Matthias Heitmann, Gastautor / 08.04.2016 / 06:00 / Foto: Gloria / 15 / Seite ausdrucken

Ich will keinen Vorkoster, ich entscheide selbst

Ganz ehrlich, ich hatte Jan Böhmermann bislang nicht als besonders witzigen, kritischen oder tiefgründig-politischen Entertainer wahrgenommen. Seine Sendung habe ich noch nie ganz gesehen, und ich habe es auch jetzt nicht vor. Die aktuellen Diskussionen suggerieren zwar, man müsse, um mitreden zu können, das von Böhmermann vorgetragene und vom ZDF wieder kassierte „Schmähgedicht“ über den türkischen Staatspräsidenten Erdogan auswendig aufsagen und genau die Beschimpfungen herausfiltern können, die unter der Gürtellinie waren. Doch genau das muss man eben nicht. Die Idee der Meinungsfreiheit wird nicht an den Inhalten festgemacht. Sie interessiert sich nicht für die Meinungen selbst, auch nicht für die eines Herrn Böhmermann, sie setzt sie nur frei.

Es gibt keinen qualitativen Meinungseignungstest, denn Meinungsfreiheit muss ja gerade für Meinungen gelten, die einem nicht gefallen. Das Recht auf die eigene Meinung öffentlich zu verteidigen, ist keine Heldentat und hat auch mit dem Eintreten für Meinungsfreiheit nichts zu tun. Herr Erdogan ist der glühendste Verteidiger seiner Meinungsfreiheit. Spannend wird es erst bei Ansichten, die man selbst verabscheut. „Ich verdamme, was Du sagst, aber ich werde mein Leben dafür geben, Dass Du es weiterhin sagen darfst“, lautet das dem französischen Aufklärer Voltaire zugeschriebene Zitat, das den Kern der Meinungsfreiheit umschreibt.

Meinungsfreiheit kennt kein „Aber“

Diese fundamentale Beschreibung der Idee der Meinungsfreiheit kommt ohne das Wörtchen „aber“ aus. Es gibt bei Meinungsfreiheit auch kein „aber“, und keine Einschränkung. Meinungsfreiheit bedeutet, dass man alles sagen darf, was man denkt. Es ist nicht davon die Rede, dass Meinungsäußerungen keine Konsequenzen haben und man diese nicht tragen müsse. Das muss man sehr wohl, und das kann auch unangenehm sein. Diese Verpflichtung entspringt aus dem Recht auf Meinungsfreiheit. Wenn man der Meinungsfreiheit Grenzen setzt, begrenzt man auch die Pflicht, den Umgang mit der eigenen Meinung zu verantworten. Man hält eine bestimmte Meinung dann für „unverantwortlich“, meint aber eigentlich nicht die Meinung selbst, sondern den Meinenden, dem man nicht zutraut, mit seiner Meinungsfreiheit sinnvoll umzugehen.

Begrenzt man die Meinungsfreiheit, bezieht man dies immer nur die Freiheit der anderen, der „Unverantwortlichen“. In Wirklichkeit macht man so die eigene Meinung zum Dreh- und Angelpunkt und zieht Kreise um sie herum. Deswegen ereifern sich Menschen auch so sehr, wenn sie den Eindruck haben, bei Meinungsäußerungen werde eine „Grenze überschritten“. Je weiter ein Standpunkt vom eigenen entfernt ist, desto weniger verantwortbar erscheint er. Liberalere Menschen ziehen den Kreis ein bisschen weiter, weniger liberale ziehen ihn enger. Es scheint, als sei Toleranz eine Frage des persönlichen Geschmacks und des eigenen Aushaltens – was eine fatale Fehleinschätzung ist.

Freiheit des Empfängers

Deshalb führen auch die Auseinandersetzungen darüber, ob Böhmermanns Gedicht nun noch Satire oder schon Schmähkritik ist, in die völlig falsche Richtung. Denn wieder wird die Meinungsfreiheit von der inhaltlichen Qualität einer Meinung abhängig gemacht. Man versucht dann krampfhaft, Maßstäbe zur Einstufung von Aussagen zu entwickeln. Diese Versuche treiben die seltsamsten Blüten: Es wird dann heftig diskutiert, bis wohin eine Meinung „legal“ ist und ab wann nicht, ab welchem Punkt man eine Äußerung nicht mehr Meinung, sondern Schmähkritik oder sonstiges nennt, was man wem sagen darf und in welcher Position jemand sein muss, um sich bestimmte Aussagen nicht mehr anhören zu müssen usw. Wer sich auf diese verschwurbelten Debatten einlässt, kann nur noch versuchen, einen möglichst hohen Preis für die Meinungsfreiheit auszuhandeln – denn dass er sie verkauft, steht bereits fest.

