Von Ulrich Greiner.
Darf man sich konservativ nennen? Aber klar doch, nur muss man heutzutage bereit sein, gewisse Unbequemlichkeiten in Kauf zu nehmen. Glimpflich läuft es für jemanden ab, der sich als einen Kulturkonservativen betrachtet und beispielsweise die Museen zeitgenössischer Kunst mit wachsender Missbilligung durchstreift oder die noch immer üblichen Klassikerhinrichtungen im deutschen Regietheater verachtet. Wer so denkt, befindet sich offensichtlich nicht auf der Höhe des Zeitgeists, doch begegnet man ihm mit nachsichtigem Mitleid.
Konservativ hinsichtlich der Lebensformen und Verhaltensweisen zu sein, ist riskanter. Wer das alte Familienbild samt heterosexueller Ehe und verantwortlicher Erziehung selbstgezeugter Kinder hoch hält, sollte sich von feministischen und genderpolitischen Kreisen fernhalten, wo ihm Verachtung oder gar Hass entgegenkämen.
Und wer es wagt, sich als politisch konservativ zu bezeichnen, dem wird es schwer fallen, den vernichtenden Verdacht abzuwehren, er stehe den Rechtsradikalen samt ihrem finsteren Gedankengut nahe. Damit natürlich hängt die Frage zusammen, inwiefern ein politisch Konservativer zu den „Rechten“ zu zählen und ob der verpönte Begriff „rechts“ in irgendeiner Weise zu retten wäre.
Die gegenwärtige Sprachregelung läuft darauf hinaus, „rechts“ mit „reaktionär“, „rechtspopulistisch“ und „rechtsradikal“ gleichzusetzen, „links“ hingegen mit „aufgeklärt“, „fortschrittlich“ und „humanitär“. Kurz: links sind die Guten, rechts die Bösen. Diese moralischen Zuweisungen sind relativ neu. Ich erinnere mich daran, dass es sich in meiner Jugendzeit, also in den sechziger Jahren, geradezu umgekehrt verhielt. Man wollte zwar nicht explizit rechts sein, um sich nicht abermals die Finger zu verbrennen, man strebte einer bürgerlichen Mitte zu. In dieser Mitte allerdings versammelten sich nicht wenige, die an einer Verharmlosung oder Entsorgung der deutschen Schuld unterschwellig, manchmal auch absichtsvoll mitwirkten.
Die Vergangenheit war etwas, worüber man nur höchst ungern redete. Die Gegenwart lag näher und erschien dringlicher. Die Trümmer waren noch nicht alle beseitigt, die Städte mussten wieder aufgebaut und die zahllosen Flüchtlinge aus dem deutschen Osten mussten integriert werden (wie man heute sagen würde). Und es gab die Angst vor einem neuen Krieg, es gab einen klaren benennbaren Feind: den Kommunismus. Die Niederschlagung der Aufstände in Ost-Berlin 1953 und in Budapest 1956, nicht zu vergessen den Bau der Berliner Mauer 1961, die Kuba-Krise des Jahres 1962 und das traurige Ende des Prager Frühlings 1968 versorgten alle Gegner linker, sozialistischer Ideen mit ständig neuer Munition. Vor allem galt dies für die dem Krieg entkommene Elterngeneration, die sich vor einem Angriff aus dem Osten fürchtete, und diese Furcht hatte reale Gründe. Für die Eltern also war „links“ ein Schreckgespenst, und folgerichtig waren sie aufs Äußerste empört, als sich ihre Nachkömmlinge mit linken Ideen mehr oder minder identifizierten.
Erst später fiel mir die moralische Verlogenheit auf
Die Generation danach nämlich begann mit Heinrich Böll „Wo warst du, Adam?“ zu fragen, und sie fragte weniger nach den Kriegserlebnissen, die ihr unaufgefordert und auf zunehmend lästige Weise von den Vätern aufgetischt wurden, sondern sie fragte nach deren Schuld und Verstrickung. Und sie versorgte sich mit dem theoretischen Rüstzeug der zumeist jüdischen Emigranten, die der Shoah entkommen waren. Je mehr die Achtundsechziger den Diskurs bestimmten, umso heller leuchtete der Sozialismus – ungeachtet des traurigen Bildes, das er in der Realität abgab – als eine zukunftsverheißende Idee, die nur endlich in die richtigen Hände gebracht werden müsse. Jetzt war „links“ das Richtige und „rechts“ das Verdammenswerte. So ist es bis heute geblieben, was in Wahrheit seltsam ist, wenn man sich das vom Sozialismus hinterlassene Desaster vor Augen hält.
