Das Schöne am Kapitalismus ist ja, dass sich Geld immer einen Weg sucht. So ging ich jetzt im Dezember (noch vor 21 Uhr), mitten im bayerischen Lockdown, durch den Stadtpark zu meinem Auto, als ich hinter mir einen leises „Psst“ hörte. Nun ist „Psst“ normalerweise keine Ansprache, auf die ich reagiere, aber vielleicht war es der Duft von Glühwein, der mich umdrehen ließ.
Vor, beziehungsweise soeben noch hinter mir, stand ein junger, unrasierter Mann in einem schwarzen Hoodie, dessen Kapuze er über den Kopf und tief in die Stirn gezogen hatte. „Willst Du Glühwein?“, fragte er halblaut. Es ist Dezember, es ist kurz vor Weihnachten. „Glühwein? Hast Du welchen?“, vergewisserte ich mich, nicht sicher, richtig gehört zu haben. Der junge Mann drehte sich kurz nach links und rechts um. „Echten Nürnberger Christkindlesmarkt. Und wenn es sein muss, auch noch mit Erdbeer- und Brombeergeschmack.“, bestätigte er mich und winkte mir mit einer kurzen Handbewegung. „Komm mit“, forderte er mich auf.
Ich folgte ihm auf einem Seitenarm des Stadtparks, der, so wusste ich, auf eine tiefere Ebene des ehemaligen Stadtmauergrabens, vorbei an einem Wehrturm, in Richtung eines kleinen Teichs führte. Schwer einsehbar die Stelle. Wie geschaffen für Gelichter aller Art. Natürlich war mir etwas mulmig, ich bin erst zweimal im Leben mehr versehentlich an einen Joint geraten, und wenn ich mich tatsächlich für Drogen interessiert hätte, dann hätte ich nicht gewusst, an wen am Bahnhof ich mich hätte wenden müssen. Aber derart proaktiv war ich auch noch nicht angegangen worden. Andererseits lebt ein Drogendealer ja auch von dem guten Ruf innerhalb seiner Kundschaft, und wenn sein Stoff in Ordnung war – dann konnte er ja sicher sein, dass ich wiederkomme. Ich bin ja alt und damit grundsätzlich markentreu. Daher ging ich guten Vertrauens mit.
„Gibt es hier auch Silvesterkracher?“
Kurz darauf stand ich am Teich in der Drogenhölle und traute meinen Augen nicht: An den drei Glühweinkesseln stand tatsächlich mein Friseur. „Sie hier?“, fragte ich ehrlich überrascht. „Ja, Guten Tag, Herr Schneider, ja, komisch, gell? Aber was will ich machen? Wir haben Lockdown und ich muss ja trotzdem irgendwie über die Runden kommen, ich habe ja auch eine Familie zu ernähren …“, erklärte er hastig und wortreich. „Ja, aber Sie könnten doch illegal Haare schneiden, statt hier illegal Glühwein zu verkaufen …“, schlug ich vor. Er sah mich an wie eine Mutter ihr dümmstes von vier Kindern. „Ach, Herr Schneider … auf illegales Haareschneiden kommt die Polizei bei mir doch als erstes. Die haben schon letzte Woche meinen Hobbykeller gefilzt …“, erläuterte er weiter. „Und? Haben sie Sie erwischt?“ Er grinste verschmitzt: „Nein, in meinem Hobbykeller habe ich das Tattoo-Studio eines Freundes stehen, der wiederum in seiner Garage meine Berufsaccessoires hat. Die Zeiten sind hart …“
„Und der Glühwein ist richtig gut und echt?“, wandte ich mich dem Grund meines Hierseins wieder zu. „Na klar. Großes Ehrenwort. Vorgestern war einer hier, der hat ihn mit Wasser gestreckt, bis er wie Kinderpunsch war, aber meine Kollegen und ich …“, er faltete die Hände nach außen und knackte mit den Fingern, „… haben das unterbunden. Das hat etwas mit Ehre zu tun. Kein gestreckter Stoff. Außerdem haben wir hier nur ehrliche Leute – sehen Sie sich um …“
Und tatsächlich. Um den Teich herum verkaufte mein Banker Christbaumkugeln und Lametta, und die beiden Mitarbeiterinnen meiner Steuerberaterin ratschten an einem Stand mit Crêpes. Schräg gegenüber saß die Gattin meines Hausarztes über selbst gebackenem Christstollen und Plätzchen, die die Tüte Kokosmakronen („nach Mutters Rezept“) für schlappe 15 Euro an die Weihnachtssüchtigen vertickte. Ich war in einen regelrechten illegalen Weihnachtsmarkt geraten. „Gibt es hier auch Silvesterkracher?“, fragte ich meinen haareschneidenden Glühweindealer.
