Gastautor / 15.05.2018 / 10:00 / Foto: Tim Maxeiner / 9 / Seite ausdrucken

Ich bin ja nicht vorsätzlich konservativ geworden (2)

Von Ulrich Greiner.

Es ist gängig, den humanitär gesinnten Zeitgenossen, der den Multikulturalismus begrüßt und die Willkommenskultur hoch hält, „links“ zu nennen, den realitätsbezogenen Zeitgenossen, der eine Obergrenze der Zuwanderung fordert und vor einer Islamisierung warnt, hingegen „rechts“. Was abermals in das öffentlich gepflegte Bild passt, die Linken seien weltoffen und die Rechten borniert. Letztlich geht es um die Kategorien des Eigenen und des Fremden. Wer links ist, neigt zum Internationalismus, er kann also das Eigene für nebensächlich halten und muss es nicht näher bestimmen. Als Konservativer jedoch kann ich mich vor dieser Frage nicht drücken, obwohl die möglichen Antworten in manche Fallen führen.

Unbestreitbar bedienen sich viele Anstrengungen, das Eigene zu definieren, bei rechten oder rechtsradikalen Theorien. Dazu gehört der Begriff des Völkischen, der aus zweierlei Gründen unbrauchbar ist. Erstens ist er rassisch und biologisch aufgeladen und führt allein schon deshalb in die Irre, weil die deutsche Bevölkerung zu keiner Zeit in diesem Sinn homogen gewesen ist – auch schon vor den jüngsten Zuwanderungen nicht. Und zweitens hat der Begriff eine wahrhaft üble Geschichte, die allgemein bekannt sein sollte und die es verbietet, mit dem „Völkischen“, was immer das sein soll, auch nur versuchsweise zu operieren. 

Es gibt allerdings Versuche, das Eigene nicht rassisch-biologisch, sondern kulturell zu bestimmen und an die zunächst unverdächtige Tradition der Romantik anzuknüpfen. Damals erblickte man im Brauchtum, in den alten Liedern und Erzählungen den ungehobenen Schatz dessen, was eigentlich das Deutsche sei. Es war die Zeit, als die Germanistik zur Wissenschaft wurde, als Clemens Brentano und Achim von Arnim die Volksliedersammlung „Des Knaben Wunderhorn“ präsentierten und die Brüder Grimm ihre berühmten „Kinder- und Hausmärchen“ sammelten.

Später zeigte es sich, dass nicht wenige dieser Märchen französischen und orientalischen Ursprungs waren, also keineswegs deutsch, und dass viele Lieder, die in „Des Knaben Wunderhorn“ als Volkslieder entdeckt worden waren, von älteren Dichtern etwa des Barock stammten und von den beiden Herausgebern freihändig umgedichtet und ihren Zwecken angepasst worden waren. Mit anderen Worten: Es führt in meinen Augen nicht wesentlich weiter, wenn man das Eigene im Sinne eines „deutschen Wesens“ kulturell überhöhen und somit eingrenzen will.

In den Jahren der Revolte trat ich aus der Kirche aus

Ein anderer Versuch ist der Begriff der Leitkultur. Zuweilen wird er verknüpft mit dem des christlichen Abendlandes. Dieses nun bedeutet den meisten Zeitgenossen nur noch wenig. Daraus folgt aber keineswegs, dass es bedeutungslos geworden wäre. Auch wenn die Zahl der aktiven Christen abgenommen hat, so sind doch die kulturellen Traditionen, in denen wir leben und denken, vom Christentum geprägt. Auch das Grundgesetz, nicht nur seine Präambel, ist ohne christliche Wertvorstellungen nicht denkbar. Dabei kommt es nicht darauf an, dass die Nachkommen dieses christlich-kulturellen Zusammenhangs tatsächlich noch an Gott glauben, zumal die Frage, was das konkret heißen solle, an Gott zu glauben, selbst von Gläubigen nicht leicht zu beantworten wäre, sondern nur darauf, dass eine Tradition, die sich über Jahrhunderte herangebildet hat, nicht von heute auf morgen verschwindet.

Mir selber hat dieser Gedanke erst spät eingeleuchtet. Katholisch erzogen, als Ministrant und später als Cusanus-Stipendiat zu bescheidenen Ehren gelangt, trat ich in den Jahren der Revolte aus der Kirche aus – um Dezennien später wieder zurückzukehren. Ich erspare Ihnen die Geschichte meiner doppelten Konversion und sage nur dies: Es war die ehrfurchtgebietende Geschichte der christlichen Kultur samt ihrer wunderbaren Werke der Architektur, der Musik und der bildenden Kunst, die mich allmählich nachdenklich stimmten und mich schließlich darauf brachten, dass dieser seitdem nie übertroffene Reichtum an Schönheit und gedanklicher Tiefe etwas mit seiner Ursprungsidee, also mit der christlichen Botschaft zu tun haben müsse. 

Was genau? Es war „die Erfindung des Individuums“, wie der englische Ideenhistoriker Larry Siedentopp es genannt hat. Sie entstand aus der christlichen Überzeugung, dass alle Menschen von Gott geschaffen seien und daher die gleichen Rechte hätten. Das waren moralische, „natürliche“ Rechte, im Unterschied zu jenen, die sich aus dem Herkommen und dem Stand ergaben. Siedentopp schildert in seinem Buch "Die Erfindung des Individuums – Der Liberalismus und die westliche Welt" , wie die Entwicklung des Kirchenrechts, das seinerseits eine Umformung des Römischen Rechts war, den Gleichheitsgedanken begründet hat, auch wenn er zunächst noch nicht „demokratisch“ in unserem heutigen Verständnis war, denn als oberster Richter in moralischen Dingen verstand sich der Papst in seiner Rolle als Stellvertreter Christi. 

