„Niemanden“, schrieb die Frankfurter Allgemeine am vergangenen Sonntag, „Niemanden, der ein Herz hat, wird es unberührt lassen, dass europäische Grenzbeamte mit harter Hand gegen Migranten vorgehen, selbst wenn von denen nicht alle friedlich sind.“ Sollte die Aussage stimmen, dann muss ich mir eingestehen, ein herzloser Mensch zu sein, oder doch einer, in dessen Brust ein kaltes Herz schlägt, denn ganz ohne geht es eben auch nicht.
Nein, die Nachrichten, die uns seit Tagen aus Griechenland erreichen, rühren mich so wenig zu Tränen wie die Bilder von der Grenze zur Türkei. Und das ist gut so. Denn wer „nur mit dem Herzen gut“ sieht wie der „kleine Prinz“ in Antoine de Saint-Exupérys gleichnamigem Märchen, mag ein liebes Kind sein. Die Realität kann er nicht erfassen, schon gar nicht die politische. Gefühlsduselei und Kitsch triumphieren lassen über den kühlen Verstand. Die Freude am Mitleid trübt den Blick.
Statt der jungen Männer, die modisch frisiert und gekleidet, forsch über die Grenze drängen, werden nur noch gebrechlich Alte und weinende Kinder wahrgenommen. Weder den Reportern an vorderster Front noch den Politikern weitab will auffallen, dass die Männer, werden sie nach den Beweggründen ihres Vormarschs befragt, stets das Gleiche antworten. Alle wollen sie nach Europa, fast ausnahmslos nach Deutschland, damit es ihnen „besser geht“. Dass sie kommen, um in Freiheit zu leben, hab ich bisher in keinem Interview gehört.
Was spricht gegen Saudi-Arabien?
Nun ist das Streben nach einem gehobenen Wohlstand ein Wunsch, den es allemal zu respektieren gilt, zumal von denen, die ihn selbst schon genießen. Dieser Antrieb hat die Menschen seit jeher motiviert, ihre Heimat zu verlassen. Nur sind sie stets als Auswanderer aufgebrochen, nicht als die „Flüchtlinge“, als die wir sie heute empfangen sollen: als Bedrohte, mit deren massenhafter Aufnahme sich die Konsumgesellschaft ein gutes Gewissen machen möchte. Ganz abgesehen davon, dass sie ihren Lebensstandard auch mit der Umsiedlung innerhalb der arabischen Welt erhöhen könnten, zum Beispiel in Saudi-Arabien, einem der reichsten Länder überhaupt.
Nur müsste das eben auf legalen Wegen erfolgen, während es für die Einwanderung nach Europa genügt, emotionale Drohkulissen aufzubauen, indem etwa „unbegleitete Kinder und Jugendliche“ als Vorhut auf die lebensgefährliche Reise geschickt werden. Sind sie erst einmal aufgenommen, folgt der Nachzug der Eltern und Großeltern im Verfahren der „humanitären Familienzusammenführung“ schnell auf dem Fuß. Damit konnten die verfolgten Juden nie rechnen, schickten sie ihre Kinder allein Ausland, um deren Leben zu retten. Eher schon erinnert der kalkulierte Schwindel unserer Tage an den „Kinderkreuzzug“, den die Christen 1212 organisierten, um das Heilige Land im Nahen Osten zu erobern.
Der Missbrauch der Kinder zu politischen Zwecken hat Methode. Vielen freilich mag er heute und hierzulande umso weniger auffallen, als auch Grüne und Linke, hatten sie bei ihren Aufmärschen mit Gegenwehr zu rechnen, Kinderwagen vor sich herschoben. Der Zweck heiligte die Mittel. Zielstrebig geschürte Emotionen brechen den Widerstand, damals wie heute an der griechisch-türkischen Grenze. Keine Sperranlage, die dem Ansturm der wachsenden und emotional befeuerten Masse auf Dauer standhalten würde.
Die Wiederholung ist schon da
Wer den Anfängen nicht wehrt, sollte sich deshalb über die Folgen nicht wundern. Ist die Büchse der Pandora erst einmal geöffnet, zieht ein Übel das nächste nach sich. Die seit Wochen herunter geleierte Behauptung, 2015 und 2020 seien nicht vergleichbar, eine arabische Invasion wie vor fünf Jahren soll und werde es nicht wieder geben, ist nichts als propagandistischer Mumpitz, ein abermaliger Versuch der Ablenkung von dem Unabwendbaren. Stecken wir doch bereits mittendrin in der Wiederholung, zwangsläufig.