Ich selbst sehe heute deutlicher, wie sehr ich ein Kind meiner Zeit war und sicherlich immer noch bin. Naturgemäß, wie Thomas Bernhard sagen würde, war ich damals links, zwar keineswegs so links wie jene Radikalen, die 1968 die ehrwürdige Johann-Wolfgang-Goethe-Universität in Frankfurt, wo ich studierte, in Karl-Marx-Universität umtauften, aber doch links genug, um aus dem Vorwurf an die Väter, sie hätten Auschwitz organisiert oder zumindest ermöglicht, eine willkommene Waffe in jenem Generationskonflikt zu schmieden, der wahrscheinlich die meisten Söhne mit ihren Vätern verbindet, der jetzt aber mit seltener Heftigkeit geführt wurde.
Um das letztlich Unverstehbare zu verstehen, beschäftigten wir uns mit den marxistischen Faschismustheorien, die mehr oder weniger auf Max Horkheimers Diktum hinausliefen: „Wer vom Kapitalismus nicht reden will, soll vom Faschismus schweigen“. Erst später fiel mir die moralische Verlogenheit auf, die darin bestand, dass wir das Thema Auschwitz für eigene Zwecke instrumentalisiert und die Opfer vergessen hatten. Und neben dieser Verlogenheit gab es einen immanenten Widerspruch: Wer im Kapitalismus die Ursache dieses singulären Verbrechens erblicken wollte (was Horkheimer so weder gesagt noch gemeint hatte), der konnte die Väter nicht für schuldig erklären – und er selbst, das war logisch darin eingeschlossen, konnte als mithaftender Erbe keinen Anteil an dieser Schuld haben.
Dass ich in die falsche Richtung ging, wurde mir allmählich bewusst, als ich 1988 einen Beitrag von Dolf Sternberger in der „FAZ“ vom 6. April 1988 las. Der Philosoph und Politologe nahm Stellung in einem Streit, der sich an der These des Historikers Ernst Nolte entzündet hatte, der Archipel Gulag sei „ursprünglicher“ als Auschwitz, womit Nolte sagen wollte, die Verbrechen der Nazis seien auch als Antwort auf die früheren der Bolschewisten zu verstehen. Sternberger wundert sich über die „logische Sonderbarkeit“ des Begriffs „ursprünglicher“ und kommt zu seinem zentralen Gedanken:
„Die wahnsinnige Untat, die mit dem Namen 'Auschwitz' bezeichnet wird, lässt sich gar nicht verstehen, sie lässt sich nur berichten. Auch wenn nachgewiesen würde, dass der Plan zur 'Endlösung der Judenfrage' in Hitlers Gehirn als eine Art Antwort auf frühere ('ursprünglichere') Untaten des Bolschewismus ausgeheckt worden wäre, so würde das die wirkliche Ausführung, nämlich den tatsächlichen fabrikmäßigen Massenmord, nicht um einen Deut verstehbarer machen.“ Sternberger fährt fort: „Auch besteht der Vorgang 'Auschwitz' nicht allein aus der Untat der methodischen Menschenvernichtung, sondern zugleich aus dem millionenfachen unhörbaren Schrei der unschuldigen Opfer, und auch daran ist nichts zu 'verstehen', da dieser Schrei ja gar nicht hat laut werden können.“
Ein Erlebnis, das mich von links nach rechts führte
Mit Sternbergers Argument war für mich der Antifaschismus als Rechtfertigung linker Utopien gründlich in Frage gestellt, aber noch war ich weit von dem Gedanken entfernt, irgendeinen Konservatismus in näheren Betracht zu ziehen. Ich bin ja auch nicht vorsätzlich konservativ geworden, sondern es hat sich nach und nach so ergeben. Vermutlich ist das ohnehin die Regel: Man sucht sich seine Weltanschauung nicht aus, sondern das Leben, die Umstände, das Alter führen einen zu bestimmten Haltungen und Anschauungen hin.