Siedentopp bezeichnet diese Entwicklung, die sich hauptsächlich im 12. Jahrhundert vollzog, als „Papstrevolution“ und fragt: „Wodurch wurde die Papstrevolution so dynamisch, dass sie auch die weltliche Regierung zu verändern begann?“ Seine Antwort: „Der tiefere Grund war die Erfindung des Individuums, die Einführung einer primären sozialen Rolle, die die radikalen Statusunterschiede der traditionellen Rollen schwächte. Die Statusgleichheit, die dieser neuen Rolle innewohnte, stellte in Europa die Weichen für eine Entwicklung, die bis dahin noch keine menschliche Gesellschaft genommen hatte.“

Diese Entwicklung war durchaus doppeldeutig. Die Transformation eines moralischen Status (der „Seele“) in eine soziale Rolle habe ein neues Bild der Gesellschaft geprägt, einer Gesellschaft, ich zitiere Siedentopp, „als Zusammenschluss von Individuen statt von Familien, Stämmen oder Kasten. Ermöglicht wurde das durch den Anspruch des Papsttums auf 'Souveränität'. Denn die Forderung nach gleicher Unterwerfung unter eine souveräne Autorität hatte eine bemerkenswerte Konsequenz. Kein Untertan eines Souveräns hat irgendeine prinzipielle Verpflichtung, jemand anderem als diesem zu gehorchen. Folglich ist das Recht zu befehlen oder die Pflicht zu gehorchen nicht mehr untrennbar mit bestimmten ererbten oder gewohnheitsrechtlichen Rollen verbunden. Durch die Existenz einer souveränen Autorität bekommen die Akteure eine Distanz zu anderen Rollen, die sie zufällig bekleiden. Sie verwandeln sich in Rollenträger, Akteure, deren Identität nicht erschöpfend durch ihre anderen Rollen definiert wird. Sie werden veranlasst, ihr eigenes Wollen zu entwickeln und Individuen zu werden.“

Säkularismus – Unterschied zwischen Orient und Okzident

Mit leiser Ironie bemerkt Siedentopp am Ende dieses Gedankengangs: „Die Päpste und Kirchenrechtler, die die Papstrevolution vorantrieben, werden wohl kaum alle Konsequenzen ihrer Reformen vorausgesehen haben.“ Zu den Konsequenzen zählte der Liberalismus, der die Freiheit des Individuums in den Mittelpunkt stellte, die Trennung von privatem Glauben und öffentlicher Angelegenheit auf die Tagesordnung setzte und damit die Trennung von Staat und Kirche. Der Säkularismus war die unbeabsichtigte Konsequenz, die aus der Idee der moralischen Gleichheit aller Menschen folgte. Und diese Konsequenz bildet bis heute den Unterschied zwischen Orient und Okzident. 

Wenn man also eine westlich-europäische Identität und daraus abgeleitet eine deutsche „Leitkultur“ bestimmen wollte, so müsste man sie in eben diesen ideengeschichtlichen Zusammenhängen suchen. Das Problem aller Identitätsbestimmungen jedoch liegt darin, dass die Frage nach dem Eigenen in der Regel erst dann brennend wird, wenn sich das Eigene nicht mehr von selbst versteht. Dies ist gegenwärtig der Fall. Die Gegner des Gedankens einer Leitkultur nämlich behaupten, es gebe sie in Wahrheit gar nicht.

Natürlich gibt es sie, und mir hat die damals heftig kritisierte Initiative des Bundesinnenminister Thomas de Maizière zum Thema Leitkultur eingeleuchtet. Er sagte im April 2017, der Begriff Leitkultur habe zwei Bestandteile: „Zunächst das Wort Kultur. Das zeigt, worum es geht, nämlich nicht um Rechtsregeln, sondern ungeschriebene Regeln unseres Zusammenlebens. Und das Wort 'leiten' ist etwas anderes als vorschreiben oder verpflichten. Vielmehr geht es um das, was uns leitet, was uns wichtig ist, was Richtschnur ist.“ (BILD AM SONNTAG) Von den zehn Thesen des Ministers scheinen mir zwei erwähnenswert. Erstens der Hinweis, dass wir Erben unserer Geschichte sind, und aus der folgt „ein besonderes Verhältnis zum Existenzrecht Israels“. Und zweitens die Feststellung, dass dieses Land christlich geprägt ist. „Wir leben im religiösen Frieden. Und die Grundlage dafür ist der unbedingte Vorrang des Rechts über alle religiösen Regeln.“

Was de Maizière nicht eigens aufführt, was aber selbstverständlich zur Leitkultur dazu gehört und worin sie zuallererst sichtbar und hörbar wird, ist die deutsche Sprache. Es liegt auf der Hand, dass eine gemeinsame Sprache das stärkste Bindeglied ist, das Menschen einer Region miteinander verbindet und unter Umständen zu einer Nation macht. Die Stellung des Deutschen allerdings ist prekär. Sie wird „von unten“ angefochten durch die große Zahl von Einwanderern, die das Deutsche kaum oder gar nicht beherrschen. Mehr noch aber wird sie „von oben“ angefochten, von der Elite. Man schätzt, dass 80 bis 85 Prozent der deutschen Naturwissenschaftler auf Englisch publizieren, 50 Prozent der Sozialwissenschaftler und 20 Prozent der Geisteswissenschaftler. 

