Ich schreibe hier über Zar Putin

Mein Vater wurde in Lutsk in der Ukraine geboren – dort, wo meine Großmutter väterlicherseits von den Kosaken des zaristischen Russlands ermordet wurde. Mein Großvater väterlicherseits floh vor diesem Pogrom und kam nach Amerika.

Im Jahr 2008 prügelte Miladin Kovacevic, ein 2,05 Meter großer und 118 Kilo schwerer serbischer Basketballspieler, angeblich in Binghamton, New York, Bryan Steinhauer, einen 1,67 Meter großen und 61 Kilo schweren Amerikaner, in einer Bar ins Wachkoma. Der serbische Student hatte seine Gründe (er dachte, dass Steinhauer die Freundin seines Freundes begrapscht hatte), aber er war falsch informiert worden. Kovacevic konnte aus dem Land fliehen und wurde nie ausgeliefert.

Diese schreckliche Geschichte hat mich nicht mehr losgelassen. In gewisser Weise erinnert mich das, was Putin jetzt mit der Ukraine macht, an diesen Vorfall. Natürlich geht es jetzt um viel mehr, steht jetzt viel mehr auf dem Spiel.

Wenn psychopathische Tyrannen ihr Gesicht verlieren, lassen sie die Hölle auf Andere los, um ihren Willen durchzusetzen – und um ihre Ehre zu retten. Ich schreibe hier über Zar Putin. Putin glaubt, dass seine Macht und sein Ruhm durch die bloße Existenz von Ländern an Russlands Flanke bedroht sind, Ländern, die einst Teil des Sowjetimperiums waren, jetzt aber frei sind. Und die Ukraine will sich diesen Ländern anschließen.

Woher wissen wir, dass Putin vor der Ukraine Halt machen wird?

Wenn wir Putin erlauben, dass seine Raketen, Panzer und bewaffneten Soldaten so viele „barfüßige“ Zivilisten in der Ukraine ermorden wie möglich, ist das der Weg der freien Welt, um einen weltweiten Atomkrieg zu vermeiden. Zumindest sagen das unsere Führer.

Präsident Biden hat gerade gesagt, dass er alle NATO-Länder schützen wird. Die Ukraine ist kein Mitgliedsland. Strafende Wirtschaftssanktionen – ja. Stiefel auf dem Boden, Flugzeuge in der Luft über der Ukraine – nein.

Dies ist nicht der Zweite Weltkrieg. Die freie Welt ist sich einig in der Verurteilung von Putins Mordlust, aber unsere Staats- und Regierungschefs sind nicht bereit, einen Dritten Weltkrieg zu riskieren, da sowohl Putin als auch die NATO-Länder über Atomwaffen verfügen.

Sind unsere Staats- und Regierungschefs gewillt, es zuzulassen, dass Putin die Ukraine verwüstet und dem russischen Reich einverleibt? Haben sie eine andere rote Linie gezogen – etwa der Art, dass zwar die Ukraine für das größere Wohl geopfert werden kann, aber Polen verteidigt werden wird, selbst wenn das dann einen Atomkrieg bedeutet? Woher wissen wir, dass Putin in der Ukraine Halt machen wird? Warum glauben wir, dass Putin keine Atomwaffen einsetzen wird?

Zwiespältiges Verhältnis zur Ukraine

Ich bin zutiefst bewegt von dem Heldentum und der Ausdauer von Präsident Zelensky. Ich weiß, dass Präsident Zelensky Jude ist und dass noch viele Juden in der Ukraine leben – aber ich kann beim besten Willen nicht verstehen, warum. (Ich weiß, ich weiß, ganz Europa ist ein jüdischer Friedhof ...) Dennoch, basierend auf dem, was ich über die jüdische Geschichte in der Ukraine weiß, habe ich ein mulmiges Gefühl, ein Unbehagen, ein zwiespältiges Verhältnis zur Ukraine. Ein Teil meiner Vorfahren stammt aus der Ukraine, Teile meiner Familie wurden dort ausgelöscht.

Mein Vater, Arye Leib, z "l, wurde in Lutsk in der Ukraine geboren – dort, wo meine Großmutter väterlicherseits, Perele, z "l, von den Kosaken des zaristischen Russlands ermordet wurde. Ich bin nach ihr benannt. Mein Großvater väterlicherseits, Ya'akov, z "l, floh vor diesem Pogrom und kam in die Neue Welt. Er holte sieben Jahre später meinen Vater. Wer auf meinen kleinen Vater aufpasste, bleibt ein Geheimnis.

Ich spreche von der russischen Ukraine vor dem Holocaust, vor dem Massaker an 32.000 Juden in Babyn Jar; ich spreche von den Zyklen der Pogrome, bei denen jüdische Männer öffentlich gefoltert und ermordet und jüdische Frauen wiederholt und öffentlich vergewaltigt wurden, kontinuierlich, Woche für Woche, von weißen russischen Truppen, bolschewistisch-kommunistischen russischen Truppen und von ihren ukrainischen bäuerlichen Nachbarn.

