Helmut Ortner, Gastautor / 19.02.2023 / 16:00 / Foto: Pixabay / 19 / Seite ausdrucken

Im Irrgarten deutschen Größenwahns

Der Historiker Götz Aly hat sich der Aufklärung der NS-Verbrechen verschrieben. Ein neues Buch versammelt seine wichtigsten Reden, Aufsätze und Vorträge der vergangenen Jahre. Eine lesenswerte Lektüre: aufklärend, klug und ­– aktuell.

Im Jahr 1948 warb das Waschmittel Persil mit einer Zeichentrick-Reklame, in der ein Marine-Matrose verdreckten Pinguinen die Bäuche wieder strahlend reinwäscht. Immer mehr Pinguine springen daraufhin an Bord und rufen im Chor ”PERSIL – PERSIL- PERSIL! “… Dabei recken sie die Flügel wie weit ausgestreckte Arme. Mit stolzgeschwellter Brust defilieren sie schließlich in Reih und Glied an Land, zu Marschmusik singend: „Ja, unsere weiße Weste verdanken wir PERSIL ... !“ Die Deutschen hatten ihren Humor also noch nicht verloren, oder schon wiedergefunden. In Fridolin Schleys Roman Die Verteidigung, in dem er die Ereignisse um den Nürnberger Wilhelmstraßen-Prozess in ein fesselndes Drama über Moral und Verantwortung verwandelt, taucht die Reklame-Versprechung für blütenweiße Wäsche kurz auf ­– als filmische Metapher, die veranschaulicht, wie die „Entnazifizierung“ schon frühzeitig funktionierte.  

Deutschland in den Nachkriegsjahren. Ein Volk mühte sich, das zu vergessen, was es verschwieg: seine Bereitschaft zur Teilnahme an einem System der Barbarei. Geschichts-Verleugnung und Geschichts-Umdeutung hatten Hochkonjunktur. So verlor sich der Schrecken und die Einzigartigkeit, den der Zivilisationsbruch des Holocaust und die Vernichtungskriege bedeuteten, im kollektiven Verdrängen und Vergessen. Der nationalsozialistische Wahn wurde zur austauscharen Metapher des Bösen, persönliche Schuld relativiert. Hitler allein sollte es gewesen sein, verantwortlich für das Verderben der Deutschen und ihre millionenfachen Verbrechen. Wenn nicht allein, dann allenfalls eine kleine verbrecherische Nazi-Elite und ihre fanatischen Getreuen. Im Nachkriegs-Deutschland wollten die einstigen Volksgenossen die „dunklen Jahre“ von ihrem eigenen Erleben und Mit-Tun abspalten. Eine bequeme Legende. So ließ sich persönliche Schuld gut entsorgen. Die Deutschen exkulpierten sich selbst. 

Der Berliner Zeithistoriker Götz Aly, geboren 1947, hat in der Vergangenheit zahlreiche wichtige, wegweisende Publikationen zur Sozialpolitik und zur Geschichte des Nationalsozialismus vorgelegt, darunter 2015 „Volk ohne Mitte“ (2015) sowie zwei Jahre zuvor „Die Belasteten –‚Euthanasie‘ 1939-1945. Eine Gesellschaftsgeschichte“. Im Februar 2017 erschien seine große Studie über die europäische Geschichte von Antisemitismus und Holocaust „Europa gegen die Juden 1880-1945“. Die Erforschung des Nationalsozialismus, des Holocaust und des Antisemitismus ist Alys Lebensthema. Es geht ihm in seinen Arbeiten darum, die NS-Vergangenheit nicht zu „bewältigen“, sondern zu vergegenwärtigen. Das zeigt sich auch in seinem gerade erschienenen Buch „Unser Nationalsozialismus“, das seine wichtigsten Reden und Vorträge versammelt (und in einem Anhang das umfangreiche Schaffen des Autors in einem Schriftenverzeichnis dokumentiert ).

Die Mörder und Schergen waren ganz normale Menschen

Götz Aly fragt, wie sich das einmal herbeigewählte und konstituierte Hitler-Deutschland mit atemberaubendem Tempo zu einer menschlichen Maschinerie des Zerstörens, Eroberns und Mordens entwickeln konnte, und warum so häufig die Rede von „den Tätern“ ist, wenn es um die NS-Verbrechen geht, von „der SS“ oder „den Nationalsozialisten“, wenn es um Hitlers Volks-Staat, also die große Volksgemein- und -genossenschaft geht. Waren es nicht Hunderttausende Deutsche, die aktiv Menschheitsverbrechen ungeheuren Ausmaßes begingen, und viele Millionen, die diese billigten, zumindest aber geschehen ließen? Wer begreifen möchte, warum so viele durchaus normale, moralisch gefestigt erscheinende Deutsche 1932 bis 1945 dem Programm der Nationalsozialisten folgten, der findet in diesen Zeit- und Lebensgeschichten erhellende Analysen, Beschreibungen und Anmerkungen.  

