Aus angeblicher Besorgnis um Europa geschieht so einiges, gerade aus den Reihen der SPD. Das deutsche Netzwerkdurchsetzungsgesetz des Heiko Maas – eben noch Gegenstand eines Brandbriefes der UN zur Meinungsfreiheit – droht, für die EU mit ihrer Expertenkommision gegen Internet-Propaganda zum Vorbild des Umgangs mit der Meinungsfreiheit in Europa zu werden.
Man – das heißt, auch die SPD – scheut sich dabei nicht, hinter die Grundgedanken der Französischen Revolution von der Gleichheit und die des Hambacher Fests von der Gedankenfreiheit zurückzufallen, ja, vor die der Aufklärung selbst. Wage es, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen? Das kann nun nach und nach ersetzt werden durch: Wage es nicht, dich anderer Argumente und Blickwinkel zu bedienen als jener der Regierenden!
Uraltes, wirklich autoritäres, und altes liberales Gedankengut werden so in einen Topf geworfen mit echter Desinformation und verquirlt zu einem Cocktail, der Abscheu vor „Rechts“ erzeugen soll – im Auftrag des neuen autoritären und neo-„liberalen“ Gedankenguts, das vor Falschmeldungen nur so strotzt und doch so unfehlbar vor ihnen sicher sein soll wie eine päpstliche Bulle.
Die politische Auseinandersetzung, den „Diskurs“, scheuen die neuen Autoritäten, auch die der SPD, dabei mehr als der Teufel das Weihwasser. Das offene Visier gibt es nicht mehr, die digitale Aufrüstung des Dogmas umso mehr. Ist es das hehre Ziel des Bevölkerungsschutzes vor Desinformation, geistige Eunuchen für das digitale Himmelreich zu erzeugen oder mündige Bürger, die der Desinformation die freie Information entgegensetzen können?
Ich gehe unter – gehst du mit?
Was waren das für Zeiten, als gerade die demokratische Linke noch in dieser Weise dialektisch geschult war, in These, Antithese und gegebenenfalls Synthese, gewiss auf ihrer eigenen, saftig ideologischen Grundlage, aber so, dass wenigstens die Antithese noch als existent und satisfaktionsfähig betrachtet wurde. Eine Diskussionsrunde – nicht „Talkshow“ – mit Rudi Dutschke und Matthias Walden sowieso, selbst ein eher historisches Statement von Franz Müntefering konnten beinahe ein intellektueller Hochgenuss sein. Früher häufige Spitzlichter, heute seltene Streiflichter im wöchentlichen Politpalaver.
Was waren das für Zeiten, als Rechte noch „Nazis“ genannt werden konnten – wie es der „Springer-Presse“ erging –, und sie sich dagegen erfolgreich wehrten, als Konservative den „Infight“ noch nicht scheuten, nicht vereinzelt aus der Deckung kamen wie Bosbach, Schäuble, Spahn und Dobrindt, um danach diese Deckung gleich wieder hochzunehmen und sich dann völlig – oder auf ihren jeweiligen Posten in der Ecke des Rings – zurückzuziehen und sich Luft zuwedeln zu lassen in Form von Diäten oder Ruhestandsgeldern.
Was war es für eine Wohltat, als die Linke wenigstens gelegentlich noch aufjaulend einen Leitkommentar von Ernst Cramer ertragen musste. Wir haben seither nichts Geringeres erlebt als den freiwilligen Untergang des politischen und des journalistischen Konservatismus, und die linken Lemminge schicken sich an, ihm dorthin nachzufolgen, auf dass endlich Friedhofsruhe einkehre. Ich gehe unter – gehst du mit?
Nach der nun endgültig aussterbenden Kriegsgeneration des Helmut Schmidt, den Weißen Jahrgängen des Helmut Kohl und der in Rente gehenden, einst kampferprobten 68er-Gilde des Gerhard Schröder hat deren Nachfolge ein konformitätsgläubiges Kollektiv der Geburtenstarken (wie ich), der verwöhnten Pillenknick-Generationen „Golf“ oder X angetreten, auch Y steht schon in den Startlöchern.
Sich engagieren, echauffieren und im Diskurs aufreiben, das ist entweder karrierehinderlich oder uninteressant geworden; es geht – umso moderner es sich versteht – auch nur noch so lange, wie es familienverträglich, gender-paritätisch und mit Rücksicht auf mögliche Verluste gelebt werden kann, nötigenfalls unter Aufgabe der Inhalte. Meine Sechzig-Stunden-Woche als Landarzt ist da nur ein kleines Beispiel, ich bin auch an dieser unbedeutenden Stelle ein lebendiges Fossil. Und blicke fassungslos auf die Jüngeren, auf Emmanuel Macron und Sebastian Kurz – werden sie es anders machen? Vielleicht, sie sind ja keine Deutschen.
Altdeutsch wie ein Gelsenkirchener Barockschrank?