Dies wirkt auf den Wissenschaftsbetrieb zurück. Einmal dadurch, dass in Deutschland ansässige Verlage immer häufiger nur noch englische Zeitschriftenbeiträge und Buchmanuskripte akzeptieren. Zum andern zeigt sich die Dominanz des Englischen darin, dass sich die Maßstäbe des Akademischen an die der englischsprachigen Welt angleichen. Man sieht das an der schmerzhaften Implantation der Bologna-Reform in die deutsche Universität und des in deutscher Zunge immer noch unästhetischen „Bätschelers“; mehr noch aber daran, dass die meisten Förderanträge auf Englisch zu stellen sind; und schließlich daran, dass es etwa 700 englischsprachige Studiengänge gibt.

Dass außerdem die Wirtschaft Englisch spricht, versteht sich von selbst. Als Thomas Middelhoff, seinerzeit Chef von Bertelsmann, die mehrheitlich deutschen Mitarbeiter dazu anhielt, englisch miteinander zu reden, erntete er hier und da noch Irritationen. Inzwischen haben die meisten deutschen Firmen mit internationaler Betätigung Englisch zu ihrer Corporate Language bestimmt. Was dazu führt, dass Techniker oder Wissenschaftler aus der Dritten Welt, die Deutsch gelernt haben, um in Deutschland etwas zu werden, bei Siemens etwa erfahren müssen, sie hätten besser Englisch gelernt. 

Englisch als Kluft zwischen Elite und Staatsvolk

Dass schließlich die Politik das Deutsche immer mehr aufgibt, ist mit der Tatsache, dass Englisch die Sprache der Diplomatie ist, nicht vollständig erklärt. Längst ist es Usus, dass der deutsche Botschafter den deutschen Pavillon auf der Biennale in Venedig mit einer englischen Ansprache eröffnet, selbst wenn die meisten Gäste Deutsche oder Italiener sind. In der Europäischen Union gilt Deutsch als eine der drei Arbeitssprachen, es wird aber nicht angewendet – auch deshalb nicht, weil die deutschen Politiker keinen sonderlichen Wert darauf zu legen scheinen. 

Die Elite in einer demokratischen Gesellschaft müsste doch, so glaube ich, darauf hinwirken, dass ihre Arbeit von einer interessierten Öffentlichkeit wahrgenommen und diskutiert werden kann. Die Chancen dazu verringern sich mit der Ausdehnung des Englischen. Es besteht die Gefahr, dass die ohnedies nicht geringe Kluft zwischen der Elite und dem Staatsvolk unüberbrückbar wird. Die Bessergestellten neigen dazu, aus sachlichen Gründen, aber auch zum Zweck des persönlichen Fortkommens, sich immer mehr aufs Englische zu verlegen. Im wohlhabenden und ambitionierten Bürgertum gehört es zum guten Ton, die Kinder auf englische Internate zu schicken. Private deutsche Hochschulen, wo selbstverständlich Englisch gesprochen wird, werden von den besseren Kreisen bevorzugt. 

Auch hier steigern sich die Entwicklungen gegenseitig: Je mehr in den Spitzenpositionen von Wirtschaft, Wissenschaft und Politik Englisch gesprochen wird, umso mehr sehen sich jene Eltern, die es sich leisten können, dazu veranlasst, eine englischsprachige Ausbildung für das Kind zu wählen, die wiederum dazu beiträgt, dass in den Kanzleien und Konferenzräumen Englisch gesprochen wird. Dem entspricht die traurige Tatsache, dass die Sprachfähigkeit in den unteren sozialen Schichten abnimmt, die deutsche wohlgemerkt, und zwar keineswegs nur bei Migrationskindern. Man kann sich ja fragen, warum sie Deutsch lernen sollen, wenn derjenige, der nach oben kommen will, vor allem Englisch können muss. Der EU-Kommissar Günther Oettinger hat einmal gesagt, Deutsch bleibe die Sprache der Familie und der Freizeit, die „Arbeitssprache“ aber sei Englisch. 

Ist derjenige, der sich für die Pflege und Bewahrung des Deutschen als eines zentralen Teils unserer Identität engagiert, ein Konservativer? Vermutlich, und manche Internationalisten werden ihn für rechts halten. Er wird es in Kauf nehmen. Denn zur Leitkultur zählt die deutsche Sprache, in der einst literarische und philosophische Werke geschrieben wurden, die zum kulturellen Erbe der ganzen Welt gehören. Wenn Kant oder Hegel auf Englisch publiziert hätten oder hätten publizieren müssen, wäre ihre Philosophie eine andere geworden. Ich behaupte keineswegs, dass man Großes nur auf deutsch denken könne, und ich weiß, dass Leibniz sowohl deutsch wie lateinisch und französisch geschrieben hat. Doch wenn der sprachliche Zusammenhang abreißt, wenn ältere Wendungen und gedankliche Figuren mangels Bildung oder Interesse nicht mehr gekannt werden, ist die Leitkultur gefährdet, und diejenigen, die sie beschwören, sollten darauf hinwirken, dass in unseren Schulen und Universitäten hinreichend Deutsch gelernt wird. Mir scheint, dass diese Aufgabe mindestens ebenso dringlich ist wie der Spracherwerb der Eingewanderten. Und mit Sprachkenntnis im Sinne einer Leitkultur meine ich nicht allein die Beherrschung von Syntax und Grammatik, sondern auch die Fähigkeit (und das Interesse dafür), den geistigen Raum zu betreten und kennenzulernen, der unsere Kultur ausmacht.

Begeisterung, Empörung, Betroffenheit 

Ein anderer Aspekt unserer Identität wird bei bewegenden kollektiven Ereignissen sichtbar, als Begeisterung, als Empörung oder als Betroffenheit. Die Reaktionen auf den Fall der Mauer 1989, der heitere Sommer der Fußball-Weltmeisterschaft 2006, die Welle der Hilfsbereitschaft für die eintreffenden Flüchtlinge im Herbst 2015 und schließlich auch das allgemeine Entsetzen über die Ereignisse der Kölner Silvesternacht kurz darauf hätten sich in anderen Ländern auf andere Weise Ausdruck verschafft. Diese Identität ist Ausdruck einer Mentalität, einer durch geschichtliche Erfahrung geprägten kollektiven Reaktionsweise. Sie ist nichts, worauf man stolz sein müsste oder dürfte.