Ein Erlebnis, das mich auf dem Weg von links nach rechts ein Stück weiter führte, war jenes Kolloquium des Bertelsmann-Konzerns, das unter dem Titel „Kulturnation Deutschland“ im Juni 1990 in Potsdam stattfand, bizarrerweise im Schloss Cecilienhof, wo Attlee, Stalin und Truman am 2. August 1945 das Potsdamer Abkommen unterzeichnet und die Teilung Europas besiegelt hatten. Die Deutschen aus Ost und West, prominente Politiker wie Willy Brandt, Kurt Biedenkopf, Markus Meckel oder Friedrich Schorlemmer, Schriftsteller wie Christa Wolf, Stefan Heym, Walter Jens oder Günter de Bruyn, daneben ein paar ausländische Gäste und jede Menge Vertreter der Medien: Sie alle redeten zueinander über diesen historischen Ort hinweg, als wäre die neue Zeit schon gesichert, als wäre die Vereinigung schon die innere Einheit.
Der Tagung war die Kontroverse über Christa Wolfs Erzählung „Was bleibt“ vorausgegangen. Die Autorin hatte den 1979 geschriebenen Text, der ihre Überwachung durch die Stasi und ihre Gefühle wachsender Angst und Bedrückung schildert, im Mai 1990 veröffentlicht, und zwar, wie es am Ende hieß, in einer überarbeiteten Fassung. Diese Erzählung wurde am 1. Juni in der „Zeit“ in einem Pro und Contra rezensiert. Die Verteidigung Christa Wolfs übernahm Volker Hage, den Verriss schrieb ich.
Ein Tag später erschien in der „FAZ“, verfasst von Frank Schirrmacher, ebenfalls ein grundsätzlich angelegter Verriss. Die Tatsache, dass Christa Wolf von zwei einflussreichen Feuilletons des Westens nahezu gleichzeitig heftig kritisiert worden war, führte bei vielen Beobachtern zu der Vermutung, bei manchen zu der festen Überzeugung, hier werde eine verabredete Kampagne geführt. Schirrmacher und ich wiederholten mehrfach, dass wir nichts voneinander gewusst hätten. Es half nichts.
"Jagdszenen“ und „Spruchkammerdenken“
Walter Jens sprach in Potsdam von „Jagdszenen“, unterstellte den „nassforschen“ Kritikern „Spruchkammerdenken“. Friedrich Schorlemmer sprach von „Denunziation“, und Stefan Heym setzte auf all dies den Punkt, indem er sagte: Er sei amerikanischer Nachrichtenoffizier gewesen und wisse daher, wie man solche Hetzkampagnen steuere. Christa Wolf selbst nannte die Kritik eine „bewusste, gezielte Demontage“ und sagte, „solche Wut, solche Aggression, solchen Hass und solche Häme“ finde sie erschreckend: „Ich bin noch nie, mit zwei Ausnahmen im 'Neuen Deutschland', einer solchen Hetzkampagne ausgesetzt worden.“
Die Gleichsetzung von „Zeit“, „FAZ“ und „Neuem Deutschland“ erregte in Potsdam keinerlei Widerspruch. Die Versammlung nahm es auch bereitwillig hin, dass keiner der dissidentischen Autoren, die sich 1976 gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns gewandt und im Westen Aufnahme gefunden hatten, eingeladen worden war: Weder Günter Kunert oder Sarah Kirsch, weder Reiner Kunze noch Hans Joachim Schädlich, nur zum Beispiel. Natürlich war auch Wolf Biermann nicht eingeladen, der doch zum Thema deutsche Kulturnation manches hätte sagen und singen können. Eingeladen und anwesend hingegen war der frühere Zensurminister Klaus Höpcke, der beim Kampf der DDR gegen Biermann eine üble Rolle gespielt hatte.
Der Literaturstreit im frisch vereinten Deutschland brachte keine Einigung, aber er vereinte linke Intellektuelle aus Ost und West. Gemeinsam sahen sie sich als Opfer: hier des Kapitalismus, dort des Stalinismus; hier einer reaktionären, geistfeindlichen Medienlandschaft, dort eines versteinerten Systems, das nun, nachdem es zusammengebrochen war, endlich in einen freiheitlichen Sozialismus überführt werden sollte. Ich war, wie man sich vorstellen kann, von diesen Vorgängen tief irritiert.
