Es war nicht alles schlecht. Manche haben es ja schon immer geahnt. Mitunter sind Gestrige auch von heute und morgen. Grünen-Fraktionschef Anton „Toni“ Hofreiter hat im jüngsten „Spiegel“ zum Beispiel herausgefunden, dass individuelles Wohnen von Übel ist. „Einparteienhäuser verbrauchen viel Fläche, viele Baustoffe, viel Energie, sie sorgen für Zersiedelung und damit auch für noch mehr Verkehr“, sagt Hofreiter dort, und wir lernen nicht nur, dass „Familie“ offenbar auch ein Wort ist, das man besser meidet, weil es doch noch vielerorts heteronormative Stereotype weckt, sondern auch, dass Marzahn, Hellersdorf und der Neuköllner Sozialpalast die wahren Zukunftsprojekte sind.
Es war eben doch nicht alles schlecht, und während immer mehr Firmen dazu auffordern, das „unboxing“ (Auspacken) ihrer Produkte auf Instagram mit der Kamera zu begleiten, kommt offenbar auch das „inboxing“ von Menschen wieder chic in Mode. Die SED-Wohnungsbauprogramme, die ehedem „für unsere Werktätigen“ von Parteitag zu Parteitag immer prächtiger wurden, sind sicher noch irgendwo auffindbar.
Ein kleiner Denkfehler ist dem Toni dann aber doch unterlaufen: Das Verkehrsaufkommen ändert sich nicht, wenn man Menschen übereinander stapelt, statt sie nebeneinander wohnen zu lassen. Der Transportbedarf bleibt der gleiche, allenfalls verschiebt sich das Verhältnis von Individual- zu öffentlichem Verkehr.
Soziale Kontrolle in Wohnblöcken
Von Einsperren spricht er jedenfalls nicht. Dass er die sozialen und kulturellen Probleme geballter Großagglomerationen nicht mitdenkt, die in der DDR leider ebenfalls beispielhaft vorgemacht wurden, reiht sich ein in eine längerer Serie grüner „von-hier-bis-Fußspitze“-Projekte. Wir erinnern uns an die Förderung nachwachsender Energieträger, die zu noch rücksichtsloserer Ausbeutung von Böden führt, weil Energiepflanzen ja keinen ökologischen Rücksichten für den menschlichen Verzehr unterworfen sind.
Wir wollen nicht so weit gehen, Hofreiter (ein Name ganz offensichtlich aus dem vor-marzahnischen Zeitalter!) Hintergedanken zu unterstellen, die auf soziale Kontrolle in Wohnblöcken abheben. Dagegen haben die Grünen ja immer rebelliert. Damals jedenfalls.
Das Interessante an Vorstößen wie diesen ist aber noch etwas anderes: Ganz offensichtlich gibt es doch Zwecke, die doch die Mittel zu ihrer Erreichung heiligen. So nahmen wir nach dem Ende des Realsozialismus an, dass die freie, individuelle Entfaltung zu den Wesensmerkmalen nichtkollektivistischer Gesellschaften gehört (sofern nicht Dritte beeinträchtigt werden). Wir lernen beim Ritt des Toni gegen einzelne Höfe nun aber, dass sehr wohl lenkende Eingriffe in die private Lebensweise zum politischen Programm gehören können – vom Essen bis zu Wohnort und Wohnform.
Kennt Not wirklich kein Gebot?
Und auch bei den Einschränkungen von Grundrechten im Zuge der Corona-Pandemie macht es (zumindest uns Vorgeborene) doch nachdenklich, dass die Verwehrung von Grundrechten, die in Artikel 1 und Artikel 20 des Grundgesetzes sogar Ewigkeitsstatus besitzen, zur Verfügungsmasse tagespolitischen Gestaltens gehört, wenn denn der Anlass okay ist.
Einschränkung von Versammlungs- und Bewegungsfreiheit zur Machtsicherung im Klassenkampf gehen nicht. Im Kampf gegen ein Virus sind sie erlaubt. Welche anderen Anlässe wären denkbar? Kennt Not wirklich kein Gebot? Oder machen wir es uns politisch nur zu einfach?
Beispiel Infektionsschutzgesetz. Weil immer wieder die mangelnde Beteiligung des Parlaments gerügt wurde, sollte der Bundestag Präzisierungen, zeitliche Begrenzungen und parlamentarische Kontrollrechte in Paragraph 28a einfügen, um eben klarzumachen, dass Grundrechtseingriffe nur in sehr wenigen, eng definierten Ausnahmefällen befristet tolerierbar seien.
Räumte der §28a in seiner ursprünglichen Fassung dem Staat – salopp gesprochen – bei besonderen Lagen ein in schöner juristischer Wolkigkeit ein, das Nötige zu tun, so wurde bei der Neufassung im November 2020 tatsächlich in 17 Unterpunkten der Katalog der möglichen Interventionen aufgelistet. Nun steht ganz konkret da, dass von Abstandsgeboten bis Schließung von Einrichtungen und Alkoholverbot im Grunde alles möglich ist. Was der Staat NICHT darf, steht nicht dort.
35 ist die neue 50
Als die letzte Ministerpräsidentenkonferenz mit der Kanzlerin beschloss, dass die 35er Inzidenz die neue 50er sei, erinnerten sich manche Abgeordnete, dass sie ja genau diese beiden Werte als unterschiedliche Eingriffsschwellen definiert hatten. Doch beim Nachlesen erwies sich die stolz und selbstbewusst formulierte Neufassung auch in diesem Punkt als zahnlos: „Nach Unterschreitung eines in den Sätzen 5 und 6 (50er bzw. 35er Inzidenz, Anmerkung d. Autors) genannten Schwellenwertes können die in Bezug auf den jeweiligen Schwellenwert genannten Schutzmaßnahmen aufrechterhalten werden, soweit und solange dies zur Verhinderung der Verbreitung der Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19) erforderlich ist.“ Gummi, dein Name sei Paragraph.
Womit wir wieder bei den neuen Wohnwelten des Hofreiter Toni wären. Menschen sollten die Gesellschaft formen, nicht die Gesellschaft den Menschen. Erstaunlich, dass man immer wieder daran erinnern muss. Da der Autor dieser Zeilen über hinreichend Plattenbau-Erfahrung verfügt, sollte Herr Hofreiter vielleicht zunächst eine Werbetour bei seinen Parteifreunden im Land der Häuslebauer unternehmen.