Um Stolz geht es nicht. Es geht um den geschichtlichen Raum, in dem die Menschen, ob sie wollen oder nicht, heranwachsen und den sie sich aneignen müssen, um selbstbewusste Mitglieder ihrer Gesellschaft zu werden. Erst so erlangen sie das, was man Identität nennt. Und dazu gehören auch die Toten. Jede Kultur fußt auf den Gedanken, den Leistungen, den Kämpfen und Leiden der Vorfahren, jeder Mensch steht auf den Schultern derjenigen, die ihn gezeugt, geboren und erzogen haben. Die Freiheitsrechte zum Beispiel, die wir gedankenlos genießen, sind nicht vom Himmel gefallen, sondern von vorausgegangenen Generationen erkämpft worden. 

In seiner berühmten Rede am 26. Mai 1789 in Jena „Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?“ hat Friedrich Schiller gesagt: „Selbst in den alltäglichsten Verrichtungen des bürgerlichen Lebens können wir es nicht vermeiden, die Schuldner vergangener Jahrhunderte zu werden.“ (Friedrich Schiller: Sämtliche Werke Band IV. Hrsg. Peter-André Alt. München 2004, S.760f.) Daraus leitet er nicht allein die Notwendigkeit ab, die Geschichte zu kennen, deren vorläufiges Endprodukt wir sind, sondern auch die Verpflichtung, unseren Nachkommen diese Kenntnis zu überliefern.

Schiller spricht in seiner Vorlesung von der Weltgeschichte, in welche die deutsche Geschichte als ihr kleiner Teil eingebunden ist. Eine Tradition ist umso sichtbarer und spürbarer, je räumlich näher sie den Mitgliedern einer bestimmten Gesellschaft liegt und ihr somit auf je verschiedene Weise eine Identität verleiht. Diese Tradition ist keineswegs nur nationalstaatlich bestimmt. In Regionen und Landschaften bilden sich Zugehörigkeitsgefühle, die auf ein gemeinsames Brauchtum oder einen bestimmten Dialekt zurückgehen. Und auf besondere Weise prägt die Tradition den Mikrokosmos der Generationenfolge. Die verstorbenen Mitglieder einer Familie leben in den Erinnerungen fort, in den überlieferten Erzählungen, in den Tagebüchern, Briefen, Fotos, sie kehren wieder in den Eigenschaften und Eigenheiten ihrer Nachkommen. Dass dieser Zusammenhang in unserem Fall ein deutscher ist, versteht sich von selbst. Die Tatsache, dass dieser „deutsche Zusammenhang“ immerzu von anderen Sprachen und Kulturen mitbestimmt worden ist, ändert nichts daran, dass es ihn gibt.

Wenn wir von den Toten reden, so gehört zur deutschen kulturellen Identität unweigerlich jenes Faktum, das wir mit dem Stichwort „Auschwitz“ unzulänglich bezeichnen. Für mich und meine Generation jedenfalls war es auf eine bedrückende, letztlich unvermeidliche Weise prägend, und ich glaube, dass dies auch für meine Kinder gilt. Die deutsche Nachkriegsgeschichte – im Osten wie im Westen – hat im Bann dieser Ungeheuerlichkeit gestanden. Dass dieser Bann allmählich schwächer wird, ist der kulturgesetzliche Lauf der Dinge, doch kann man voraussehen, dass die Tatsache, ein Deutscher zu sein, auch in ferner Zukunft noch von dieser Vergangenheit gefärbt sein wird.

Sie ist Teil der „deutschen kulturellen Identität“, und man muss sich fragen, wie die zugewanderten Deutschen damit umgehen oder umgehen werden. Für sie ist „Auschwitz“ bestenfalls ein schulischer Lernstoff, sie haben damit zunächst nichts zu tun. Doch wenn sie eines Tages wirklich „integriert“ sein sollen, darf ihnen das Thema nicht gleichgültig sein. Es ist also durchaus sinnvoll, sogar notwendig, sich des Eigenen im Gegensatz zum Nicht-Eigenen oder Fremden von Zeit zu Zeit fragend zu vergewissern, und selbstverständlich kann das Fremde animierend und bereichernd wirken. Das muss aber nicht in jedem Fall so sein.

„Fremdenzimmer“ war früher sehr gebräuchlich

Was bedeutet „fremd“? Es ist zunächst eine sachliche Bezeichnung. Das 1828 gegründete „Hamburger Fremdenblatt“ zum Beispiel hieß so, weil es ursprünglich die Liste der ankommenden Fremden abdruckte. Der Titel wurde noch Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg vom „Hamburger Abendblatt“ als Unterzeile verwendet. Auch die Bezeichnung „Fremdenzimmer“ war früher in Gasthöfen die Regel. Heute ist sie weitgehend verschwunden, doch weist sie darauf hin, dass der Fremde, jedenfalls unter friedlichen Umständen, immer auch der Gast war und noch ist. Er genießt Privilegien, die mit gewissen Pflichten verbunden sind. Der Fremde ist der von außen kommende Mensch, der sich von den Einheimischen zunächst dadurch unterscheidet, dass er nicht einheimisch ist. Und „das Fremde“ besteht ganz einfach darin, dass es „dem Eigenen“ entgegengesetzt ist. 