Da begegnete ich während einer Kaffeepause auf der Potsdamer Tagung dem Historiker Joseph Rovan. Unter dem Namen Joseph Rosenthal 1918 in München als Sohn eines zum Protestantismus konvertierten Juden geboren, der schon 1933 nach Frankreich emigrierte, machte Rovan sein Abitur (das Baccalauréat) eben dort und wurde Mitglied der Résistance. Er wurde verhaftet, nach Dachau deportiert, überlebte und spielte in der französischen Nachkriegspolitik eine bedeutende Rolle: als Historiker und Berater, als Publizist und als Beförderer des Projekts der deutsch-französischen Freundschaft. Er ist 2004 in Frankreich gestorben.
All dies wusste ich nicht, als wir in einer zufälligen Runde zusammensaßen und über das eigentliche Thema dieser Tagung diskutierten, über die totalitären Ideologien des Jahrhunderts und über die zweite deutsche Vergangenheitsbewältigung. Ich erinnere mich daran, dass ich zu Rovan, der damals so alt war wie ich heute, während ich gerade mal 44 Jahre zählte, sinngemäß Folgendes sagte: Der Terror Stalins und der Hitlers seien unbestreitbar gleich schrecklich gewesen. Der Nationalsozialismus jedoch habe es nie zu einer konsistenten Theorie gebracht, er habe sich zusammengeklaubt, was ideologisch herumlag und brauchbar erschien, und er habe es auch nicht vermocht, Geistesgrößen und Intellektuelle dauerhaft in seinen Bann zu ziehen.
Der Kommunismus hingegen blicke auf eine bedeutende philosophische Ahnengalerie zurück, die wichtigsten Intellektuellen des Jahrhunderts seien ihm wenigstens zeitweise gefolgt. Es liege daran, so etwa schloss ich in meinem jugendlichen Eifer, dass diese Idee in einem faszinierenden theoretischen System gipfele. Ich weiß noch, dass mich Rovan mit einem milden ironischen Lächeln anblickte und jenen vernichtenden Satz sagte, der mir nie wieder aus dem Kopf gegangen ist: „Das gerade ist ja das Schlimme.“
Die großen Renegaten waren die Helden
Die Tragweite dieser Begegnung blieb mir lange verborgen. Heute weiß ich, dass der Widerstandskämpfer Rovan recht hatte, heute weiß ich, dass die großen Renegaten, ob Arthur Koestler oder Manès Sperber, die Helden dieser Auseinandersetzung gewesen sind. Noch der traurige Streit zwischen Jean-Paul Sartre und Albert Camus ist, von heute aus gesehen, zugunsten von Camus ausgegangen. All das ist vergessen, es spielt keine Rolle mehr. Aber es müsste eine spielen, denn noch immer sind die linken Verheißungen virulent. Sie haben mittlerweile eine grüne Färbung angenommen.
Mir kam das in den Sinn, als Anton Hofreiter, der Bundestagsabgeordnete der Grünen, in einem Fernsehbeitrag gezeigt wurde, der unter anderem vorführte, zu welchen Verwerfungen und Seilschaften die staatlichen Zuschüsse für Windräder teilweise geführt haben. In dieser Sendung sah man Anton Hofreiter, wie er eine Demonstration für Windenergie anführte und mit einer Leidenschaft, die an eine neue Weltrevolution denken ließ, ins Mikrofon schrie, die alternativen Energien seien der einzige Weg, die Klimakatastrophe abzuwenden, und er verstieg sich zu dem Satz: „Es geht um die Rettung der Menschheit!“ Wenn es um die Rettung der Menschheit geht, sind Rücksichten nicht mehr angebracht. – Man wird sich vor diesen Rettern retten müssen.
Es ist wahr, dass die kommunistische Verheißung derzeit keine wirkliche Anziehungskraft mehr besitzt, und es wäre unfair, allen Grünen oder Linken zu unterstellen, sie wünschten sich eine Wiederkehr des Kommunismus. Die Fairness verbietet es allerdings auch, den „Rechten“, wer immer damit gemeint sein soll, generell eine Nähe zur verbrecherischen Nazi-Ideologie nachzusagen. Und dies geschieht fast immer in erstaunlicher Eile.
