Gastautor / 25.11.2013 / 16:23 / 1 / Seite ausdrucken

“Ihr habt den ganzen Irrsinn nicht gemerkt?”

Marko Martin

Mitte der Achtzigerjahre galt die ostdeutsche Schriftstellerin Christa Wolf sogar als Kandidatin für den Literaturnobelpreis – den DDR-Nationalpreis und den bundesdeutschen Georg-Büchner-Preis hatte sie da schon. “Kassandra”, ihr international berühmtestes Buch, war erschienen und wurde im Westen als eine Zivilisationskritik von Graden gefeiert, während die Leser im Osten vor allem nach regimekritischen “Stellen” forschten. Zu diesem Zeitpunkt war Christa Wolfs Enkelin Jana Simon gerade in der Pubertät und hatte anderes zu tun, als die Bücher ihrer Großmutter zu lesen, obwohl sie eine mit persönlichen Widmungstexten versehene Gesamtausgabe unter dem Weihnachtsbaum fand. “Zu Hause wuchtete ich die elf Bände in mein Regal, und dort blieben sie. Ab und an zog ich eines der Bücher heraus, wog es in meiner Hand, und manchmal las ich es auch. Am meisten berührten mich diese kleinen Texte. Ich empfand sie als Angebot meiner Großeltern, mir etwas über sich zu erzählen, auch wenn ich das in jener Zeit noch nicht zu schätzen wusste.” Im Sommer 1998 ist es schließlich im Wintergarten in Berlin-Pankow so weit: “Meine Großeltern sind fast siebzig, ich bin 25. Gerade habe ich begonnen, als Journalistin zu arbeiten. Das Aufnahmegerät liegt vor mir …”

Das letzte dieser Gespräche führt Jana Simon mit ihrem Großvater Gerhard Wolf im Sommer 2012 – ein halbes Jahr nach Christa Wolfs Tod. Die unaufgeregte Genauigkeit, die schon Simons Reportagen auszeichneten, kommt nun auch diesem unter dem Titel “Sei dennoch unverzagt” erschienenen Gesprächsband zugute. Das frappiert – vor allem im Kontrast zum einst so ehrfürchtig bestaunten Christa-Wolf-Sound. Die Autorin nämlich, die ihre Protagonistin Christa T. jenes verheißungsvoll aufbegehrende “Wann, wenn nicht jetzt” sagen ließ und in der im Wendejahr 1990 erschienenen Erzählung “Was bleibt” von jener Sprache raunte, die “sie schon im Ohr, noch nicht auf der Zunge” habe, flutscht auch im Enkelgespräch häufig ins Exaltierte. Bereits den Erinnerungen an die eigene, die NS- und Kriegskindheit (“Ich wollte mich für etwas begeistern, an etwas glauben”) folgt die Dramatisierung: “Warum brach ich zusammen, als ich von der Judenvernichtung erfuhr?” Worauf ihr Mann Gerhard fragt: “Was heißt, du brachst zusammen? Das ist mir immer ein bisschen zu viel!” Danach wird weiter geredet, während die Enkelin notiert: “Die Frage nach ihrem Zusammenbruch, als sie von den Verbrechen der Nazis erfuhr, bleibt unbeantwortet.”

Was hier unspektakulär erscheint, ließe sich auch als lebensweltliche Fußnote zu jenem “Literaturstreit um Christa Wolf” lesen, als mit dem Ende der DDR auch der bisherige Nimbus der Schriftstellerin infrage gestellt wurde. Damals hatten sich Frank Schirrmacher und Ulrich Greiner gegen ihren hohen und doch konsequenzlosen Ankündigungston gewandt, da er mehr suggeriere und vernebele als erhelle. Als Christa Wolf als blutjunge SED-Genossin bei der Volkskammerwahl 1950 die Abwesenheit schützender Wahlkabinen bemerkt, ist sie “völlig irritiert”. Als nach dem Arbeiteraufstand vom 17. Juni jede öffentliche Diskussion verboten wird: “Das war ein weiterer Punkt, an dem ich dachte: Das geht nicht!” Im Jahre 1963 (Gerhard Wolf: “Christa wurde überredet, ins Zentralkomitee der SED zu gehen”, Jana Simon: “Wer hat dich überredet, Oma?”) rechnet die Partei mit unbotmäßigen Künstlern ab, verbietet Bücher und Filme. Auf jenem berüchtigten 11. ZK-Plenum ist dann Christa Wolf die Einzige, die den Tiraden der Funktionäre widerspricht – mutig, mit zitterndem Herzen, vor allem aber bemüht, klarzustellen, dass man doch weder kritisch noch “bürgerlich” sei. Danach wird sie von Anna Seghers ins Ostasiatische Museum geführt und anhand der Exponate getröstet: “Guck doch mal, diese Leute durften nicht einmal Menschen darstellen und haben dennoch so schöne Sachen gemacht, Löwen, Pflanzen. Da geht’s uns doch aber besser!” Kurz darauf wurde Christa Wolf krank. “Ich bekam eine richtige Depression im klinischen Sinne. Im Regierungskrankenhaus (sic!) gab es einen klugen Psychiater, der mit meiner Kritik am Ganzen einverstanden war. ... Danach kamen ein paar Vertreter des ZK mit einem Rosenstrauß ins Krankenhaus und wünschten mir alles Gute.”