„Verdammte Egoisten“
„Die hatte die Lateinlehrerin des hummernistischen Anna-Gallina-Gymnasiums, bis die Tschetschenen das übernommen haben. Seitdem hat man sie nicht mehr gesehen und man munkelt …“, er zeigte auf das pechschwarze Wasser des Teiches, das heimelig die Weihnachtsbeleuchtung spiegelte, „… dass sie sozusagen baden gegangen ist ...“ Und tatsächlich sah ich jetzt auch zwei zwielichtige Typen, ganz hinten, hinter dem Stand mit dem Weihnachtsschmuck, die mit grimmigen Gesichtern eine ziemlich große Plastiktüte bewachten und diese plötzlich schnappten und sich hektisch in die Büsche schlugen.
„Halt, stehenbleiben“, brüllte eine Stimme, und ungefähr zwanzig Polizisten stürmten das Kriminellennest von Weihnachtsdealern. Mein Friseur versuchte, durch das angrenzende Dickicht zu fliehen, wurde jedoch von gleich zwei Polizisten angesprungen, die ihn zu Boden warfen und seine Hände mit Kabelbindern fixierten. Unter dem Schlachtruf „verdammte Weihnachtsmarktgänger“ erhielt ich einen Stoß in den Rücken und fiel auf den feuchten Schotter des Gehwegs. Ich sah, wie einer Seniorin, die offenbar ebenfalls Kundin hier war, der Rollator weggetreten wurde, wodurch sie neben mir herniedersank. „Ihr Bullenschweine“, keuchte ich, während ein gefühlt 200 Kilo schwerer Polizist auf meinem Rücken kniete und mir die Hände nach hinten riss.
Von irgendwo hörte ich das Böllern der illegalen Silvesterknaller, es können auch Schüsse gewesen sein. Mir wurde plötzlich warm im Schritt. Ein Polizist hatte den Brombeerglühwein umgetreten, der sich nun unter meinen Hosenbeinen verbreitete, eine weitere Lache Glühwein kroch unter mein Gesicht. Es roch nach Alkohol, Zimt und Vanille, als zwei andere Polizisten den Plätzchenstand meiner Hausarztgattin anzündeten. „Wir kriegen Euch! Immer!", brüllte ein etwas bulligerer Staatsdiener, offensichtlich der Anführer der Staatsschergen, und aus dem Augenwinkel sah ich weitere Polizisten, die sich die Jackentaschen mit Lebkuchen und gebrannten Mandeln füllten.
Der Revolutionär in mir war erwacht: „Ihr hindert uns nicht, Ihr hindert uns nicht, oh Du Fröhliche“, brüllte ich, noch am Boden liegend, aber mein Angreifer zerrte mich zuerst auf die Knie und dann auf die Füße und verpasste mir einen Faustschlag ins Gesicht. „Verdammte Egoisten“, brüllte er mich durch seine Maske an, und ich schwöre, hätte ich sie nicht aufgehabt, dann hätte ich seinen Speichel im Gesicht gehabt. „Meine Oma ist 96! Willst Du, dass sie wegen Dir stirbt, Du Weihnachtsschwein?“, erklärte er seinen überharten Einsatz und ich versuchte, durch meinen mit Blut und Glühwein getränkten Mundschutz den Schmerz wegzuatmen.
So aber führte uns die Staatsgewalt durch den Parkweg nach oben, während wir Verhafteten alle gemeinsam trotzig „Stille Nacht, heilige Nacht“ durch unsere Masken sangen. Sie mögen uns unsere Freiheit nehmen – unsere Weihnachtsstimmung nehmen sie uns nicht!
(Weitere kriminell gute Artikel des Autors auch unter www.politticker.de)
Von Thilo Schneider ist soeben in der Achgut-Edition erschienen: The Dark Side of the Mittelschicht, Achgut-Edition, 224 Seiten, 22 Euro.