Manfred Haferburg / 18.03.2019 / 06:29 / Foto: Pixabay / 72 / Seite ausdrucken

Im Land der Verstrahlten

Mein Beitrag acht Jahre nach Fukushima erzeugte ein überraschend großes Echo. Unter anderem folgten eine Einladung zu einem Rundfunkinterview und eine E-Mail aus dem Bundestag – sogar von der CDU. Es gab aber auch heftige Widerworte. Heute morgen bin ich aufgewacht und stellte fest, dass der Entschluss in mir gereift ist, ein bisschen gegen den Wind zu spucken – oder auch einen Orkan – wohl wissend, dass man dann was ins Gesicht bekommt. Ich werde heute mal eine Lanze für die Radioaktivität brechen. 

Fangen wir ganz musikalisch an. Der Hit „Radioactive“ ging verständlicherweise an den deutschen Hitparaden völlig spurlos vorbei. Punk und Radioaktivität in einem furiosen Rock, darf man das, geht das? Und wie das geht! Lindsey Stirling und PENTATONIX spielen und singen einen sexy Endzeit-a-capella-hit. So was können nur die Amerikaner. Aber die Amis nennen ja auch schon mal völlig ungeniert ihre Sportwagen „Crossfire“ – Kreuzfeuer oder „Thunderbolt“ – Donnerkeil. 

Deutschland ist sich weitgehend darüber einig, dass Radioaktivität – auch in kleinsten Dosen – die Menschen entweder in Monster verwandelt oder einen qualvollen Siechtod sterben lässt. Deutschland ist das Land der Grenzwerte ohne Obergrenze. Ich erinnere nur an die Strahlenmolke mit 5.800 Becquerel. Sind 5.800 Bq viel? Immerhin leckte der Bayrische Umweltminister Alfred Dick an der Molke: „Des tut mir nix“. Tat es auch nicht, der Wert war dreimal so hoch wie der zulässige Grenzwert der Europäischen Gemeinschaft. Am Ende geisterte die „Strahlenmolke" vier Jahre in der Bundesrepublik umher, und ihre Entsorgung kostete 50 Millionen Mark. Und ich verkneife mir jetzt meine Galgenbemerkungen zu den Dieselgrenzwerten, denn dagegen war die Strahlenmolke ein finanzieller Erfolg.  

Als Erstes habe ich jetzt eine ganz schlechte Nachricht für Annalena und Anton: Mädels, Ihr seid voll verstrahlt. Wirklich. Jede einzelne Eurer Körperzellen beherbergt etwa eine Million radioaktiver Atome. Und jede Sekunde zerfallen etwa 9.000 radioaktive Atome in Eurem Körper und senden dabei Strahlung aus. Mehr als die Hälfte dieser Strahlung stammt von natürlich vorkommenden radioaktiven Kalium ­Atomen, die mit der Nahrung in Eure Körper gelangen, ganz ohne Glyphosat. Aber auch radioaktiver Kohlenstoff (das C­14, das für die Altersbestimmung von organischem Material Verwendung findet) sowie Uran und Thorium und deren radioaktive Zerfallsprodukte wie Radium, Radon und Polonium befinden sich natürlicherweise in Eurem Körper. Auch ohne dass Ihr von der Strahlenmolke nascht. 

In dem Artikel über Fukushima schrieb ich: „Die Strahlenbelastung in Fukushima Stadt ging von 2,74 Mikrosievert nach dem Unfall auf heute normale Werte von 0,14 Mikrosievert zurück“. Damit bezog ich mich auf die Erdstrahlung (terrestrische Strahlung) und die Werte sind Stundenwerte. Dass ich versäumte, dies besser zu erklären, verärgerte einige Leser mit recht. Nun bin ich ein Kernenergetiker, der leider nicht auf Strahlenschutz spezialisiert ist. Daher habe ich dummerweise in meinem Artikel Werte angegeben, die zwar stimmen, die aber von Laien nicht ohne Umrechnung verglichen werden können. Nun die erweiterte Erklärung. Zum einfacheren Vergleichen gebe ich die Werte in Mikrosievert pro Stunde (μSv/h) und stark gerundete Zahlen an. 

Die jährliche Strahlenbelastung eines Menschen

Die Strahlung an der Messtation Odaka – 15 km vom Kernkraftwerk Fukushima Daiichi entfernt und typisch für die wieder zum Heimkehren freigegebenen Bereiche – beträgt 0,14 μSv/h. Das liegt leicht über dem normalen Strahlungsniveau von z.B. New York, ist aber etwas niedriger als in Rom und deutlich niedriger als in einigen Gebirgsregionen Deutschlands. 