Es gibt aber noch einen anderen Aspekt in dieser Debatte, der kaum beachtet wird – dabei ist er der eigentlich Entscheidende: In den öffentlichen Auseinandersetzungen über die Grenzen der Meinungsfreiheit konzentriert man sich immer auf die Freiheit des Redners, Schreibers oder Senders. Die Meinungsfreiheit erscheint dann wie ein Spielplatz für Intellektuelle, den man eigentlich nicht wirklich braucht. Tatsächlich geht es bei der Meinungsfreiheit aber nicht zuerst um die Freiheit des Senders, sondern eigentlich um die Freiheit des Empfängers, darum, dass jeder selbst entscheiden kann, was er hören, sehen oder lesen will. Ich will als Zuschauer selbst darüber entscheiden, ob ich Jan Böhmermann ein Stück meiner Lebenszeit opfern möchte oder nicht. Ich brauche dafür keinen Vorkoster, ich entscheide das selbst.

Auch um Minderheitenschutz geht es nicht

Eine Begrenzung der Meinungsfreiheit wird uns gerne verkauft als Schutz von Minderheiten oder Minderjährigen – oder wie beim ZDF als Instrument der „inhaltlichen Qualitätssicherung“. Und immer, wenn die Grenzen der Meinungsfreiheit kritisiert werden, kommen diese Argumente zu ihrem großen Auftritt: Dann geht es plötzlich um die gefährliche und verletzende Macht des freien Wortes, die es einzudämmen gilt. Das heißt, mein Wahlrecht als Publikum wird gerade in den Situationen beschnitten, in denen es auf meine eigene freie Wahl ankäme. Zensur bedeutet also, dass man verhindert, dass sich Menschen selbst entscheiden. Dies ist in Wirklichkeit die größte Verletzung und Gefährdung: Die Beschneidung der Meinungsfreiheit ist ein Angriff auf die Freiheit des Publikum, also auf die Freiheit aller Menschen.

An dieser Stelle des Gesprächs wird dann gerne die leicht zynische Frage gestellt, ob Meinungsfreiheit also heiße, dass man alles sagen dürfe. Manchmal entlarven sich bestimmte Fragestellungen von selbst, und man muss nicht in jede Falle hineintappen. Freiheit definiert sich nicht über das, was erlaubt ist: Jeder Mensch, der Positivlisten vorgelegt bekäme, in denen haarklein alles benannt wird, was legal ist, würde diese als sind Zeugnisse der Unfreiheit und der Bevormundung ablehnen, egal, wie lang die Listen sind. Meinungsfreiheit definiert sich nicht über Worte, die man äußern darf.

Viel sinnvoller ist es, Freiheit negativ zu fassen: Freiheit bedeutet, etwas nicht tun zu müssen, das man nicht will. Übertragen auf die Meinungsfreiheit bedeutet das: Ich muss Jan Böhmermanns Sendung nicht ansehen. Ich kann mich anders entscheiden. Aber ich will meine Meinung auch ändern können. Das ist Meinungsfreiheit.

Matthias Heitmann ist freier Publizist und Autor des Buches „Zeitgeisterjagd. Auf Safari durch das Dickicht des modernen politischen Denkens“ (TvR Medienverlag Jena, 2015). Seine Website findet sich unter www.zeitgeisterjagd.de. Dieser Artikel ist zuerst am 7. April 2016 bei Cicero Online erschienen.

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Jochen Bork / 09.04.2016

Ein schönes Plädoyer für die Meinungsfreiheit oder anders gesagt, für den freien Markt der Meinungen. Leider sind auch hier Marktmanipulationen gang und gäbe. Wichtig ist, dass klar ist, welche Person hinter der geäußerten Meinung steht und somit diese verantwortet, damit der Leser/Hörer diese nach seinem Gusto beurteilen und zuordnen kann.