„Er ist schlimmer als der KGB“

Dr. Irina Astashkevich hat ein meisterhaftes Werk zu diesem Thema geschrieben: „Gendered Violence: Jewish Women in the Pogroms of 1917 to 1921.“ Sie hat das Unbeschreibliche und Undenkbare sorgfältig, klar, zärtlich und erschütternd dokumentiert und beschrieben. Diese Pogrome fanden in Schtetels rund um Kiew/Kyiv statt: Dmitrowka, Skwira (der Sitz des chassidischen Gerichts von Tschernobyl), Rakitino, Smela, Tscherkassy, Rotmistrowka, Alexandrowka, Medwedowka und so weiter.

Wenn also der russische Präsident Putin der Ukraine „Neo-Nazismus“ vorwirft, so ist das nicht ganz falsch, aber Russland ist auch bis in die Haarspitzen involviert. Ich bin mir nicht sicher, ob Putin von Judenhass spricht; vielmehr ist er wahrscheinlich über die Unabhängigkeit der Ukraine und ihren Wunsch, der NATO und der EU beizutreten, erzürnt – ein Wunsch, der, wenn er in Erfüllung geht, Russland noch stärker als einer Gruppe asiatischer Länder zugehörig erscheinen lassen wird, zu der auch China und der Iran gehören.

Wenn ich mir täglich die Landkarten der Ukraine ansehe, sehe ich immer wieder meine für immer verlorenen Vorfahren väterlicherseits und denke an sie. Dort waren sie einst: In Lutsk, im Nordwesten der Ukraine, in der Provinz Volyn oder Volyinia, etwas oberhalb von Lviv und nahe der polnischen Grenze. Lutsk gehörte zu Litauen-Polen, wurde von Russland annektiert, von Österreich-Ungarn beschlagnahmt, und so weiter.

Ich habe einen russischen Freund, der in Amerika lebt. Seit Jahren wettert er gegen „König Putin“. „Der Mann ist verrückt, gefährlich, mörderisch, er ist schlimmer als der KGB.“ Mein Freund hatte recht. Und was machen wir jetzt?

Dieser Beitrag erschien zuerst bei New English Review.

Foto: Phyllis Chesler

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Arne Ausländer / 05.03.2022

Die zur Einleitung gewählte Geschichte scheint mir in der Tat passend zu sein. Das Bild der Ukraine selbst aber ist wohl doch zu sehr von historischen Verbrechen überschattet. Wieviele Juden in der Ukraine leben, wird niemand genau sagen können, weil es im Alltag keine scharfe Abgrenzung gibt (trotz der bekannten klaren Regeln der Rabbiner). Wie oft war es einfach kein Thema, ob jemand etwa Jude war. So z.B. bei Anna Gerassimowa (Umka), die kannte ich seit vielen Jahren, bis mal jemand sagte, sie sei jüdisch. So what. Sie - aus Petersburg - wohnte gern auch in Sewastopol, schon zu Zeiten ukrainischer Herrschaft. Wie viele Petersburger auf der Krim. Und auch in Odessa oder Lemberg war ungestörtes jüdisches Leben zu beobachten, neben all denen, wo sich niemand scherte, ob sie nun Juden waren oder nicht.—Wer meint ernsthaft, mit dem Einmarsch der Truppen von Putin und Kadyrow würde sich irgendetwas zum Besseren wenden? Ja, Kadyrow! Den übersehen die Putin-Verteidiger allzu gern. Aber man schaue sich mal Grosny-TV an: das ist schlicht gruselig. Und zwar nicht erst jetzt, schon seit 2014 sind diese Jihadisten im Donbass aktiv, aber nicht einmal der angeblich anti-russische Westen thematisiert das. Um den kommenden Zaren zu schonen?

Gabriele Klein / 05.03.2022

Konnte in Erfahrung bringen dass die höchste jüdische Auswanderungsquote aus Russland nach Fall des eisernen Vorhangs erfolgte. Es leben nach wie vor sehr viele Juden in Putins Russland. Die jährliche Auswanderungsquote Russlands konnte ich nicht auf Anhieb ermitteln als ich sie zu der Europas in Bezug setzen wollte. In der Ukraine, ist die Auswanderungsquote der Juden allerdings kontinuierlich und notorisch hoch und zwar bereits vor dem Krieg, und auch unter Zelensky. Unangenehm fällt weiterhin auf, dass sich Menschen andrer Hautfarbe anscheinend bei der Flucht als Menschen 2. Klasse sehen. Eine Betroffene ,Studentin aus Nigeria berichteten von extra Warteschlangen für Ukrainer und Menschen andrer Hautfarbe und expliziter Hilfsverweigerung bei der Flucht via Bustransfer auf der Basis fehlender ukrainischer Nationalität.