Ich frage mich, ohne eine Antwort zu haben, ob ich einfach altdeutsch werde, wie ein Gelsenkirchener Barockschrank, und sentimental, oder ob wir alle – vom langen Frieden und Wohlstand verwöhnt – gemeinsam geistig träge geworden sind, dazu voller German Angst und Besitzstandswahrung, so dass wir – ob links, ob rechts – glauben, wir könnten uns die Freiheit und die Härte der politischen Auseinandersetzung ersparen, indem wir vorauseilende Milde und Aufgabe der eigenen Positionen walten ließen. Oder gleich vorgefertigte Meinungskontrolle.
Oder ob das schlicht die natürlichen Verschleißerscheinungen einer von Parteien, Fraktions- und Koalitionszwängen beherrschten Demokratie sind, die sogar die Freiheit des einzelnen Abgeordneten vergessen hat, nebst der Verantwortung der Parlamentarier viel mehr gegenüber den Bürgern, die sie gewählt haben, als gegenüber der Regierung, die von ihnen gewählt worden ist – sofern sie nicht gerade ungewählt vor sich hin geschäftsführt.
Einst war ich von Idealen besessen, beispielsweise von jenem, dass Deutschland nach 1989/90 die Einigkeit in Recht und Freiheit vollziehen würde, und dass nun auch Europa langsam und stetig zusammenwachsen könnte, zuerst – wie lange versprochen – als ein Europa, in dem Grenzen unwichtiger und Regionen wichtiger würden. Das allerdings hätte vorausgesetzt, dass die Regionen wie die Parlamente auch Kompetenzen und Eigenverantwortlichkeit in ihrem gemeinsamen europäischen Haus erhalten hätten.
Wie es jetzt um die Regionen und deren Parlamente bestellt ist, sieht man sehr deutlich – mal an Schottland, mal an Korsika, mal an Katalonien. Wie kann jemand, der das Europa der Regionen gegen die verteufelten Nationalstaaten einfordert, ein Anti-Europäer sein, ein Separatist? Er oder sie werden genau dann Separatisten, wenn die alten Versprechen der Unitaristen und Supranationalprediger zur angeblichen Selbstbestimmung der Regionen missachtet werden, auch dann noch, wenn kleine Länder im Europaparlament überproportional viele Stimmen zugebilligt bekommen. Bist du Angehöriger einer Minderheit in einem der großen Länder, dann nützt dir das gar nichts.
Der Kniefall ist der Arroganz gewichen
Dann rufen die Unzufriedenen, die „kleinen Leute“: Weniger Europa! Und diejenigen, die ihr großes Projekt gefährdet sehen, das doch nie zum Kennenlernen der Europäer geführt hat, nicht zum Respekt vor seinen Minderheiten, nicht zu einem unverzerrten Binnenmarkt, nicht zu einer unverzerrten Gemeinschaftswährung, nicht zu einer gemeinsamen Verteidigungspolitik oder Sicherung der Außengrenzen – dann rufen diese „Großen“: Mehr Europa! Wie soll das gut gehen?
Ich vermisse den von mir selbst lange genug verkannten Willy Brandt: „Mehr Demokratie wagen“, das hieß: mehr Mitsprache für den Einzelnen, mehr Mitbestimmung im Betrieb, starke Gewerkschaften gegen starke Arbeitgeber, höhere Löhne für harte Arbeit. Es schloss den Kniefall in Warschau ein, der längst der Arroganz gegenüber Warschau gewichen ist. Auch Willy Brandt war perplex, als er sich der SDP der DDR und ihrer Bürgerbewegung gegenüber sah, aber nicht sehr lange.
An Adenauer und de Gaulle kann ich mich nicht erinnern, an Kohl und Mitterrand sehr wohl. Ich bin mit beiden im Nachhinein nicht ganz glücklich. Es genügt – wie ich inzwischen weiß – nicht, sich über Kriegsgräbern die Hände zu reichen. Man muss sie einander auch sonst reichen – und tanzen, sich freuen über das Erreichte, arbeiten am Gemeinsamen, nicht immer nur betroffene Rückschau halten auf das Entsetzliche, das Vergangene – das ist wichtig, wie auch Willy Brandt wusste, aber es genügt nicht. Europa hat gleich zwei Europatage, aber keinen gemeinsamen gesetzlichen Feiertag.
Dabei böte sich der 9. Mai an, auch gleich an das Ende des Zweiten Weltkrieges in Europa mit zu erinnern und die Hände auszustrecken, untereinander und in die USA und in Richtung der Folgestaaten der Sowjetunion. Auch den angeblich so lernfähigen, geschichtsbeflissenen Deutschen stünde das gut an. Gefeiert werden könnte jedes Jahr in einer anderen Region Europas, mit freier oder verbilligter Bahnfahrt dorthin für alle unter 21 Jahren. Darauf warte ich seit mehr als dreißig Jahren, als ich selbst noch so jung war und so motiviert – so lange, bis Europa keinen Grund mehr hat, sich auf diese einfache, stolze und bescheidene Weise zu feiern.