In einem Gespräch, das ich 2006 mit Wolf Biermann führte, fragte ich ihn: „Warum sind Sie mit 16 Jahren in die DDR gegangen, warum haben Sie so lange an ihr festgehalten?“ Seine Antwort: „Weil ich so geprägt worden bin. Ich komme aus einer 'katholischen' Familie, und das Wort katholisch heißt bei mir kommunistisch. Ich glaubte an den lieben Gott, und das war bei mir Karl Marx. Mein Vater war als Märtyrer auf dem Scheiterhaufen verbrannt, und der Scheiterhaufen hieß bei mir Auschwitz. Und meine Mutter Emma hatte ihren Privatkrieg mit Herrn Hitler. Nachdem ihr geliebter Mann und Genosse abgeschlachtet war, als Kommunist und als Jude, nachdem die ganze jüdische Familie in die Grube geschossen war, hatte sie den Ehrgeiz, ein Kind heranzuziehen, das seinen Vater, wie sie es kindlich nannte, rächen sollte.“ (aus: DIE ZEIT vom 2. November 2006)
Es ist erstaunlich, wie vieler Nackenschläge es bedurfte, bis Biermann vom kommunistischen Glauben abfiel. Er erlebt die Turbulenzen des Ungarn-Aufstands 1956 und des Prager Frühlings 1968. Das Diplom in den Fächern Philosophie und Mathematik, das ihm nach gut bestandener Prüfung zusteht, wird ihm verweigert. Seine Bücher werden nicht gedruckt, öffentliche Auftritte untersagt. Die Stasi unternimmt Anschläge auf ihn, die er nur durch Glück überlebt. Trost und Stärkung findet er bei seinem Freund Robert Havemann.
Meine eigene Abkehr von linken Ideen
Es scheint so, als wären die edelmütigen und starrsinnigen Kommunisten Bier- und Havemann durch die Drangsal, in der sie lebten, durch die Tragödien der Freunde, die sie mit ansehen mussten, immer noch edelmütiger und starrsinniger geworden, so wie man den christlichen Märtyrern nachsagt, die Verfolgungen und Foltern hätten sie im Glauben nur bestärkt. Einmal begegnet Biermann dem österreichischen Kommunisten Ernst Fischer, ehemals Chef der KPÖ, und fragt ihn, warum ihn Stalins Verbrechen nicht stutzig gemacht hätten. Die Antwort: „Wir dachten: Wenn es so grauenhaft ist, wie es aussieht, dann kann es gar nicht so sein, wie es ist.“
Noch Anfang der achtziger Jahre, so erzählt Biermann, habe er gedacht: Ich bin der richtige Kommunist, Honecker und die Bonzen sind die Antikommunisten. Da begegnet er einmal einem echten Nazi, der ihm erklärt, Hitler habe mit der Ausrottung der Juden einen Fehler gemacht, ansonsten sei er auf dem richtigen Weg gewesen. Und jetzt beginnt Biermanns Wandel. Wenig später trifft er den großen Schriftsteller und Renegaten Manès Sperber, der ihm überzeugend darlegt: „Es kann keinen guten, keinen richtigen Kommunismus geben.“
Meine eigene Abkehr von linken Ideen hatte nicht entfernt die Bedeutung, nicht annähernd die Dramatik, die sie für Biermann hatte. Doch wenn ich mir sein Leben vor Augen führe, die Demütigungen und Repressalien, die er erleiden musste, dann frage ich mich abermals, weshalb es hierzulande noch immer als schick oder zumindest als akzeptabel gilt, links zu sein. Hat „links“ mit den ungeheuren Verbrechen, die im Namen des Kommunismus begangen wurden, überhaupt nichts zu tun?
Unbestreitbar gibt es einen Zusammenhang. Er wird höchst anschaulich, wenn jemand wie Dietmar Bartsch in der „Tagesschau“ vor die Kamera tritt, um das jeweilige Versagen der Bundesregierung zu brandmarken. Bartsch wurde 1977 Mitglied der SED, er arbeitete an der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der KPdSU in Moskau, er war Schatzmeister der Nachfolgepartei der SED, die sich PDS nannte. Jedes Mal, wenn ich Dietmar Bartsch in der „Tagesschau“ sehe, versuche ich mir vorzustellen, wie es im entgegengesetzten Fall wäre: Wenn ein Politiker, ehemaliges Mitglied der NSDAP und heute aktiv in irgendeiner mehr oder weniger geläuterten Nachfolgepartei, sich öffentlich zu Wort melden wollte.
