Von Okko tom Brok.
Dieses Weihnachten ist anders. Enttäuschung, Ernüchterung, Apathie machen sich breit. Wir entdecken, wie faul und brüchig die politischen Heilsversprechen einer ganzen Generation gewesen sind.
Unter der etwas ketzerischen Überschrift "I never promised you a Merry Christmas” untersucht der Autor das Gefühl der Enttäuschung und Desillusionierung, welches viele Menschen angesichts der bevorstehenden Feiertage empfinden mögen. Dabei werden einige der Themenfelder aufgesucht, die zu einem Gefühl der Unruhe und Unzufriedenheit beigetragen haben.
Wenn die Weihnachtszeit naht, denken viele Menschen an jene Traditionen und Feste, die diese Zeit des Jahres zu etwas Besonderem machen. Für die einen ist Weihnachten eine Zeit der Freude und des Zusammenseins, eine Gelegenheit, mit lieben Menschen zusammenzukommen und Geschenke und gute Wünsche auszutauschen. Für andere hingegen ist die Weihnachtszeit eine Zeit des Stresses und der Enttäuschung, eine Erinnerung an gebrochene Versprechen und unerfüllte Erwartungen. Ich persönlich habe Weihnachten immer als einen „Spiegel“ des zurückliegenden Jahres erlebt, in welchem ich die Bilanz von 365 Tagen, gelegentlich sogar die eines ganzen Jahrzehntes ablesen konnte. Viele Wende- und Tiefpunkte fielen in die Weihnachtszeit, aber auch kaum eine andere Jahreszeit hat mir derartig wahrhaftige Glücksmomente geschenkt.
Dieses Weihnachten ist anders. Enttäuschung, Ernüchterung, Apathie machen sich breit. Viele Menschen starren wie gebannt auf den großen, hochsymbolischen Weihnachtsbaum vor dem Kanzleramt und können nicht glauben, was sie sehen: Er ist nicht nur sparsamer beleuchtet als früher, sondern auch die „Geschenke“, die sonst darunter lagen, sind fort. Vermutlich für lange Zeit.
Eine Gruppe, die in dieser Weihnachtszeit vielleicht besonders enttäuscht, ja zuweilen apathisch geschockt wirkt, sind wohl wir Babyboomer, eine Generation, die in den Nachkriegsjahren aufwuchs und eine Zeit großen Wohlstands und Optimismus erlebte. Für viele Babyboomer selbst außerhalb der USA, und für manche linke Milieus sogar wohl auch nur außerhalb, schienen die materiellen und ideellen Verheißungen des amerikanischen Traums zum Greifen nahe. Viele von ihnen waren überzeugt, dass harte Arbeit und Entschlossenheit zu einem besseren Leben für sie und ihre Familien führen würden, sie begannen anzunehmen, dass Wohlstand und Freiheit eine Art „natürlicher Bürgerrechte“ und die Erfahrungen echten Hungers nur noch düstere Reminiszenzen aus grauer Vorzeit seien. Und vor allem waren die Babyboomer in dem sicheren Bewusstsein aufgewachsen, dass die Geschichte eigentlich keine Rückschritte kenne und vielmehr ein Prozess zunehmender Verbesserung der Welt zu sein habe.
Was war der German Dream?
Es ist oft gerätselt und verneint worden, ob es je eine deutsche Entsprechung des American Dream mit seinen Leitwerten Justice, Equality and Freedom gegeben habe. Unser vor allem literarisch begnadeter Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck würde diese Frage vermutlich verneinen und sagen, mit Deutschland habe er nie sehr viel anfangen können. Als Angehöriger der Babyboomer-Generation kann ich im Rückblick sagen: Doch, es gab ihn, den German Dream, und er war einst deutlich mehr als die sprichwörtliche German Angst, die deutsches Reden und Handeln heutzutage im Wesentlichen ausmacht! Was also war der German Dream? Worin bestand das „Versprechen“?
Die Wiedervereinigung war es nicht, ich sag es gleich vorweg, denn sie war allenfalls noch in den 50er Jahren ein „deutscher Traum“, seine Einlösung kam 1990 wie die lästige Erinnerung an eine einst fahrlässig verlorene Saufwette.
