Um rechtsstaatliche Gesetzlichkeit durchzusetzen, bräuchte Deutschland viermal so viel Haftplätze wie vorhanden. Eine einfache Rechnung zeigt einen dysfunktionalen Rechtsstaat, den unsere Politiker gerne dann vehement verteidigen, wenn es um das Zurückholen schon Abgeschobener geht. Was nützen Gesetze, Polizei und Justiz, wenn man am Ende sogar kriminelle Gauner laufen lassen muss, weil im Kittchen keine Zellen frei sind? Schon 2016 schlug die Süddeutsche Alarm: „In 202 Fällen von Mord und Totschlag sind die Täter allein in Bayern auf freiem Fuß“. Und nicht nur die Knäste sind überlastet, auch die Justiz kriecht wegen permanenter Überlastung auf dem Zahnfleisch.
Die Medien berichten, dass es derzeit in Deutschland ca. 300.000 offene Haftbefehle gibt. 126.000 davon sind abgetauchte „Ausreisepflichtige“ – mich würde interessieren: Tauchen die beim Taschengeldabholen nicht wieder auf? Die übrigen Fahndungen zur Festnahme betreffen laut BKA vor allem Straftäter und entwichene Strafgefangene. Da kann ich mir die Frage nicht verkneifen: Sind unter den entwichenen Strafgefangenen etwa auch geflüchtete Geflüchtete? Schließlich sind in einigen Bundesländern fast 50 Prozent der Einsitzenden Ausländer.
Ende 2017 saßen bundesweit 64.351 Menschen in Haft, zehn Prozent mehr als 2012 (58.073). Die Kriminalstatistik sinkt immer weiter, und die Knäste werden immer voller – ein interessantes Paradox. Wenn das stimmt, wer sitzt denn da eigentlich ein – lauter Unschuldslämmer und zusätzlich ein paar GEZ-Verweigerer?
Schon bei einer Auslastung zwischen 85 und 90 Prozent sprechen Fachleute von der Vollbelegung einer Strafvollzugsanstalt. Es kann immer ja immer mal vorkommen, dass Teile einer Anstalt gesperrt werden müssen. Die realen Belegungen der Haftanstalten sind so um 100 Prozent, das heißt, es gibt praktisch keine freien Betten im Kaschott. Und die Politiker überbieten sich gegenseitig mit Forderungen nach Verbesserung, so als wären sie als Regierende nicht dafür verantwortlich.
In den neuen Bundesländern ist noch ein bisschen Platz
Nur in den neuen Bundesländern ist noch ein bisschen Platz in den Gefängnissen. Zieht da jetzt womöglich das Argument, dass da ja auch gar nicht so viele Ausländer sind? Die Vorsitzende der staatlich geförderten Internet-Zensuragentur, Anetta Kahane, alias IM „Victoria“, hielt schon 2015 die geringe Präsenz von Flüchtlingen in den Ostländern für ein großes Problem: „Im Osten gibt es gemessen an der Bevölkerung noch immer zu wenig Menschen, die sichtbar Minderheiten angehören, die zum Beispiel schwarz sind.“
Und nein, sie meinte nicht Schornsteinfeger und Leichenbestatter. Drei Jahre später, als ihr Wunsch höheren Ortes erhört wurde, warte ich auf den Streit im Bundesrat, wenn die rot-grün-getönten Bundesländer die Einstufung Sachsens als sicheres Herkunftsland ablehnen und dann Straftäter nicht dorthin verbracht werden dürfen. Auf jeden Fall wäre die Rückholung eines Delinquenten aus Dresden mit dem Zug möglich.
Sollte irgendein Gott Erbarmen mit der deutschen Polizei haben und ihnen alle per Haftbefehl Gesuchten ins Netz gehen lassen, dann müsste Vater Staat ein Gefängnis von der Größe Mannheims aus dem Boden stampfen. Schaffen wir das? Oder muss der Rechtsstaat die verhafteten Kriminellen wieder laufen und damit auf die Gesellschaft loslassen?
Überlässt es der Rechtsstaat dem Zufall, wer einsitzen muss, weil gerade mal in irgendeinem Knast ein Bett frei geworden ist, und gibt es schon Knast-Wartelisten? Wenn ja, wie lange ist denn die durchschnittliche Wartezeit auf den Haftantritt? Von rekordverdächtigen 2.228 Tagen wird berichtet, das sind sechs Jahre. Da ist noch Luft nach oben, die Wartezeit auf einen Trabbi betrug 18 Jahre und die Anmeldung war vererbbar. Wird die gerichtliche Haftantrittsaufforderung eines Tages auch mal vom kriminellen Opa auf den Enkel übergehen? Da soll noch einer sagen, es war alles schlecht in der DDR – in Hohenschönhausen war immer was frei.
Also frisch ans Werk, liebe Kriminelle, es gibt kein nennenswertes Risiko mehr, denn all die gemütlichen Hotels mit den schwedischen Gardinen sind komplett ausgebucht, trotz großzügiger Aufbettungen in allen Zimmern. Selbst wenn sie wollten, könnten die Richter gar nicht anders, als bei der Verhängung von Haftstrafen alle Augen einschließlich der Hühneraugen zuzudrücken. Auf den Gefängnisaufenthalt heißt es nämlich im Rechtsstaat warten lernen.
Manfred Haferburg ist Autor des Romans „Wohn-Haft“, der in den Gefängnissen des sozialistischen Lagers spielt und auf wahren Begebenheiten beruht. Das Vorwort schrieb Wolf Biermann.