Hatten die Terroristen der RAF nichts mit der Linken zu tun?
Nein, ich behaupte nicht, die SED sei eine ebenso schlimme Partei wie die NSDAP gewesen. Es kommt mir nur seltsam vor, dass die Mitarbeit in kommunistischen Institutionen der Sowjetunion als interessantes biografisches Faktum zu gelten scheint, während im ideologisch entgegengesetzten Fall ernste Konsequenzen zu gewärtigen wären – zurecht, wie ich finde.
Was mich allerdings stört, ist der Mangel an historischer Gerechtigkeit, ist die vorherrschende Weigerung, die „rechten“ Verbrechen ebenso im Gedächtnis zu behalten wie die „linken“. Hat man vergessen, dass die Zahl der Menschen, die dem Kommunismus zum Opfer gefallen sind, vermutlich weit größer ist als die der Opfer des Dritten Reiches? Ich weiß, dass solche Vergleiche nicht weit führen, allein schon deshalb, weil die Nationalsozialisten nur zwölf Jahre lang Unheil anrichten konnten (dies allerdings mit größter Effizienz), während die Kommunisten nahezu hundert Jahre Zeit hatten, den neuen Menschen zu erziehen. Die Verwüstungen, die sie dabei über Generationen hinweg in den Seelen der Menschen angerichtet haben, sind noch lange nicht ausgestanden.
Und weiter: Hatten die Terroristen der sogenannten Roten Armee Fraktion nichts mit der Linken zu tun? Sicherlich: Sie waren „Hitlers Kinder“, wie der Titel des 1977 erschienenen Buches von Jillian Becker lautete. Aber sie waren eben auch Produkte des herrschenden Zeitgeistes, sie hatten sich im Bannkreis der „außerparlamentarischen Opposition“ und des Neomarxismus bewegt, sie hatten Ideen, die in vielen linken Köpfen spukten, wörtlich genommen und in die Tat umgesetzt. Als der Generalbundesanwalt Siegfried Buback am 7. April 1977 von Mitgliedern der RAF erschossen wurde (und mit ihm sein Fahrer Wolfgang Göbel sowie der Leiter der Fahrbereitschaft Georg Wurster), bekannte der anonyme „Göttinger Mescalero“ in der Zeitschrift des Göttinger AStA seine „klammheimliche Freude“ über den Mord. Und es war klar, dass diese Freude von nicht wenigen geteilt wurde.
Damals jedoch war ich davon überzeugt, dass kritische Fragen nach einer linken Mitverantwortung für den Terror der RAF nur dazu dienen sollten, die Achtundsechziger insgesamt zu diskreditieren. Denn darum ging es in dem Streit um das „Sympathisantentum“ und die „geistige Mittäterschaft“: Hatten die linksradikalen Intellektuellen, die in der „BRD“ nur eine modernisierte Variante des Faschismus erblickten, mit dem Terror irgendetwas zu tun? Schon die Frage schien mir gänzlich unerlaubt.
Eine Prophezeiung, deren Wahrheit uns eingeholt hat
Ein Buch, das diese Stimmung dokumentiert, sind die 1977 erschienenen „Briefe zur Verteidigung der Republik“ (Freimut Duve / Heinrich Böll / Klaus Staeck, Hrsg.: Briefe zur Verteidigung der Republik. Reinbek bei Hamburg 1977). Wenn ich sie heute lese, dann sehe ich zu meiner Verwunderung die gewaltige Anzahl namhafter Schriftsteller und Intellektueller, die den Zusammenhang von Terror und linker Ideologie entweder leugneten oder begütigend kleinredeten. Damals habe ich mich nicht darüber gewundert. Ich stand im Bann jener oft zitierten, jener wahrhaft furchtbaren Zeilen aus dem Epilog von Brechts „Arturo Ui“: „Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch.“
Die von Botho Strauß vor Jahren geforderte Äquidistanz zu den verbrecherischen Großideologien läuft ins Leere, weil Kommunismus und Sozialismus noch immer für letztlich humanitäre Ideen gehalten werden, während alles politisch Konservative unverzüglich und erfolgreich in die Nähe des Rechtsextremismus gerückt und somit erledigt wird. Ein Beispiel dafür war die Reaktion auf den Essay „Anschwellender Bocksgesang“, den Botho Strauß vor 25 Jahren im „Spiegel“ veröffentlicht hatte. Die Passage, an der sich Widerspruch, auch Hohn und Spott entzündeten, lautete:
„Wir warnen etwas zu selbstgefällig vor den nationalistischen Strömungen in den osteuropäischen und mittelasiatischen Neu-Staaten. Daß jemand in Tadschikistan es als politischen Auftrag begreift, seine Sprache zu erhalten, wie wir unsere Gewässer, das verstehen wir nicht mehr. Daß ein Volk sein Sittengesetz gegen andere behaupten will und dafür bereit ist, Blutopfer zu bringen, das verstehen wir nicht mehr und halten es in unserer liberal-libertären Selbstbezogenheit für falsch und verwerflich. Es ziehen aber Konflikte herauf, die sich nicht mehr ökonomisch befrieden lassen; bei denen es eine nachteilige Rolle spielen könnte, daß der reiche Westeuropäer sozusagen auch sittlich über seine Verhältnisse gelebt hat, da hier das 'Machbare' am wenigsten an eine Grenze stieß. Es ist gleichgültig, wie wir es bewerten, es wird schwer zu bekämpfen sein: daß die alten Dinge nicht einfach tot sind, daß der Mensch, der Einzelne wie der Volkszugehörige, nicht einfach nur von heute ist. Zwischen den Kräften des Hergebrachten und denen des ständigen Fortbringens, Abservierens und Auslöschens wird es Krieg geben.“
(Heimo Schwilk, Ulrich Schacht, Hrsg.: Die selbstbewußte Nation. „Anschwellender Bocksgesang“ und weitere Beiträge zu einer deutschen Debatte. Frankfurt am Main / Berlin 1994, S.21 f.)
Das war eine Prophezeiung, deren Wahrheit uns heute, 25 Jahre später, eingeholt hat. Was allerdings die linksgrünen Meinungsführer niemals zugeben würden.
Der Konservatismus, der mir vorschwebt, ist kein politisches Programm, und schon gar nicht folgt er Armin Mohlers „konservativer Revolution“. Er hat auch nichts zu tun mit der Idee des „geheimen Deutschlands“, die im Kreis der mir gründlich suspekten George-Jünger offenbar noch immer herumspukt. Mein Konservatismus versucht die „Tiefenerinnerung“, von der Strauß spricht, lebendig zu halten, also ein historisches Bewusstsein zu entwickeln, das nicht bei „Auschwitz“ endet, sondern die ganze Geschichte unseres Herkommens kennt.
Sie ist unweigerlich von dem geprägt, was manche verächtlich „christliches Abendland“ nennen. Die kulturelle Tradition des Christentums ist derart alltäglich und selbstverständlich, dass sie vielen gar nicht mehr bewusst ist. Es fiele ihnen vielleicht unangenehm auf, wenn man den Sonntag abschaffte oder gar Weihnachten, wenn die Kirchen gänzlich umgewidmet oder zu Museen würden und von den Friedhöfen die Kreuze verschwänden.
Immerhin könnte uns jetzt, da uns mit dem Islam ein neuer religiöser Ernst begegnet, die Bedeutung des eigenen kulturellen Herkommens etwas heller einleuchten. Leider sieht es danach nicht aus. Im Gegenteil beobachte ich nicht nur in Deutschland einen seltsamen Selbsthass, der alles, was nach christlicher Tradition aussieht, unter dem Deckmantel multikultureller Fairness verleugnet. Man schämt sich der eigenen Kultur. Wahrscheinlich nicht einmal das: Man kennt sie nicht.
Auszug aus dem Buch Heimatlos – Bekenntnisse eines Konservativen, Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2017 von Ulrich Greiner.
Den hier publizierten Auszug trug Ulrich Greiner am 11. April 2018 in der Bibliothek des Konservatismus vor. Im zweiten Teil dieses Beitrages lesen Sie morgen: Sich des Eigenen vergewissern.
Ulrich Greiner, geb.1945, war Feuilleton-Chef der ZEIT und verantwortlicher Redakteur des Ressorts Literatur und ist nun Autor der ZEIT. Als Gastprofessor lehrte er in Hamburg, Essen, Göttingen und St. Louis. Er ist Mitglied des Pen sowie Präsident der Freien Akademie der Künste in Hamburg. 2015 wurde er mit dem Tractatus-Preis für philosophische Essayistik ausgezeichnet.