Jochen Bork / 09.04.2016

Ein schönes Plädoyer für die Meinungsfreiheit oder anders gesagt, für den freien Markt der Meinungen. Leider sind hier auch Marktmanipulationen gang und gäbe. Wichtig ist, dass klar ist, welche Person hinter der geäußerten Meinung steht und somit diese verantwortet. Damit der Hörer diese Meinung nach seinem Gusto beurteilen und zuordnen kann.

Steffen Lindner / 09.04.2016

Herr Böhmermann hat sich nur den falschen Adressaten ausgesucht. Ein ähnliches Gedicht über den Papst oder einen Vertreter der AfD wäre doch als “mutige"Satire ” in den Feuilletons gelobt worden. So aber gilt: “Wenn Du wissen willst, wer Dich beherrscht, musst Du nur fragen, wen Du nicht kritisieren darfst”.

Reiner Hoefer / 08.04.2016

Ein sehr, sehr wichtiger Text. Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden (Rosa Luxemburg). Das sagen alle solange sie zu den Andersdenkenden gehören. Sind sie dann an der Macht, gilt das nicht mehr. Das ist sehr schön an Deutschland zu beobachten. Es geht mit Riesenschritten auf ein autoritäres System zu.

Ulrich Maschmann / 08.04.2016

Hallo Herr Heitmann: Stimmt - zumindest die Meinungsfreiheit kennt keine Obergrenze !  Nur müssen sich aber natürlich auch Publizisten und Journalisten im Rahmen ihrer Kämpfe mit dieser und für diese der mühsamen Klärung unterziehen, worum es sich denn konkret bei einer Meinung - im Gegensatz zu etwa einfach nur falschen Tatsachenbehauptungen oder Beleidigungen - eigentlich handelt. Hier verhilft unter anderem die folgende Wikipedia-Definition zu weitreichenden Erkenntnissen: “Unter einer Meinung wird in der Erkenntnistheorie eine von Wissen und Glauben unterschiedene Form des Fürwahrhaltens verstanden.”  - folglich handelt es bei einer Meinung um eine subjektive Wertung des Meinenden. Bei demjenigen was Herr Böhmermann in seiner vermeintlichen Satire von sich gegeben hat, handelt es sich aber ganz offensichtlich zum überwiegenden Teil nicht um eine Meinung, sondern die Anhäufung vulgärer, ehrverletzender, beleidigender oder verleumderischer Tatsachenbehauptungen. Daß derartiges nicht dem Schutz der verfassungsgarantierten Meinungsfreiheit unterliegt, sondern die Tatbestände diverser Strafnormen erfüllen dürfte, ergibt bereits zwanglos ein kurzer Streifzug durch das geltende Strafrecht (vgl. §§ 103, 185, 186, 187 Strafgesetzbuch). Wer sich etwas irrlichternd glaubt, in einem solchen Kontext für “Meinungsfreiheit” einsetzen zu müssen, setzt somit einfach auf´s falsche Pferd. Gruß - U. Maschmann

Harald Schmitz / 08.04.2016

Ich sehe die Meinungsfreiheit mittlerweile auch als ein bedrohtes Grundrecht an.  Dies zeigt sich derzeit vor allem bei Äußerungen, die Kritik an der Regierungspolitik im Zusammenhang mit der Flüchtlingspolitik äußern. Entweder wird man pauschal in die rechte Ecke gedrängt, ein Facebook / Twitter Konto wird gesperrt, man bekommt eine Torte ins Gesicht oder - schlimmer - ein Pkw wird abgefackelt. Das ist faktisch eine Einschränkung der Meinungsfreiheit! Allerdings sehe ich auch die Hochstilisierung eines Jan Böhmermann zum Märtyrer mit Argwohn. Hat sich jemand einmal das “Schmähgedicht” zu Gemüte geführt? Das hatte weder etwas mit Kunst zu tun, noch enthielt es ein argumentatives Element. Es erschöpfte sich vielmehr in den Schmähungen gegen Herrn Erdogan selbst. Letzteren will ich ja gar nicht verteidigen. Aber ich möchte in der ganzen Diskussion, die auch in sozialen Netzwerken hochschwappt, mal einwerfen, dass selbst Grundrechte nicht schrankenlos gewährt werden. Wenn ich den Verfasser dieses Artikels als riesengroßes Arschloch bezeichnen würde, könnte ich mich gegen - eine berechtigte Anzeige wegen Beleidigung - wohl kaum damit rechtfertigen, ich hätte lediglich mein Recht auf Meinungsfreiheit nach Art. 5 GG wahrgenommen. Auch die Meinungsfreiheit endet dort, wo die zu schützenden Rechtsgüter des anderen beginnen. Daher darf auch Meinungsfreiheit nicht alles. Anderenfalls könnte man unter dem Deckmantel der Meinungsfreiheit immer gefahrlos bleidigen, verleumden, denunzieren, etc.. Diese Aspekte sollte man bei den Diskussionen um das “Schmähgedicht” nicht ganz ausblenden, zumal es meiner Meinung nach ein ganz bewusstes Stilmittel von eben diesem Herrn Böhmermann ist, andere - na sagen wir mal - ganz schlecht aussehen zu lassen.

