Thilo Sarrazin / 26.02.2020 / 06:02 / Foto: Achgut.com / 134 / Seite ausdrucken

Ich, wir und die deutsche Geschichte

Es fügt sich so, dass ich in diesen Tagen 75 Jahre alt werde, so alt wie viele Gedenktage, die in diesem Jahr begangen werden. Natürlich wäre ich gerne einige Jahrzehnte jünger. Aber ich bin gesund und hatte das Glück, einer Alterskohorte anzugehören, die im westlichen Europa nur Frieden, Freiheit und stetig wachsenden Wohlstand kannte.

Ich wurde auf der Flucht in Gera bei Verwandten geboren. Am 27. Januar, 16 Tage vor meiner Geburt, war Auschwitz von russischen Truppen befreit worden. Einen Tag nach meiner Geburt, am 13. Februar, fand der große britische Luftangriff auf Dresden statt. Meine Mutter berichtete mir, dass man den nächtlichen Feuerschein im 120 km entfernten Gera sehen konnte. So ist der Tag meiner Geburt von schrecklichen Gedenktagen eingerahmt, und in meiner ganzen bewussten Lebenszeit folgte ein Jubiläum dieser Art dem anderen.

Das Tagebuch der Anne Frank las ich in der Grundschulzeit, und an meinem Gymnasium Petrinum in Recklinghausen gab es in Geschichte und Religion auch keine blinden Flecken des Erinnerns. Die fortwährende Erinnerung ist auch gut und richtig. Falsch finde ich eine Tendenz, dem jeweils Anderen Verdrängung vorzuwerfen und in eine Art Büßerwettbewerb einzutreten, aus dem man den Anspruch ableitet, auf Andere hinabzusehen.

Noch fälscher, ja geradezu gefährlich ist es, wenn man die Verbrechen des Nationalsozialismus und das Grauen des Zweiten Weltkriegs dazu benutzt, sich über Meinungen anderer, die einem nicht gefallen, moralisch zu erheben und einen großen Teil der Deutschen in die moralische Schmuddelecke zu stellen, nur weil sie anders wählen und auch nicht einsehen, weshalb sie kollektiv für Taten büßen sollen, die Andere weit vor ihrer Geburt begangen haben.

Weder Enkel noch Urenkel

Es war ein schlimmer und instinktloser Fehler, als Alexander Gauland 12 Jahre Nationalsozialismus als "Fliegenschiss" bezeichnete, und viele Äußerungen von Björn Höcke empfinde ich als dümmlich, peinlich und gefährlich. Das macht aus den beiden aber noch nicht Hitlers Enkel und Urenkel. Überzogene historische Vergleiche und schiefe Parallelen stumpfen ab. Sie sind sehr gefährlich, denn so verdunkelt sich die historische Wahrheit, und wenn man wirklich einmal warnen muss, hört keiner mehr zu.  

Als Thomas Kemmerich (FDP) mit den Stimmen der AfD zum Ministerpräsidenten in Thüringen gewählt wurde, setzte der Chefredakteur des ZDF, Peter Frey, in seinem Kommentar im Heute-Journal die AfD mit den Nazis gleich, indem er das KZ Buchenwald als Endstation einer falschen Politik anführte. Diese Art von Geschichtsklitterung wird in Ostdeutschland nicht vergessen werden. So werden die 25 Prozent Bürger, die AfD gewählt haben, öffentlich beschämt. 

Dadurch, dass die örtlichen Parteiführungen von CDU und FDP brutal unter das Joch der jeweiligen Bundespartei gebeugt wurden, ist beiden Parteien in Ostdeutschland ein dauerhafter nicht wiedergutzumachender Schaden entstanden. Für die CDU ist der Rücktritt von Annegret Kramp-Karrenbauer die Konsequenz daraus, aber er löst kein Problem: Wenn die CDU ihre Politik nicht grundlegend ändert, bleibt auch ihrem Nachfolger im Amt wenig anderes zu tun, als den Niedergang der Partei kommentierend zu begleiten.

„Deutsche, Ihr könnt stolz sein auf Euer Land“

Entscheidend ist der Umgang mit Widersprüchen: Im wirklichen Leben und in den menschlichen Gefühlen ist vieles miteinander verwoben, was man nicht gut voneinander trennen kann. So ist auch bei nachdenklichen Deutschen die Scham über deutsche Untaten, wenn sie z.B. Anne Frank lesen, verbunden mit dem Stolz über deutsche Leistungen und deutsche Kultur. Reife Nationen und reife Menschen entwickeln aus der Mischung von Distanz und Aneignung ein stabiles Identitätsgefühl, das auch Widersprüchliches vereinen kann. Der Druck zu ständiger Buße passt dazu allerdings nicht.