Nein, Hitler war nicht über die Deutschen gekommen, die Deutschen waren zu Hitler gekommen. Sie hatten ihn gewählt, verehrt und bejubelt. Die Verbrechen und Mordtaten haben keine Außerirdischen verbrochen, die Mörder und Schergen waren ganz normale Menschen und kamen aus allen Schichten der Bevölkerung. Aly benennt die vielfältigen Praktiken, die Schuld auf möglichst kleine Gruppen und Unpersonen abzuschieben – bis heute. Aly hält fest, dass die Täter von damals mit uns verwandt sind. Er weitet unseren Blick auf das Ganze, auf das gesamte Panorama nationalen Größenwahns und Barbarei. Auch wenn sich Ewig-Gestrige dagegen sperren: Es ist „Unser Nationalsozialismus“. 

Alys Reden und Aufsätze erinnern uns daran: Die Täter sterben aus – die Opfer und Zeitzeugen ebenfalls. Mit Blick auf die Gegenwart, in der persönliches Erinnern immer seltener wird, braucht es deshalb Wissen, wie „es geschehen konnte“, nicht nur die Bereitschaft zur Erinnerung, sondern die Pflicht des Erinnerns. Götz Alys gesammelte Reden können dabei nützlich sein.

Götz Aly: Unser Nationalsozialismus. Reden in der deutschen Gegenwart, 304 Seiten, 25 Euro.

Helmut Ortner hat bislang mehr als zwanzig Bücher, überwiegend politische Sachbücher und Biografien veröffentlicht. Seine Bücher wurden bislang in 14 Sprachen übersetzt.

Foto: Pixabay

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Leserpost

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Marcel Seiler / 19.02.2023

Meint der Autor, es fehle heute an Wissen? Oder meint er, man hätte statt der Entnazifizierung die gesamte deutsche Intelligenz 1945 einfach an die Wand stellen sollen? Oder meint er, erneut in Schuldgefühlen herumzurühren würde “uns alle” zu besseren Menschen machen? – Fehlen tun aufrichtige Ursachenanalysen. Für wesentliche Ursachen der NS-Zeit halte ich – neben Versailles und der Weltwirtschaftskrise – die vielen “idealistischen Strebungen” Deutschlands vor dem ersten Weltkrieg und in der Weimarer Zeit: Hier kann man sehen, wie “Idealismus” in Massenmord umschlagen kann. Das wird allerdings kaum thematisiert, würde es doch Klimakleber, Gleichheitsapostel und fanatisierte Weltenretter bald sehr bedenklich aussehen lassen.

Wolfgang Richter / 19.02.2023

“Aly hält fest, dass die Täter von damals mit uns verwandt sind. Er weitet unseren Blick auf das Ganze, auf das gesamte Panorama nationalen Größenwahns und Barbarei.” Derartige Verhaltensweisen scheinen Teil der menschlichen Natur zu sein, ggf. befeuert durch Mechanismen der Massenpsychologie. Und wenn aktuell niemand gewisse Tendenzen in der Ukraine sehen will, weil bezüglich dieses Krieges die Positionen von “gut” und “böse” von “oben” und medial verordnet klar definiert sind, scheint der Lerneffakt aus “Geschichte” eher gering. Aber ich vergaß, Geschichte ist ja ohnehin nur Sache von “alten weißen Männern” und völlig uncool.

Dirk Jungnickel / 19.02.2023

Ein wahrlich kompliziertes, aber wichtiges Thema. Dabei sollte man nicht vergessen, dass wir Deutschen uns sehr intensiv mit den Gräueln der Nazi - Zeit beschäftigt haben. Das wird im Ausland anerkannt, und wird z.T. sogar als übertrieben empfunden. Auch, weil dort ein solches Interesse an der Aufarbeitung von Staatsschuld nicht besteht. Und ein kollektives Verdrängen hat es in der Nachkriegszeit unter anderem aus “zeitgeschichtlicher Hygiene” gegeben, weil zunächst Hunger und Zerstörung überwunden werden mußten. Und nicht zu vergessen:  In der SBZ kamen die Deutschen letztlich vom Regen in die Traufe, weil sie dem NKWD / KGB - Terror der Sowjets ausgesetzt waren.  Noch heute ist vor allem in der ehem. Bundesrepublik vielen leider nicht einmal bekannt, dass die Sowjets Nazi - KZs wie Buchenwald und Sachsenhausen 1945 fast nahtlos weiter führten. Dort verschwanden Zehntausende und starben Tausende - wenig wirklich Schuldige und vor allem Unschuldige. Die Stelen (L. Rosh) am Brandenburger Tor haben für mich weder eine Gedenkwirkung und wohl kaum eine nachhaltige Wirkung auf Besucher aus dem Ausland.