Als ich einmal den Maler Wolfgang Mattheuer in Leipzig besuchte – es war kurz nach der Wende –, erzählte er mir, dass sein Sohn, Student an der berühmten Hochschule für Grafik und Buchkunst, zusammen mit einigen Kommilitonen beschlossen hatte, endlich, da jetzt Reisefreiheit herrschte, nach Italien, an den ewigen Sehnsuchtsort aller bildenden Künstler zu reisen. Gemeinsam machte man Pläne, traf Verabredungen, doch als es ernst wurde, sagte einer nach dem anderen ab. Die Gründe, ob Krankheit oder Geldmangel, waren allesamt, so Mattheuer, vorgeschoben. Die wahre Ursache habe in nichts anderem bestanden als in der Furcht vor der Fremde. Ich erinnerte mich, als ich ihm zuhörte, an die panischen Gefühle, die mich wenige Tage vor dem Abflug befallen hatten, als ich zum ersten Mal in die USA reiste, und nur die Tatsache, dass ich in New York mit einem Freund fest verabredet war, bewog mich dazu, meinem Vorsatz treu zu bleiben. 

Seitdem weiß ich, dass das Reisen eine Sache der Übung ist. Man sollte bedenken, dass diese Übung nicht allen Bürgern in gleicher Weise vertraut ist – aus finanziellen Gründen oder wegen fehlender Vorbilder. Der Idee des Multikulturalismus nämlich hängen vor allem jene an, die gebildet und betucht genug sind, um in der Fremde, die sie oftmals bereist haben, keine Bedrohung, sondern eine Bereicherung zu erblicken. Sie haben das T-Bone-Steak samt Bourbon und die Involtini plus Chianti am Ursprungsort genießen können. Sie sollten jenen, die solches Vergnügen am Fremden nicht erfahren haben, daraus keinen Vorwurf machen. Und die Bewohner der zumeist gut ausgestatteten Wohnungen am Prenzlauer Berg oder Eppendorfer Baum müssen in der Regel die industrielle Reservearmee, die mit der Flüchtlingswelle ins Land kam, nicht fürchten.

Ein Effekt der Globalisierung besteht darin, dass sie die Vermischung des Eigenen und des Fremden dramatisch befördert hat. Sie erleichtert das Reisen – und sie erzwingt es. Die Menge des Fremden wird potenziell unendlich, und das Ansässige, Einheimische verliert an Bedeutung. Selbst in einer Großstadt, die Hamburg schon 1828 war, als das „Fremdenblatt“ entstand, waren die Fremden noch leicht zu erkennen, weil man die Einheimischen kannte. Derlei ist heute, da Touristen und Immigranten die Szene bevölkern, kaum mehr vorstellbar. Gleichwohl ist die Kategorie des „Fremden“ ebenso wenig verschwunden wie die des „Eigenen“ oder „Vertrauten“. Es sind Gegensatzbegriffe, an denen wir uns intuitiv orientieren. 

Es gibt ein zuträgliches Verhältnis des Fremden und des Eigenen, und also auch ein unzuträgliches. Man kann die Differenz nicht dadurch zum Verschwinden bringen, dass man alles Fremde für interessant, für bereichernd erklärt, und jeden, der sich lieber unter seinesgleichen aufhält, für zurückgeblieben oder reaktionär. Die begriffslogische Dialektik des Fremden und des Eigenen ist nicht auflösbar. Das Problem verschärft sich dadurch, dass es stärkere oder schwächere Grade der Fremdheit gibt. Die kulturellen Unterschiede können so groß sein, dass sie selbst in der zweiten oder dritten Generation noch wirksam sind.

Man konnte das im Juli 2016 bei einer Demonstration in Köln beobachten, wo tausende von türkischstämmigen Deutschen einem fernen Diktator zujubelten und nicht wenige von ihnen die Einführung der Todesstrafe in der Türkei verlangten. Ein ähnlicher Vorgang wiederholte sich, als der türkische Präsident Erdoğan im April 2017 ein Referendum abhalten ließ, mit dessen Hilfe er die Gewaltenteilung aufheben und seine Macht vergrößern wollte. Das Referendum ist bekanntlich knapp zu seinen Gunsten ausgegangen. Was die deutsche Öffentlichkeit am meisten verstörte, war die Tatsache, dass ein erschreckend großer Prozentsatz der hier lebenden Türken diesem Schritt zu einer Despotie zugestimmt hat. Es wurde die Frage laut, ob die Integration nicht gescheitert sei.

Die Warnung vor einer Islamisierung ist keineswegs absurd

Anlässlich der Debatte über einen Beitritt der Türkei zur EU hat der frühere Verfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde Ende 2004 bemerkt, dass ein gemeinsames „Wir-Gefühl“ in demokratischen Gesellschaften stärker ausgebildet sein müsse als in autoritären oder technokratischen: „Es prägt sich darin aus, dass mental wie auch emotional dasjenige, was die anderen betrifft, auch mich angeht, nicht von der eigenen Existenz getrennt wird. Auf dieser Grundlage kommt es – Ausdruck der Solidarität – zur Anerkennung gemeinsamer Verantwortung, von Einstandspflichten und wechselseitiger Leistungsbereitschaft.“ Er fügte hinzu: „In dem Maße, in dem eine Gemeinschaft auf demokratische Legitimationsverfahren angelegt ist, müssen die Entscheidungen von den Menschen positiv mitgetragen werden, als von ihnen selbst getroffene und ausgehende. Daher bedarf es in weiterem Umfang gemeinsamer Auffassungen und Zielvorstellungen.“ 

Es ist leicht zu sehen, dass der Vorrat solcher Gemeinsamkeiten nicht bei allen zugewanderten Menschen gleich groß ist. Die vielen hunderttausend Flüchtlinge, die 2015 und später nach Deutschland kamen, stammen mehrheitlich aus dem islamischen Kulturkreis, und ihre Vorstellungen von Selbstbestimmung und Meinungsfreiheit unterscheiden sich erheblich von den unsrigen. Die Warnung vor einer Islamisierung ist keineswegs absurd. Ich zweifle daran, dass die Eingliederung so vieler Menschen, denen unsere Kultur und Geschichte fremd sind, in absehbarer Zeit gelingen kann. Im Übrigen glaube ich nicht, dass es einen generellen Fremdenhass in diesem Land gibt. Kroaten und Polen, Ukrainer und Russen, die hier in nennenswerter Anzahl leben, haben zuweilen mit abschätzigen Reaktionen zu tun, doch nicht mit einer Pogromstimmung – ganz zu schweigen von Japanern, Italienern, Franzosen und vielen anderen Ausländern. 