Der heutige Leser ist angesichts dieser wohl ebenfalls nur mit klinischem Vokabular zu beschreibenden Zwänge und Schizophrenien so baff wie die nachfragende Enkelin. “Ihr habt den ganzen Irrsinn nicht gemerkt?”, will sie wissen, und es ist von durchaus berührender Altersfairness, wenn Christa Wolf an einer Stelle konzediert: “Das Denken der jungen Generation heute ist viel differenzierter und entwickelter als unser Denken zu der damaligen Zeit.” Was freilich die Großmutter nicht davon abhält, sogar die eigene Enkelin mit Halbwahrheiten zu beschummeln. Als in Prag die Sowjetpanzer rollten, hatte Christa Wolf im “Neuen Deutschland ” dies als eine “Übereinkunft” gelobt und mit Verweis auf den Vietnamkrieg jede Kritik an der Zerschlagung des Prager Frühlings abgebügelt. Drei Jahrzehnte danach zitiert sie lediglich den letzten, vage wabernden Satz ihrer Ergebenheitsadresse: “Ich hoffe, die Vernunft wird siegen.”

Nach der Biermann-Ausbürgerung 1976 ein ähnlich ambivalentes Muster: Christa Wolf protestiert, wird jedoch im Unterschied zu ihrem Mann nicht aus der Partei ausgeschlossen und schreibt ihren stilistisch makellosen “Kein Ort, nirgends”. Ironischerweise wird Christa Wolf gerade durch diese berufsbedingt normale Autoren-Egomanie – wo man sie schreiben lässt, da wird sie wohnen bleiben – beinahe sympathisch. Freilich ist auch dies nicht unverfälscht zu haben, und man fasst sich erneut an den Kopf, wenn – diesmal vom Ehemann – die neue Widerständigkeit so beschrieben wird: “Nach der Biermann-Sache erschienen wir nicht mehr im Schriftstellerverband. Wenn wir ein Visum … haben wollten, gingen wir gleich zum obersten Kulturbeauftragten der Partei, Kurt Hager.”

Nach 1989 wird sich herausstellen, dass Christa Wolfs für “Kassandra” so wichtiger Gewährsmann Thomas Nicolaou für die Stasi gearbeitet und die Wolf-Familie bespitzelt hatte. Fazit der Großmutter: “Andererseits haben wir ihm auch viel zu verdanken, etwa die Griechenlandreise. Und er hat treulich berichtet: Die sind auf Abwegen, aber trotzdem gute Genossen. Man solle uns nicht so schwer bestrafen.”

Im Rückblick sind es jedoch nicht etwa solche Geschehnisse und Gestalten, denen Christa Wolfs Zorn gilt. Nein, wer als Resümee dieses literarisch produktiven, intellektuell aber wohl verkorksten Lebens das Prädikat “Wen ich am meisten verabscheue” erhält, sind: Frank Schirrmacher und Ulrich Greiner! So scheint das um “die Bedingungen des Sagbaren und des weiblichen Schreibens” kreisende Werk aufs ostzonale Ressentiment reduziert. “Das heißt, ihr habt euren Kulturkreis nie verlassen”, sagt die Enkelin einmal.

Jana Simon: Sei dennoch unverzagt. Gespräche mit meinen Großeltern Christa und Gerhard Wolf. Ullstein, Berlin. 283 S., 19,99 €.

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Thierry Chervel / 25.11.2013

Nicht Frank Schirrmacher oder Ulrich Greiner haben nach der Wende die kritische Auseinandersetzung mit Wolf begonnen, sondern Arno Widmann in der taz. “Was bleibt” war zunächst in der Lettre International erschienen, aber vom offiziellen Feuilleton nicht beachtet worden.

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