Die jährliche Strahlenbelastung eines Menschen setzt sich verschiedensten Beiträgen zusammen und man betrachtet die jährlichen Belastungswerte. Deshalb ist es sinnvoll, diese Werte in Millisievert pro Jahr anzugeben, was ich im Folgenden auch tue. Strahlenbelastung durch verschiedene Strahlungsquellen als Durchschnittswert in Millisievert pro Jahr (mSV/a): 

  • Terrestrisch (Gestein, Erde, …): 0,35
  • Innere Strahlung im Körper durch Aufnahme (Luft, Nahrung…): 0,35
  • Kosmische Strahlung: 0,40
  • Medizinische Anwendungen: 1,2
  • Radon (natürliches radioaktives Edelgas, das aus den Tiefen der Erde in die Wohnräume eindringt):  3,2
  • Technische Strahlenquellen im Alltag: 0,1
  • Umgebung von KKW im Normalbetrieb: 0,001 – 0,005

Der Durchschnittswert der Strahlenbelastung für einen normalen Bundesbürger beträgt ungefähr 5 Millisievert pro Jahr. Dieser Wert kann heftig variieren, je nachdem wo man wohnt, ob in Hannover – dann ist sie niedriger, oder im Schwarzwald – dann kann er höher sein. Die Strahlenbelastung hängt allerdings viel mehr davon ab, wie unser Wohnhaus oder unsere Arbeitsstätte gebaut sind. Radon sammelt sich nun mal gern im schlecht belüfteten Keller oder in der dauerumgewälzten Luft eines Niedrigenergiehauses an.

Unsere Strahlenbelastung hängt auch davon ab, ob wir Vielflieger sind und uns oft der kosmischen Strahlung in 10 km Höhe aussetzen – wir fassen so um 50 μSv für einen einfachen Flug von Tokio nach New York ab. Es hängt auch davon ab, wie der Gesundheitszustand ist: Brauchen wir viele Röntgenaufnahmen oder gar Ganzkörpertomographien (CT). Es hängt sogar davon ab, was wir so essen.  Im indischen Bundesstaat Kerala beispielsweise, wo das Gestein besonders viel radioaktives Thorium enthält, liegt die Aktivität in Kartoffeln rund 30-mal höher als bei uns. Man kann getrost davon ausgehen, dass auch bei uns eine Kartoffel im Gebirge etwas mehr strahlt als eine aus der norddeutschen Tiefebene. Nichts kann man besser messen als Strahlung. Und für die MINT-Abwähler: ein Becquerel ist ein radioaktiver Zerfall. 

Ein Kurort am kaspischen Meer

Das alles ist extrem unkritisch für die Gesundheit und das Erbgut. In anderen Weltgegenden ist allein schon die natürliche Strahlung aus dem Boden viel höher, so zum Beispiel in Cornwall, England (7,8 mSv pro Jahr). Besonders hohe Werte wurden wegen der hohen Konzentration von natürlichem Thorium oder Uran im Erdboden in Brasilien (Badestrand von Guarapari) und in Indien, im Bundesstaat Kerala gemessen.

Weltweit führend in Sachen terrestrische Strahlenbelastung ist ironischerweise ein Kurort: Ramsar am Kaspischen Meer im Iran bringt es auf über 200 mSv/a. Nochmal zum Erinnern, bei uns sind es 0,35mSv/a. Die in Ramsar gemessenen Werte sind deutlich höher als die Strahlendosen im Großteil der gesperrten Gebiete, die nach dem Kernkraftwerksunfall in Fukushima 2011 evakuiert wurden und die bis heute für das Wohnen gesperrt sind. Und das Erstaunliche daran ist: In den genannten Regionen, auch in Ramsar, gibt es keine Hinweise auf erhöhte strahlenbedingte gesundheitliche Probleme in der Bevölkerung. Dort leben seit Jahrhunderten Menschen, keine Monster, kein Siechtod. 