Seit jenem Herbst 2015, als Angela Merkel nicht nur ihr Herz, sondern auch die deutschen Grenzen für Flüchtlinge öffnete, ist die Frage, was sie dazu bewog, Gegenstand zahlloser Vermutungen geworden und mittlerweile auch ernsthafter Bücher. Man muss aber die inneren Gründe nicht kennen, um soviel über den äußeren Ablauf sagen zu können: Er bestand, alles in allem, in einem völligen Versagen der maßgeblichen Institutionen – und am Ende in einem „Kontrollverlust“, wie auch jene Medien mittlerweile zugeben, die zu Beginn an vorderster Stelle der Willkommenskultur gestanden und deren Gegner jener Spezies zugeordnet hatten, die mit dem Titel „Rechtspopulisten“ ausgesondert wurden. Es gab damals, wie man sich erinnern wird, offizielle Verlautbarungen der Regierung, die darauf hinausliefen, es sei unmöglich, die Grenzen zu schließen, weil es erstens dem Gebot der Humanität widerspreche und zweitens zu spät sei.

In der Tat musste man sich fragen, ob das christliche Gebot der Barmherzigkeit nicht dazu verpflichte, den Entrechteten und Entwurzelten Aufnahme zu gewähren. Die Vertreter der Kirchen jedenfalls haben mehrheitlich dazu aufgerufen. Doch muss ich als Konservativer auf die notwendige Unterscheidung zwischen Politik und Moral aufmerksam machen. Sich moralisch zu verhalten, ist zuallererst Sache des verantwortlichen Subjekts. Die Bedingungen dafür herzustellen, ist Sache der Regierung, die selber, da sie bloß ein befristet zuständiges Kollektiv ist, kein moralisch handelndes Subjekt sein kann, sondern bestenfalls diejenige Politik zu machen imstande ist, die moralisches Handeln ermöglicht. In der Hauptsache jedoch ist eine demokratisch gewählte Regierung dazu da, das Allgemeinwohl so weit wie möglich zu fördern sowie ihr Staatsvolk vor Unzuträglichkeiten und Gefahren  zu schützen. Sie ist nicht dazu da, alles Elend dieser Welt auf Kosten des Souveräns, dem sie Rechenschaft schuldet, zu lindern. Zwar kann das eine Ziel – das innere Wohl – zuweilen nur erreicht werden, wenn man das andere Ziel – das globale Wohl – nicht aus dem Auge verliert, aber die Priorität des Regierungshandelns hat unzweifelhaft beim inneren Wohl zu liegen.

Für das individuelle Verhalten gelten andere Maßstäbe. Als Christ bin ich zur Barmherzigkeit gegen andere verpflichtet, jedoch nur so weit, als ich sie, ohne mir selbst und den mir Anvertrauten zu schaden, ausüben kann. Meine Reichweite, gleichgütig, wie tatkräftig und vermögend ich bin, ist naturgemäß begrenzt. Und was das gigantische Gebot der Nächstenliebe betrifft, so muss ich mich fragen, wer denn, da ich ja nicht schlechthin alle lieben kann, jeweils der Nächste ist. Was das im Einzelfall bedeutet, ist wahrlich schwer zu entscheiden. Entscheiden kann es nur ich, nicht der Staat. 

Das Problem verschärft sich durch die Universalisierung der Moral. Die „Entgrenzung“, von der Kielmansegg spricht, betrifft ja nicht allein solche Dinge wie Freihandel oder Immigration, sondern vor allem auch meine moralische Zuständigkeit. Jede Plastiktüte, in die ich am Gemüsestand unbedacht meine Champignons einfülle, ist eine Gefahr für die Weltmeere; jedem Becher Milch, den ich sorglos trinke, sind die umweltschädlichen Verdauungsgase einer Kuh vorausgegangen; jeder Atemzug, den ich unbewusst tue, verschlechtert die Klimabilanz. An die Stelle des christlichen Gewissens, wo ich allein meinem Gott Rechenschaft schuldig wäre, ist das Weltgewissen getreten, dessen Kommissare niemanden davonkommen lassen.

Vor allem aber sind die Bewohner der westlichen Zivilisation unweigerlich an nahezu allem schuldig: an Hunger und Elend, an der Klimakatastrophe, an den Bürgerkriegen der Dritten Welt, und die Stichworte dazu lauten Kolonialismus, Imperialismus, Kapitalismus. Diese Anschauung führt am Ende zu einer Überdehnung der Moral und schließlich zu einer Moralisierung der Politik. Sie hat kaum mehr etwas mit dem zu tun, was einst Realpolitik hieß und der Verfolgung eigener Interessen diente, sondern sie scheint einer Art Weltgewissen verpflichtet, das es aber leider de facto nicht gibt. Dieses Missverständnis von Politik führt dann beispielsweise zu dem merkwürdigen Ergebnis, dass junge deutsche Männer unter hohem Risiko an der Front in Afghanistan stehen, während junge afghanische Männer hierzulande in der Behörde stehen und auf die Bearbeitung ihres Asylersuchens warten. 