Deutschland hat seinen 3. Oktober, aber es genügte auch Deutschland nicht, nur die Blockparteien der DDR in die Altparteien der Bundesrepublik zu überführen und die Bürgerrechtler nach Vorlieben auf diese zu verteilen, dieweil die alte Tante SED ihre Haut rettete. Ich erinnere mich gern an Jens Reich und Konrad Weiss, an Katja Havemann, Bärbel Bohley und Arnold Vaatz, ja, selbst an Stephan Krawczyk: Was lange gärt, wird endlich Wut.
Namen, die keiner mehr kennt. Ich erwartete Impulse für eine lebendige Demokratie, nicht Verstärkung für eine langsam verkrustende Parteienlandschaft, die inzwischen der Ohnmacht in jeder Hinsicht näher ist als der Fassung, Haltung oder gar der Tapferkeit, wenn eine neue Partei offene Flanken gleich rechts und links besetzt und deren Wähler abschöpft, wie die AfD es nun erfolgreich getan hat.
Das linke Pendant zum Endsieg
Auch darum finde ich das Besitzstandswahren – und bezöge es sich außer auf das Bewahren der Posten auch nur auf den Besitz der einzig selig machenden Wahrheit – so traurig, besonders, wenn es in Gestalt der angeblich so progressiven Linken daher kommt wie ein schwarzer Wolf im roten Schafspelz, während es aber in Wirklichkeit besitzstandswahrend ist und autoritär. Diese Linke glaubt immer noch an das marxistische „Ende der Geschichte“, das linke Pendant zum „Endsieg“.
Gegen das Verteilen von Posten in Koalitionen, die außerhalb des Parlaments abgekartet werden, wie gegen das Einführen von Gesetzen zur Kontrolle unliebsamer Meinungen habe ich sehr prinzipielle Vorbehalte, die aus meiner Sicht mit dem Niedergang der alten, freiheitlichen Volkspartei SPD und ihrer Ehrlichkeit noch mehr zu tun haben als mit den von ihr beschworenen neuen Gefahren für die Demokratie. Was wohl Otto Wels und Otto Braun zu Meinungskontrollgesetzen gesagt hätten?
Denn dass die alte CDU/CSU des Eugen Gerstenmaier längst zu einem Sammelbecken jener verkommen ist, die erneut sechzehn Jahre regieren wollen und das auch noch konservativ finden und zugleich progressiv, daran zweifle ich nicht. Gerstenmaier plante 1961 eine Zeitlang den Umbau des Parlaments zur Hufeisenform nach englischem Vorbild, denn die Demokratie lebt vom Gegenüber von Regierung und Opposition – und vom Wechsel, den heute offensichtlich niemand mehr herbeiführen kann.
Deutschland und seine Parteienlandschaft – allen voran die SPD als ihr größter Verlierer – sind an ihrem toten Punkt angekommen. Auch die Impulse für Europa kommen fortan anderswo her, aus Österreich, Frankreich, ja, selbst aus Großbritannien. Das wird nicht zwangsläufig mehr oder weniger Europa sein, ein anderes Europa aber gewiss, in dem Deutschland nur noch so lange eine Rolle spielt, wie seine Wirtschaft boomt. Der Tag danach wird kommen.
Ein Bundespräsident, der von „Mut“ redet
So viel zu diesem Lamento, dieser traurigen Ellipse: einmal Deutschland – Europa und zurück. Die Ellipse hat also nicht allein mit Deutschland zu tun, nicht allein mit der SPD. Auch andere haben ihren Biss verloren. Alle spüren das, von Lafontaine über Merkel und Schäuble bis hin zu Maas, Özdemir, Lindner, Gauland und Kipping – ein Parlament der Ratlosen, weil es – mit weit über 700 Abgeordneten – gar kein ernstzunehmendes Parlament mehr ist. Es könnte diskutieren wie nie zuvor, sogar die Macht haben, und übt sie nicht aus. Warum nicht? Die Stunde des Parlaments ist zu einem toten Punkt geschrumpft, einer Singularität, die per „Sondierung“ auch noch zur Disposition steht, anderswo, und noch nicht einmal diskutiert wird in diesem Parlament.
Wenn dann noch ein Staatstragender kommt, ein Bundespräsident, der zuerst noch von „Mut“ redet und dann nur noch von „Vertrauen“, wenn er also annimmt, die Bürger mit der Michel-Schlafmütze hofften allein auf eine stabile Regierung, nicht auf ein Parlament der Ideen und Impulse, und ein anderer, ein Parteivorsitzender, sich brüstet, er habe die Idee der Vereinigten Staaten von Europa in die „Sondierungen“ getragen – dann vergrabe ich verzweifelt das Gesicht in den Händen und sehne mich schon wieder nach Willy Brandt.
Wie werden diese Leute regieren? Und, was tatsächlich noch schlimmer ist: Wie könnten diese Leute je Opposition machen?