Nachdem die Bundeskanzlerin zuerst auf Recht und Gesetz gepfiffen hatte, als sie am 4. September 2015 die bedingungslose Öffnung der Grenzen verfügte, ohne den Bundestag in die Entscheidung einzubeziehen, war sie im Jahr darauf gezwungen, Europa der Gnade des türkischen Präsidenten auszuliefern. Nach dem von ihr eingefädelten Flüchtlingsdeal soll die Türkei weitere Zuwanderer, insbesondere aus Syrien, der EU vom Hals halten. Der vereinbarte Wächterlohn beträgt sechs Milliarden. Ob das zu viel oder zu wenig ist, sei dahingestellt. Es spielt keine Rolle.
Schneller als es die politischen Schwachmaten der EU wahrhaben wollten, dürfte der Sultan am Bosporus verstanden haben, dass er fortan am längeren Hebel sitzt, dass man ihm in Brüssel wie in Berlin zu Willen sein muss. Über die Jahre sammelte er in den türkischen Auffanglagern ein Millionenheer, das er nun jederzeit in Marsch setzen kann. Was jetzt auf uns zu rollt, ist keine humanitäre Katastrophe, die nicht abzusehen gewesen wäre. Vielmehr handelt es sich um die weitere Eskalation eines fortdauernden Flüchtlingsdramas, ausgelöst durch die Hybris einer deutschen Bundeskanzlerin.
Der Irrglaube, alles irgendwie im Griff zu haben
Wenn sie heute sagt, der „Kontrollverlust“ von 2015 dürfe sich nicht wiederholen, weiß man nicht, was schwerer wiegt, die Verdrängung der eigenen Schuld oder der Irrglaube, alles schon irgendwie im Griff zu haben. Da sie zugleich von einer „Sackgasse“ spricht, in der sich die nachdrängenden Massen an der türkisch-griechischen Grenze befänden, ist abermals mit dem Schlimmsten zu rechnen, eben mit jener Wiederholung, die es nicht geben soll.
Allein mit einem Hubschrauberflug der EU-Chefin über das Krisengebiet wird sich das Problem nicht lösen lassen, auch nicht damit, dass Ursula von der Leyen die Griechen als „europäischen Schild“ bei der Abwehr weiterer Zuwanderer feiert. Solches Geschwätz wirkt nicht weniger zynisch als das Versprechen, den Griechen bis zu 700 Millionen für die Erledigung der Drecksarbeit an der europäischen Außengrenze zu überweisen.
Wollten die Europäer ernsthaft etwas gegen die wahrhaft schrecklichen Zustände unternehmen, müssten sie endlich selbst in das Geschehen eingreifen und eigene Kräfte zur Sicherung ihres Territoriums entsenden, nicht bloß mit Frontex so tun, als ob sie etwas tun würden. Deutschlands Freiheit ist nicht bloß am Hindukusch oder in Mali, sondern auch am Rande des eigenen Kontinents zu verteidigen.
Gebratene Tauben fallen vom Himmel
Das allein wäre ein Beweis der Stärke, den die Verführten auf der Gegenseite verstehen könnten, der sie womöglich davon abhielte, Kopf und Kragen zu riskieren.
Die Scheckbuch-Diplomatie indessen bewirkt nur das Gegenteil von dem, was zu tun wäre. Erweckt sie doch den Eindruck, dass im gelobten Land des Wohlstands nach wie vor Geld in Hülle und Fülle da sein muss, gebratene Tauben vom Himmel fallen und jeder, der es bis dahin schafft, ein „Dach über den Kopf“ bekommt, wie es ihnen Merkel 2015 versprach, ohne zu wissen, dass Araber unter „Dach“ ein eigenes Haus verstehen.
Wie sollen sie ahnen, was sie tatsächlich erwartet: das Leben in einer innerlich verfeindeten Gesellschaft, in einem Land, das durch die staatlich beförderte Invasion aus der arabisch-moslemischen Welt gespalten wurde wie noch nie nach dem Zweiten Weltkrieg.
Nein und nochmals nein! Bevor ich mich mit den Bildern von Lesbos oder der türkisch-griechischen Grenze in die Mitleidsfalle locken lasse, bleib ich doch lieber bei meinem kalten Herzen und klarem Verstand.