Den ersten Teil dieses Beitrages finden Sie hier.

Auszug aus dem Buch Heimatlos – Bekenntnisse eines Konservativen, Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2017 von Ulrich Greiner.

Den hier publizierten Auszug trug Ulrich Greiner am 11. April 2018 in der Bibliothek des Konservatismus vor.

Ulrich Greiner, geb.1945, war Feuilleton-Chef der ZEIT und verantwortlicher Redakteur des Ressorts Literatur und ist nun Autor der ZEIT. Als Gastprofessor lehrte er in Hamburg, Essen, Göttingen und St. Louis. Er ist Mitglied des Pen sowie Präsident der Freien Akademie der Künste in Hamburg. 2015 wurde er mit dem Tractatus-Preis für philosophische Essayistik ausgezeichnet.

Foto: Tim Maxeiner

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Leserpost

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Rainer Nicolaisen / 15.05.2018

Vielem zuzustimmen,  etliches zu kritisieren, z. B. auch der zu zurückhaltende, gepflegte, ja betulich Ton. Ein zu länger Text, um adäquat zu kommentieren. Daher nur eine punktuelle Aufzählung: Der Papismus war von Beginn an anmaßend und böse. Das Individuum mußte nicht erst vor 1000 Jahren erfunden werden. Vorsicht und ein gewisses Mißtrauen gegenüber Fremden und dem Fremden gegenüber sind natürlich. Das Aufgeben der Deutschen Sprache ist in der Tat fatal und, ja, nur von der Mode der “Interneschenellität” geprägt, und das gegenüber einem “Anglo”/“Globalesisch”, daß mich z.T. eher an ein Pidgin gemahnt. “Auschwitz” als zur “kulturellen Identität”  gehörig zu bezeichnen ist reiner Blödsinn. Die Schande, die mit dem ersten modernen Genozid unter Ausnutzung der technischen Möglichkeiten, verbunden ist, wird bleiben, mich aber nicht dazu bringen, mich deswegen jemand Fremden gegenüber als minderwertig zu empfinden. Die -indirekte- Propagierung als “Erbschuld” geht mir gegen den Strich. Die Reaktion der christlichen Kirchen 2015 war nicht durch Moral, sondern durch Sentimentalismus, Emotionalismus, MORALISMUS, kurz Migrantizismus bestimmt. Und was ich in ihrem Text überhaupt nicht gut finde, Herr Greiner, ist das Fehlen der “” bei “Flüchtlingen” und “Eliten”. Wo gibts denn in Deutschland heutzutage eine Elite, die diese Bezeichnung verdiente? - Die früheren Bildungsbürger waren es vielleicht, doch im 3. Reich hat die eine Hälfte davon geholfen, die andere Hälfte zu vertreiben oder auszurotten. Da hat es keine Neubildung gegeben in erwähnenswerten Umfang.

Martin Wessner / 15.05.2018

An dem Begriff der “Leitkultur” leide ich persönlich. Man sollte ihn vielleicht besser durch das Wort “Basiskultur” oder auch “Fundamentskultur” ersetzen. Ansonsten bin ich mit dem Artikelautor aber weitestgehenst d’accord.

Michael Graf / 15.05.2018

Zitat: “Später zeigte es sich, dass nicht wenige dieser Märchen französischen und orientalischen Ursprungs waren, also keineswegs deutsch, und dass viele Lieder, die in „Des Knaben Wunderhorn“ als Volkslieder entdeckt worden waren, von älteren Dichtern etwa des Barock stammten und von den beiden Herausgebern freihändig umgedichtet und ihren Zwecken angepasst worden waren.” Ja, und? Die implizite Argumentation, nur weil “nicht wenige” Märchen und “viele” Lieder nicht in den deutschen Landen, bzw. nicht im Volk, entstanden sind, gäbe es keine fassbare deutsche Kultur ist doch hanebüchen. Die Übernahme fremder kultureller Dinge gibt und gab es doch in allen Kulturen, die in Kontakt mit mindestens einer anderen standen. Das als Ausschlusskriterium zu definieren käme mit einer Verleugnung der Existenz von Kulturen schlechthin gleich. Zitat: “Mit anderen Worten: Es führt in meinen Augen nicht wesentlich weiter, wenn man das Eigene im Sinne eines „deutschen Wesens“ kulturell überhöhen und somit eingrenzen will.” Wer spricht denn von überhöhen? Warum setzen sie die Anerkennung einer eigenen Kultur gleich mit ihrer Überhöhung? Das sind doch zwei verschiedene Dinge, bei denen das eine nicht zwangsläufig zum anderen führt. Und einzugrenzen ist der Sinn von Definitionen, der Begriff kommt ja auch aus dem lateinischen “definitio”=Abgrenzung. Ihn ihrem Artikel führen sie einige gute Punkte an, aber an anderen Stellen, wie den obigen beiden, ist ihre Argumentation sehr dünn, beinahe schon abstrus.

Marc Dombrowski / 15.05.2018

Sehr geehrter Herr Greiner, vielen Dank für Ihren sehr ausführlichen und interessanten Text.

