offenbar eine…/ mehr

Wolfram Weimer / 03.04.2020 / 06:25 / 100

Die liberale Corona-Bekämpfung

Die Bewältigung der Corona-Krise ist nicht alternativlos. Während viele Länder Europas – auch Deutschland – auf radikale Massen-Quarantänen mit wochenlangen Ausgangssperren und Kontaktverboten setzen, vertrauen…/ mehr

Unsere Liste der Guten

Ob als Klimaleugner, Klugscheißer oder Betonköpfe tituliert, die Autoren der Achse des Guten lassen sich nicht darin beirren, mit unabhängigem Denken dem Mainstream der Angepassten etwas entgegenzusetzen. Wer macht mit? Hier
Autoren

Unerhört!

Warum senken so viele Menschen die Stimme, wenn sie ihre Meinung sagen? Wo darf in unserer bunten Republik noch bunt gedacht werden? Hier
Achgut.com