Die AfD konnte sich auch deshalb entfalten, weil andere Parteien die Sehnsucht nach einem ungestörten Nationalgefühl so nicht bedienen konnten oder wollten. Es wird nicht besser werden, wenn man diese Sehnsucht pauschal in die rechtsradikale oder gar rechtsextreme Ecke drängt. Das konnte z.B. die SPD früher besser. 1969 plakatierte sie im Bundestagswahlkampf großflächig mit "Deutsche, Ihr könnt stolz sein auf Euer Land".

Besonders beschämend finde ich, wie "Die Linke" die Hatz auf die AfD, bei der sie das Halali besonders laut schmettert, dazu benutzt, sich von ihrer moralischen Verantwortung für die zweite deutsche Diktatur reinzuwaschen. Mein Onkel kam in der DDR 1970 in Stasi-Haft. Er war ein renommierter Wissenschaftler, wollte aber nicht in die SED eintreten. In der Haft warf man ihm u.a. die Verbindungen zu mir vor, einem westdeutschen Studenten aus Bonn. Als er wieder freikam, hatte er seinen Beruf verloren und musste 20 Jahre lang bis 1990 als einfacher Landarbeiter arbeiten. Dann wurde er 1990, kurz vor der gesetzlichen Altersgrenze, rehabilitiert und konnte an sein altes Institut zurückkehren. Aber sein Leben als Wissenschaftler war vorbei.

Josef Stalin war genauso ein krimineller Großverbrecher wie Adolf Hitler. Der von ihm verschuldete Blutzoll ist vergleichbar. Walter Ulbricht und Erich Honecker waren zwar keine Stalins, aber sie haben vor ihm und seinen Nachfolgern gebuckelt und nach sowjetischem Vorbild ein auf Gewaltherrschaft beruhendes Unrechtsregime aufgebaut. "Die Linke" ist nach wie vor voll von Mitläufern und Tätern aus den siebziger und achtziger Jahren. Diese Leute trauern der damaligen Zeit nach. Sie wollen das Eigentum an den Produktionsmitteln abschaffen und zumindest zur sozialistischen Planwirtschaft zurückkehren. Jemand wie Bodo Ramelow leiht ihnen und dem Ungeist, den sie vertreten haben und teilweise weiter vertreten, seine Respektabilität. Das finde ich verwerflich.

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Klaus Lang / 26.02.2020

An all diejenigen, die meinen, Herrn Gauland für die Vogelschiss-Geschichte in Schutz nehmen zu müssen: Selbst wenn er damit “lediglich” ausdrücken wollte, dass 12 Jahre NS-Diktatur, Terror und Krieg im Vergleich zu 1.000 Jahren deutscher Geschichte nur eine relativ kleine Zeitspanne seien, war die Wortwahl an Dämlichkeit kaum zu überbieten. Vor allem, weil diese aufgrund ihrer Zweideutigkeit und Missverständlichkeit unvorstellbares Leid potenziell relativiert. Dass die Verwendung von Fäkalbegriffen im Rahmen einer seriösen Auseinandersetzung mit dem dunkelsten Kapitel der deutschen Geschichte (und das war es zweifelsohne!) grundsätzlich unangemessen ist und auf denjenigen zurückfällt, der sie verwendet, fällt da kaum noch ins Gewicht. Andererseits ist natürlich auch klar, dass wenn er sich gewählter ausgedrückt hätte; bspw.: “Deutsche Geschichte sollte nicht auf 12 Jahre nationalsozialistischer Diktatur reduziert werden”, es medial vermutlich unter den Tisch gefallen wäre. Bzw. - um in der Tierwelt zu bleiben - kein Hahn danach gekräht hätte.