Wolfgang Kaufmann / 15.05.2018

Bitte nicht das Publizieren in fremden Sprachen verteufeln. Im Mittelalter war Latein die Weltsprache, in der Aufklärung Französisch, heute Englisch. Immer noch sind Theologie und Philosophie ohne Deutschkenntnisse nicht möglich und sogar in der Wikipedia publizieren viele Nord- und Osteuropäer lieber auf Deutsch als auf Englisch. Freilich bleiben für Identität und Zusammenleben die regionalen Sprachen wichtig. — Übrigens überschätzen viele Deutsche ihre Englischkenntnisse und das sorgt dann nach dem peinlichen Auftritt oft für große Heiterkeit bei den Holländern, Schweden oder Rumänen. Freilich hinter unserem Rücken…

Dr. Dagmar Lorenz / 15.05.2018

Sehr geehrter Herr Greiner, dass Sie Ihre vergangenen Denkirrtümer aufarbeiten, verdient natürlich alle Achtung. Nur bitte bedenken Sie dabei, dass Sie einstmals selbst zu den einflussreichen Feuilletonisten zählten, die - vom Parnass der damaligen ZEITgeist-Eliten aus - dafür sorgten, dass die linken Utopien schließlich zu quasi unangreifbaren mainstream-Dogmen mutierten: mit den repressiven Folgen für Rede- und Meinungs- und Kunstfreiheit (Beispiel: Entfernung eines Eugen Gomringer-Gedichts von der Wand eines Hochschulgebäudes wegen mangelnder politischer Korrektheit), wie wir sie heute leider erfahren. Freilich: Die Vergangenheit kann man nicht ungeschehen machen. Dennoch könnten Sie hier und jetzt weitaus mehr tun, als Ihre autobiographische éducation sentimentale nachzuzeichnen: Treten Sie öffentlich auf! Organisieren Sie freie Debattenpodien! Kritisieren Sie öffentlich die einseitige und zusehends niveaulosere Berichterstattung Ihrer ehemaligen Wochenzeitung! Verwahren Sie sich gegen die unsäglich-diffamierenden Etikettierungen, die jeden treffen, der nicht “auf Linie” ist! Erheben Sie öffentlich Ihre Stimme jenseits von zwei Buchdeckeln! Im Übrigen: Die Kategorien von “links” und “rechts” erweisen sich als immer untauglicher zur Beschreibung geistiger Positionen: Als “links” galten einstmals die Liebhaber von ratio und Aufklärung, die Selbstdenker, die Befürworter eines souveränen National- und Rechtsstaates, die Religionskritiker und Verächter jener romantisch-rousseauhaften Schwärmerei, mit der wir es heutzutage von “links” zu tun haben. “Rechts” - das waren die Verteidiger der Religion, die Tabuerrichter, die Feinde freier Debattenkultur, die Verfechter einer Arkanpolitik, die Bevormunder und selbsternannten Erzieher des Volkes. Wer steht heute an welcher Stelle? Eben!

Hermann Neuburg / 15.05.2018

Einen Teil des langen Artikels möchte ich kommentieren, ja, ich behaupte, in einem wesentlichen Punkt irren sich der Autor und der englische Historiker Siedentopp, also es um die Frage ging der “Papstrevolution”. Warum wurde der Bischof von Rom (“Papst”) derart mächtig, dass er Könige und Kaiser ernannte und ersetzte, sich quasi als Weltenherrscher “aufspielte”? Es geht dabei um nicht weniger, wer im Land, Fürstentum, Königreich oder Kaiserreich das Sagen hat, wer herrscht, wer bestimmt u.a., wer Bischof wird. Warum bestimmt der Bischof von Rom, wer z.B. Erzbischof von Hamburg wird, oder Erzbischof von Canterbury vor Heinrich VIII? Also, Zitat: “Wodurch wurde die Papstrevolution so dynamisch, dass sie auch die weltliche Regierung zu verändern begann?“. Ohne das Aufkommen des Islams ab dem 8. Jahrhundert und durch die existenziellen Bedrohungen und brutalen und ungeheuer schnell erfolgreichen Eroberungskriege mit dem Schwert wäre die Geschichte des Katholizismus eine ganz andere gewesen, ja, es hätte sogar keiner Reformation gebraucht.  Welche theologischen Einflüsse kamen aus dem Islam? Es waren zwei; Keine Bildnisse in den Kirchen und, die weitaus wesentlicher Idee: die der Priesterherrschaft, der Theokratie. Nie zuvor haben in der Geschichte der Menschheit so absolut und fundamental Priester geherrscht, haben über beide “Reiche” die Macht ausgeübt: über die irdische und die himmlische. Es war Mohammed, der vollkommen absolut herrschte, als Prophet, “Liebhaber”, Feldherr und Machthaber und als Gesandter Allahs unwidersprochen göttliches Recht sprach. Ex Cathedra, so tut es der Bischof von Rom. In vorislamischer Zeit waren die Machtverhältnisse klar: der Bischof von Rom herrschte nicht über “die Welt”, das tat der Kaiser. Der Kaiser in Byzanz war der oberste Hüter der Glaubens der Christenheit. Ferner gab es in vor-islamischer Zeit vier weitere bedeutende Zentren der Christenheit, neben, nicht hinter Rom:  Konstantinopel, Alexandrien, Antiochien und Jerusalem.

David Hofmüller / 15.05.2018

Sehr guter Artikel. Die Wahrung unserer deutschen Identität ist notwendige Voraussetzung des Fortbestandes unserer Gesellschaft als solcher. Mir gefällt, dass die Wichtigkeit der Sprache herausgehoben wird und wie sie inzwischen bedroht ist. Viele Ergehen sich heute gern in einem Dekonstriktivismus, wollen beweisen, dass es das Deutsche gar nicht gäbe oder nie gegeben haben könnte. Oft übersehen diese „Wissenschaftler“ oder Politiker eine wesentliche Tatsache, und zwar die der Selbst- und Fremdwahrnehmung. Abgesehen von der Sprache als Transportmittel einer Wesensart ist die Selbstwahrnehmung als Deutscher, da man unbewusst Wesensmerkmale im anderen wahrnimmt, von entscheidender Bedeutung. Genauso wird man vom anderen als Deutscher wahrgenommen, weil man bestimmte Wesensmerkmale aufweist.

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