A. Ostrovsky / 05.03.2022

Über den Zaren reden, kann jeder. Man müsste aber mit ihm reden. Nur Narren respektieren den Zaren nicht. Das ist ja so, als würde ein Grundschüler den Hausmeister nicht grüßen wollen. Der muss sich dann nicht wundern.

Gerhard Hotz / 05.03.2022

Nebenbei: Die Geschichte der Ukraine zwischen 1917 und 1945 ist ein einziger Albtraum: Oktoberrevolution, Bürgerkrieg, Genozid durch Hunger, Säuberungen durch Stalin und dann Zweiter Weltkrieg. Geschätzte 11 Millionen Menschen kamen dabei ums Leben. Das muss etwa ein Viertel oder sogar ein Drittel der Bevölkerung gewesen sein. Dass für Putin die Ukraine zu Russland gehört, hat geschichtliche Gründe. Das mittelalterliche Kiewer Reich mit der Hauptstadt Kiew ist der Vorgängerstaat der heutigen Länder Ukraine, Russland und Weissrussland. Dessen Fürst führte das orthodoxe Christentum als Religion ein. Das Kiewer Reich ist also auch die Wiege Russlands und Kiew ist älter als Moskau und Petersburg. Kulturelle Unterschiede gibt es kaum: Sprache, Ethnie, Religion und Schrift sind etwa gleich. Vor diesem Hintergrund ist es nachvollziehbar, dass es für Putin die Ukraine einfach gar nicht gibt.

R. Reger / 05.03.2022

“Woher wissen wir, dass Putin vor der Ukraine Halt machen wird?” Woher wissen wir, dass die Nato nach der Ukraine Halt machen wird? Wesentlich unberechenbarer ist die Nato. Wer schützt nicht-angeschlossene Staaten vor der Nato? Dieser Riesenapparat ist wie ein schwarzes Loch. Wie fände es China, wenn Russland ein Beitrittsverfahren zur Nato anstreben würde? Kämen da in China keine Fragen auf, wozu das ganze, wenn sich doch alle nur verteidigen wollen, denn schliesslich wird die Nato ja als Verteidigungsbündnis verkauft.

rei svager / 05.03.2022

geschätzte frau chesler, -wissen sie wieviel europäische"deutschsprecher” großeltern (und verwandtschaft) hatten, die in der ersten hälfte des letzten jahrhunderts in der udssr und in süd-osteuropa drangsaliert und massakriert wurden. und noch bis in die 90-er jahre hinein eine beispiellose diskiminierung und emigrierung erleiden mußten. ihre familiengeschichte in ehren. aber DIESER russisch- ukrainische krieg hat keine JÜDISCHE komponente.

Gabriele Klein / 05.03.2022

Nach Durchsicht originäre Quellen und O Ton von Putin, dann kann ich ihr Bild von diesem Manne leider nicht bestätigen.  Ich kenne in der Geschichte niemanden der sich noch im Alter von 70 Jahren auf die Spuren Napoleons begab.  Ich glaube man hat in diesem Alter was bessres zu tun und schont eher sein Herz.  Das mediale Bild von Putin ist genauso verlogen wie das von Trump. DAss sie diesem medialen Bild aufsitzen hätte ich nicht erwartet.  Meines Wissens konnten selbst z. Zeit d. Sowjetunion die “neutralen” Finnen in der Zeit des kalten Krieges ausreisen. Erobert wurde Finnland auf Grund seiner Appeasement Politik nicht .  Gleiches unterstelle ich bei einer “neutralen” Ukraine. Demgegenüber führt die Reise Europas klar zu einem Gebilde vergleichbar dem des Warschauer Pakts allerdings nicht von Russland sondern von Deutschland dominiert, also genau das, was man nach Fall d. Mauer verhindern wollte.  Mag sein dass ich nicht alles sehe, allerdings verstehe ich nicht was einen Familienvater bewegen könnte für eine Mitgliedschaft in Frau v.d. Leyens “Tafelrunde” das eigene Leben und das von Millionen Menschen zu opfern, dabei die ganze Welt gefährdend. Kennt er das mit der angedachten europaweiten Impfpflicht zum Schutz von Viren die noch gar nicht da sind eigentlich nicht? Hat er den Brexit nicht verfolgt? Kennt er die seitens d. EU mit Füßen getretenen anderen Volksreferenden nicht? Sieht er die menschenverachtende Politik der EU nicht und ihren Griff nach der Seele des Menschen den es bis auf den letzten Intimbereich zu erfassen und regulieren gilt? Sind es vielleicht die Uni-Sex Toiletten die ihn so faszinieren? Oder der Lehrplan für Sexualerziehung?

Frank Holdergrün / 05.03.2022

Hat uns jetzt der / die Letzte gesagt, wie psychopathisch Putin ist und mit dem Geschriebenen offenbart, dass er / sie keinerlei Ahnung hat? Ich hoffe auf die Achse der guten Analysen.

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