Nicht nur den Laien fällt die gesundheitliche Bewertung von Strahlenbelastung schwer. Es ist frappierend, wie wenig manche Mediziner Bescheid wissen, was sie den Patienten so an Strahlung verabreichen. Fragen Sie mal bei nächster Gelegenheit Ihren Arzt, wieviel Strahlung Sie bei der Röntgenaufnahme abbekommen? Er wird wahrscheinlich sagen: „Nicht viel“. Kaum ein Arzt weiß genau, was bei einer Röntgenaufnahme oder einer CT appliziert wird. Zur Orientierung: es sind so 5-10 μSv für einmaliges Zahnröntgen. Aber – 12.000 Computertomografien werden in Deutschland pro Jahr durchgeführt.  Bei einer Ganzkörper-CT werden zwischen 1.000 μSv und 10.000 μSv verabreicht. Dafür können Sie bis zu 200-mal nach Tokio fliegen.

Eine Anekdote zeigt, wie irrational unsere ganze Strahlendiskussion ist. Ich hatte mir mal einen Stressbruch im Unterschenkel vom falschen Joggen zugezogen. Der war schmerzhaft und schwer zu lokalisieren. Nach diversem Röntgen sollte er mit Hilfe einer Technetium99-Injektion untersucht werden. Die Technetiumlösung wird künstlich in einem Reaktor hergestellt. Die Halbwertszeit von Technetium beträgt etwa 6 Stunden. Technetium ist ein hochenergetischer Gammastrahler. 

„Wieviel spritzen Sie mir denn da an Radioaktivität?“

Der Doktor im Hospital, zu dem ich gehumpelt war, zog eine angstmachende Pferdespritze auf. Ich fragte ihn: „Wieviel spritzen Sie mir denn da an Radioaktivität?“ Die Antwort: „Nicht viel, keine Sorge“. Als ich insistierte, musste er auf dem Merkblatt nachsehen und sagte dann ganz baff: „Oha, das sind 780 Megabecquerel“.

780 Millionen Becquerel – das ist gefühlt mehr als die flüssige Radionuklidabgabe eines großen KKW pro Jahr – intravenös injiziert. Erinnert sich noch jemand an die Strahlenmolke mit 5.800 Bq? Es gab mal einen Riesenbohei um 30.000 Becquerel Hot Spots an Transportbehältern, die Transporte wurden danach eingestellt. Irgendein Fachidiot hatte den Grenzwert für die Transporte auf 4 Bequerel definiert, einen Wert, den man auf mancher Straße finden könnte – wenn man einen Wischtest machte. Wäre ich nach meiner Technetium-Injektion in ein Kernkraftwerk gegangen, hätten die Strahlenmonitore aus mehreren Metern Entfernung Großalarm geschlagen. Der nette Doktor hatte mich in eine wandelnde Strahlenquelle verwandelt. Ich vermied folgerichtig, meine Liebste in den nächsten 12 Stunden in die Arme zu schließen. Dann war alles wieder gut und das Technetium in meinem Blut war stark abgeklungen.

Der Doktor im Krankenhaus nahm die Ampulle übrigens aus einer Holzschachtel, in der noch weitere Ampullen lagen. Ich habe zum Antransport dieser Schachtel vor dem Krankenhaus keinen Castortransport gesehen, sondern da war ein kleiner weißer Lieferwagen mit einem Kurierfahrer, der nicht mal wusste, was in dem Päckchen ist, das er da brachte. 

Zusammengefasst möchte ich provokant aussagen, dass man vor niedriger Strahlenexposition – so bis 250 Millisievert pro Jahr – keinerlei Angst zu haben braucht. Hier sind eher positive medizinische Wirkungen zu erwarten – siehe die beliebten Radonbadeorte. Also, liebe Leser, keine Sorge, der Strahlentod wird Sie NICHT ereilen. Auch nicht im Radonbad. Der Prospekt des Radonbades in Menzenschwand (Schwarzwald) sagt:

Zwei Quellen vom nahen Bachtal versorgen die Therme mit fluoridhaltigem Heilwasser (32°C. bis 37°C.) sowie das radonhaltige Heilwasser, das ausschließlich im Therapiebereich eingesetzt wird. Die Radontherapie wird seit vielen Jahren erfolgreich bei rheumatischen Erkrankungen und chronischen Schmerzen angewendet. Der örtliche Kurarzt verordnet die Radontherapie in Einzelwannenbädern“

Das ist schon lustig: „radonhaltiges Heilwasser“ – in Deutschland, dem einzigen Land der Welt, wo es gute und schlechte Radioaktivität  und Grenzwerte ohne Untergrenzen gibt. Im Radonbad müssen Deutsche sogar noch für zusätzliche Strahlenbelastung blechen. Und sie tun es seit hunderten von Jahren gern. 