sybille eden / 19.02.2023

Ja, und die Kinder und Enkel der Nationalsozialisten bescheren uns heute den grünen Sozialismus mit den ewigen Marxisten in ihrer Schleimspur !

Peter Fischer / 19.02.2023

Das alles ist korrekt beschrieben und bei der heutigen deutschen Gesellschaft, den heutigen Parteien, vor allem aber den heutigen Politkern und dem heutigen Wahlvolk kein Jota anders.  Alle wurden sie von Mehrheit der Wähler, zu denen mit Sicherheit auch die Mehrheit der Leser von “Achgut” gehört, verehrt, bejubelt und erwählt, sie wurden schlicht von der Wählermehrheit ermächtigt. Alles ganz normale Menschen, außer wenn es um die Folgen ihres Tuns, ihrer Wahlentscheidung geht, denn dann waren es auch heute “die anderen”, es waren die Parteien und Politiker die “über uns gekommen sind”, keineswegs die große Volksgemein - und Wählergenossenschaft. Peter

Bernd Naumann / 19.02.2023

Niemals hatte die NSDAP mehr als 45% der Wählerstimmen. 1933 konnten die Bürger und Wähler den Holocaust und die Vernichtungskriege nicht vorher sehen. Die SPD hatte sich als korrupter Selbstbedienungsladen entpuppt (in “Bauern, Bomben, Bonzen” hat dies H.Fallada gut beschrieben), die kommunistischen Schlägertrupps verbreiteten Angst und Schrecken und nach 1933 bedeutete Widerstand faktisch Lebensgefahr, von Jahr zu Jahr wurden die Repressionen und die Überwachung dichter. Anna Seghers hat dies in “Das siebte Kreuz” beschrieben. Es gibt Grund zur Annahme, dass die Progrome 1938 gegen die Juden auch der Einschüchterung der bürgerlichen, nicht nazistischen Deutschen diente. B. Brecht nannte in seiner “Kriegsfibel” Deutschland als das erste von den Nazis unterjochte Land. So einfach und schwarzweiß, wie Herr Ortner dies beschreibt, war es halt nicht. Und die Menschen waren damals nicht anders als heute. Eine lautstarke, mächtige Minderheit ,bereit zu Denunziation, Machtausübung und Vernichtung anderer, die Masse lange Zeit desinteressiert und mitlaufend und nur wenig Widerständige.  Selbst wenn die Deutschen zu Hitler 1933 tatsächlich gekommen sind, es war nach 1933, erst recht nach 1938, nicht mehr möglich, sich zum Widerstand zu organisieren. Insofern ist auch der Kollektivvorwurf, die Deutschen hätten “weggeschaut”, m.E. nicht zutreffend. Mich hat das Thema Holocaust seit meiner Kindheit beschäftigt, ich sehe die Bilder der ermordeten Menschen, kleine Kinder, und ich hielt es für unbegreiflich. In den letzten Jahren habe ich allerdings eine Ahnung bekommen, wie es funktionierte. Juden wurden faktisch vogelfrei gestellt, das Lumpenpack dufte sich moralisch erhaben und staatstreu fühlen, wenn es gegen Juden hetzte, diese denunzierte und ermordete. Nichtsdestotrotz geschahen die Verbrechen in deutschem Namen, es ist unsere Verantwortung, Juden und Israel bedingungslos zu schützen und zu unterstützen. Gott schütze Israel.

Hannelore Wolf / 19.02.2023

Selbst die Russen haben nach dem Krieg unterschieden zwischen den Nazis und der Bevölkerung. Gehen wir wieder ganz zum Anfang? Haften auch alle Chinesen für die millionenfachen Morde Maos?

Peter Holschke / 19.02.2023

Tja die Entnazifizierung ist fehl geschlagen, insofern hat sich der Ungeist vererbt. Das Kernproblem der Deutschen ist, dass sie nie begriffen haben, dass sie selbst zu Opfer des Systems geworden sind und daran zu aller Schande mitgewirkt haben. Sie haben für ihren Untergang gekämpft und nicht dagegen.

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