Martin Wolff / 08.04.2016

Ihr Artikel erscheint mir widersprüchlich. Sie sagen doch selbst: „Es ist nicht davon die Rede, dass Meinungsäußerungen keine Konsequenzen haben und man diese nicht tragen müsse. Das muss man sehr wohl, und das kann auch unangenehm sein.“  Was genau werfen Sie denn dem ZDF nun vor? Dass es um Ihrer   Meinungsbildung halber den Beitrag wieder online stellen soll und Gerichtsprozesse aushalten soll, die es erwartbar verliert?  Der ZDF-Hausjurist wird Ihnen womöglich zustimmen.

Ursula Prem / 08.04.2016

Man sollte es sich bei der Bewertung nicht zu einfach machen. In diesem Artikel wird zu viel vermischt, auch fehlt eine klare Abgrenzung der Begriffe. Meinungsfreiheit kann meiner Ansicht nach nur für einen Gegenstand gelten, der auch eine Meinung darstellt. Diese definiert sich als eine eigene Reflexion über einen tatsächlichen oder wenigstens vermeintlichen Sachverhalt. Böhmermanns Gedicht reflektiert aber nicht, sondern stellt eine einfache Aneinanderreihung von Tatsachenbehauptungen dar, die in der Mehrheit mutmaßlich unzutreffend, zumindest aber unbelegt sind, denn Böhmermann dürfte die Schwanzgröße des Adressaten nicht nachgemessen haben. Selbst zu den wenigen wahren Tatsachenbehauptungen in diesem »Gedicht« (Unterdrückung von Minderheiten, »Kurden treten, Christen hauen«) verkündet Böhmermann keine eigene Meinung, sondern macht munter ad hominem weiter: » … der Star auf jeder Gangbangfeier, bis der Schwanz beim Pinkeln brennt …« … Erschwerend kommt hinzu, dass Böhmermann selbst das Gedicht unter »Schmähkritik« verbucht und angeblich nur einmal ausführen wollte, »was man alles nicht sagen darf.« Gesagt hat er es trotzdem, und damit den Zweck erreicht, den jede gewöhnliche Beleidigung verfolgt. Damit wäre der Paragraf der Verleumdung im Strafgesetzbuch hinfällig. Künftig könnte jeder Schulhofmobber »ich bin ein Satiriker und mache jetzt auf Böhmermann« rufen und auf gleiches Recht für alle pochen. Die nächste Eskalationsstufe wäre dann ein Schlag in die Fresse des Gegners mit dem Argument: »Ich zeige Dir jetzt mal beispielhaft, was ich mit Dir machen würde, wenn ich nicht so ein vornehmer Mensch wäre!« Fazit: Wer meint, dies müsse in diesem speziellen Fall zulässig sein, weil es gegen einen Unsympathen geht, der öffnet unbedacht die Tür für alles, was daraus folgt. Auch dann, wenn es beim nächsten Mal einen sympathischeren Menschen treffen würde. Die Verbreitung unwahrer Tatsachen kann nun mal nicht durch das Recht auf freie Meinungsäußerung gedeckt sein. Über Erdogan gibt es genügend wahre Tatsachen, die echten Satirikern jede Menge Stoff bieten würden. Das würde jedoch Recherchearbeit und den entsprechenden Geist erfordern, sich kreativ mit den Ergebnissen auseinanderzusetzen. Dass nun in infantiler Weise über seine sexuellen Gepflogenheiten diskutiert wird, kann dem Diktator nur recht sein, da dieses Feld für seine politischen Zwecke weitaus ungefährlicher ist und er nun die Gelegenheit hat, sich als Opfer zu stilisieren. Inzwischen treten die wahren Probleme in den Hintergrund.

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