Alexander Wildenhoff / 26.02.2020

Werter Herr Sarrazin, die besten Wünsche zum 75. Geburtstag. Ich teile Ihre Ansicht, dass ein funktionierendes Europa in Zukunft nur dann funktionieren kann, wenn sich die einzelnen Nationen auf Augenhöhe begegnen.  Es kann nicht sein, dass die Deutschen die nächsten Jahrhunderte die von Schuld geplagten Selbsthasser spielen   und auf Anne-Frank-Knopfdruck in die unsägliche Scheckbuch-Diplomatie verfallen. Oder noch schlimmer, als Überkompensation eine Hypermoral beim Klimaschutz betreiben.  Wenn wir es nicht schaffen,  ein selbstbewusstes und verantwortungsvolles Selbstwertgefühl aufzubauen, wird aus Europa nichts. Das heißt, auch da stimme ich Ihnen zu, dass wir die zwei Diktaturen, die wir zusammen mit den Ostdeutschen hinter uns gebracht haben, aufarbeiten.  Das steht der Nachfolge-Organisation der SED, der Linken, noch bevor.  Denn ein Rückfall in die Sprachregelung der DDR oder in die lingua tertii imperii wird unser Land zerstören.  Denn die sozialistische Metapher „Europa ist die Lösung“ funktioniert erst dann, wenn wir vorher unsere Hausaufgeben gemacht haben.

Margit Broetz / 26.02.2020

Danke, Herr Sarrazin! Ich lese Ihre Beiträge immer gern, auch wenn ich oft anderer Ansicht bin. Und vor diesem Ihren persönlichen Hintergrund wirkt die Behauptung des Herrn Maas, wegen Auschwitz in die Politik gegangen zu sein, dümmlich und erbärmlich, ja würdelos. Und ja, das gesellschaftliche Klimageschehen (!) ist derzeit auf einen Meinungskorridor reduziert, bei dem jeder, für den deutsche Geschichte mehr als zwölf Jahre dauerte, in den Ruch (!) des Rechten, wenn nicht Schlimmerem gerät. Herzliche Glückwunsche zum 75.!

Caroline Neufert / 26.02.2020

Meine Mutter wird in zwei Monaten auch 75; ihr würde es aber nicht im Traum einfallen, ihre Geburt in die Linie von Auschwitz, Dresden ... etc zu stellen. Es scheint in der SPD en vogue zu sein, seinen Lebenslauf mit Auschwitz zu verbinden ...  nur gelernt wird daraus nichts.

Jens Richter / 26.02.2020

Lieber Herr Sarazin, für Ihre AfD-Kritik wird man sie hier vierteilen, auch wenn alles andere natürlich sehr richtig ist. Wenn AfD-Politiker mit Metaphern auf Kriegsfuß stehen und sich ständig für ihre Wortwahl entschuldigen müssen, sollten sie nicht ans Mikrofon treten. Immer vorausgesetzt, es sind tatsächlich Lapsus, woran ich zweifle. Eher sind es Schmankerl für den strammen Rand. Der Vogelschiss lässt sich allerdings trefflich anwenden auf das Exkrement, das aus dem Flügel fällt.

HaJo Wolf / 26.02.2020

@ K.Weidner: ich bin bei Ihnen: Gaulands Wortwahl ist, vorsichtig formuliert, unglücklich. dennoch: er hat nicht Hitler oder die Nazizeit einen Vogelschiss genannt. Sei’s drum, entweder war es bewusste Provokation oder eine politische Dummheit. Keinesfalls jedoch ist eine solche Äußerung Berechtigung für Anti-AfD-Hetze, Angriffe auf AfD-Politiker und Verteufelung all jener, die nicht der linksgrünen Merkel-Meinung sind, als Rechtsradikale oder Nazis. Die Hexenjagd wegen des Vogelschiss hat sich inzwischen so verselbständigt, dass sogar ein Sarrazin - mit Fliege statt Vogel - einstimmt, und das finde ich nicht richtig. That’s all.

Hjalmar Kreutzer / 26.02.2020

Sehr geehrter Herr Sarrazin, zunächst einfach nachträglich die allerbesten Wünsche zum Geburtstag. Bleiben Sie möglichst gesund und der Achse und allen alternativen Informationsmedien bis hin zum Schweizer „Westfernsehen“ gewogen. Freundliche Grüße

Silas Loy / 26.02.2020

@ K. Weidner - Sie haben mit ihrer Replik das alles richtig erfasst und trotzdem gilt das freie Wort. Man kann diesen Ausdruck unangebracht finden, aber zum Skandal taugt er nicht. Als Hannah Arendt angesichts der Person Eichmanns von der “Banalität des Bösen” sprach, wurde sie dafür auch so unverhältnismässig ktitisiert, als hätte sie das Böse selbst banalisiert. Dabei hatte sie nur die Wahrheit gesagt. Ja, der ganze tausendjährige Vogelschiss war eigentlich banal.

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