 

Manfred Haferburg ist Autor des Romans „Wohn-Haft“. Der Roman beschreibt auf spannende Weise den aussichtslosen Kampf eines Einzelnen gegen ein übermächtiges politisches System. Ein Kampf, der in den Schreckensgefängnissen des sozialistischen Lagers endet. Ein Kampf, in dem am Ende die Liebe siegt. Wolf Biermann schrieb dazu ein ergreifendes Vorwort. Der 524 Seiten Roman ist als Hardcover zum Verschenken für 32 €, als E-Book für 23,99 € und als Taschenbuch für 20 Euro erhältlich. (Amazon 36 Kundenbewertungen : 4,5 von 5 Sternen)

Foto: Pixabay

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Hartmut Runge / 18.03.2019

Zitat Manager-Magazin (2011) : “Finanzmathematiker haben erstmals errechnet, wie teuer eine Haftpflichtpolice für ein Atomkraftwerk wäre - 72 Milliarden Euro jährlich. Praktisch sind die Meiler also nicht zu versichern. Es sei denn, der Strompreis kletterte auf das Zwanzigfache.” Was sind eigentlich die Argumente von Herrn Haferburg? Dass Fukushima doch nicht so schlimm war, wie Tschernobyl? Warum verschweigt der Lobbyist, dass der Betreiber von Tepco (Fukushima) Staatshilfe beantragen musste, weil er die Folgekosten (geschätzt werden 80 Milliarden) des offenbar doch nur minderschweren Unfalls nicht tragen kann? Derzeit ist die Haftpflicht eines AKW in Deutschland (lt. Manager-Magazin) auf 250 Mio begrenzt. Das würde nicht einmal reichen, ein Viertel des erneuerten Sarkophags in Tschernobyl zu finanzieren. Wolfgang Renneberg, einst Deutschlands oberster Atomaufseher, meint zum Thema: “Wenn man die Entsorgungskosten in den Kosten der Kernenergie und den Preisen für Strom aus Kernkraftwerken vollständig berücksichtigen würde, und wenn die Kernkraftwerke eine realistische Haftpflichtversicherung für Unfälle abschließen müssten, würde sich Kernkraft schon lange nicht mehr rechnen.” Nicht, dass ich allen alles glauben müsste, aber ist Herr Haferburg tatsächlich der einzige Sachverständige? Und warum prognostiziert eine Studie der Carnegie Mellon Universität für die USA aus rein ökonomischer Sicht keine Zukunft für die AKWs? Fragen über Fragen, die für Herrn Haferburg offenbar keine Rolle spielen.

bernd hoenig / 18.03.2019

Danke für mehr/bessere Aufklärung, hier in Japan sehens die Leute eh pragmatisch, in Puncto Nuklearmedizin wüdre hier niemand zurückschrecken. In der letzten Parlamentswahl bekam Abe, der versprochen hat, die Kernkraft wieder zu einer maßgeblichen Energiequelle zu machen, eine absolute Mehrheit. In den Nachwirkungen der Fukushima-Dai’ichi-Katastrophe existiert für die Bekanntgabe radioaktiver Werte im Internet eine Website, auf der sich die Interessierten informieren können (und die seit jeher außerhalb der Gebiete direkt um das vom Tsunami demolierte Kernkraftwerk keine lebensbedrohliche Radioaktivität anzeigt). Den Todesopfern der Naturkatastrophe wird in ihren Familien gedacht, doch das Desaster um die Kernreaktoren ist allgemein im japanischen Alltag kaum mehr präsent. Auf privaten Blogs kursiert die Behauptung, dass die Rate an Früherkennungen von Schilddrüsenkrebs bei Kindern der Präfektur Fukushima und im Großraum Tokyo angestiegen sei, doch ein auf dieses Gerücht hin befragtes Komitee vom Fukushima Health Management Survey gab die Antwort, dass dieses Ergebnis auf umstrittene Testreihen zurückzuführen sei. Das Ministry for Health, Labour and Welfare berichtet auf seiner Website über die möglichst lückenlose, gesundheitliche Überwachung der seit der Katastrophe tätigen Arbeiter vor Ort in Fukushima Daiichi - keine Todesopfer zu beklagen soweit. Befragt man die Surfer an der östlichen Küste, in benachbarten Präfekturen (Ibaraki, Chiba, Kanagawa), zucken diese mit den Schultern und schmunzeln eher über die Vorstellung von z.B. verstrahlten Pazifik-Küsten (“Oh, mein Guter, halten sie sich mal die Größe des Pazifik vor Augen ...”).

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