Mein Großvater trug das Brandenburger Tor nach dem Bau der Mauer 1961 allerdings noch viele Jahre voller Patriotismus in einer filigran gearbeiteten Miniatur aus Silber am Jackett-Revers. Kurz vor der Wiedervereinigung, die von SPD, FDP und Grünen bereits früh in den 80er Jahren als Forderung aus allen Parteiprogrammen weitgehend gestrichen worden war, waren nur noch etwa fünf Prozent der Deutschen im Westen vom Sinn oder auch nur der Möglichkeit einer Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten überzeugt.
Wovon träumten wir also stattdessen? Wir glaubten tatsächlich noch an die Sinnhaftigkeit von freien, ungehinderten Diskursen. In meiner Schulklasse der 70er Jahre erinnere ich mich an sehr lebhafte, aber nie fanatische Diskussionen zwischen Mitschülern, die sich wahlweise als „Kommunisten“, „Sozialisten“, aber auch „Konservative“ bezeichneten. („Scheiß-liberal“ wollte allerdings schon damals niemand sein!) Keiner von uns beschwerte sich beim Klassenlehrer über für ihn „anstößige“ Äußerungen, vor denen wir zu schützen gewesen wären. In unseren Schulbüchern fanden sich keine „Trigger-Warnungen“. Die Grünen spielten in dieser Links-Rechts Matrix anfangs keine, später eine schillernde, aber auch zunehmend vielversprechende Rolle, schienen sie doch dem urdeutschen Bedürfnis nach politischen Zwittern oder „eierlegenden Wollmilchsäuen“ gut zu entsprechen: nicht Fisch, nicht Fleisch, heute wissen wir: vegan!
Neudeutsche Tugendhaftigkeit
Die Grünen verkörperten einen wesentlichen Bestandteil unseres „deutschen Traums“, der bis in die Jugendbewegung des vergangenen Jahrhunderts zurückreicht: den der unberührten Natur, die es um jeden Preis gegen die Widrigkeiten des vermeintlich „schmutzigen“ und profitgierigen Kapitalismus zu schützen und zu retten galt. Das Versprechen bestand darin, dass jedes Engagement für die Umwelt nicht nur sachlich erfolgversprechend (und somit sinnvoll), sondern obendrein „moralisch profitabel“ wäre. Wir hätten also nicht nur die Umwelt gerettet, sondern hätten dabei sogar endlich wieder „richtig gut ausgesehen“. Es winkte nicht weniger als „moralische Reinheit“, „pures Ethikgold“. Jeder durchschlagende Erfolg in Sachen Umweltschutz wäre der „Wir-sind-wieder-wer-Moment“ meiner Generation, aber wohl auch der vieler Jüngerer geworden, selbst wenn die meisten noch immer schlaftrunken diesem für Deutschland und seine „World’s dumbest energy policy“ unerreichbar gewordenen Traumziel anhaften. Ihr Erwachen wird hart sein.
Nicht gesagt hat man uns, dass unser deutscher Anteil am zu rettenden Umwelt-Kuchen stets nie mehr als zwei Prozent betragen würde, egal welche gigantischen Kosten wir dabei bereit waren zu schultern. Stattdessen wurden uns die Opfer auf dem Weg zur Rettung der Natur / der Umwelt / des Klimas (die Ziele wurden stets flexibel angepasst) als Ausweis einer ethisch hochstehenden Nation verkauft, die es nach finsteren Jahren des Holocausts auf dem Weg der Klimarettung endlich doch noch schaffen könnte, sich aus eigener Kraft von seiner Schuld zu reinigen. Alle Welt würde uns schließlich sogar „beneiden“…. Um was nicht alles. Vor allem wohl um unseren Gratismut, denn nichts anderes war die neudeutsche, grün-woke Tugendhaftigkeit, deren ruhmloses Scheitern wir momentan an so vielen Stellen „von A wie Automobilindustrie“ über „E wie Energiekrise“ bis „O wie One-Love-Binde“ fassungslos und in Zeitlupe beobachten müssen.
Lassen wir einmal einige weitere politische Versprechen unserer Lebzeit im Zeitraffer Revue passieren: Rentensicherheit, kontinuierliche, reale Lohnsteigerungen, Chancen der Wohlstandvermehrung, verbindliche, für viele Menschen gut verfügbare, frei wählbare Bildungschancen und -standards, persönliche Freiheiten wie Meinungsäußerung, Versammlungsfreiheit, Pressefreiheit, europaweite und weltweite Reisefreiheit, sichere Reise- und Transportwege, Freiheit der Impfung, Freiheit der eigenen Gesundheitsfürsorge, Verlässlichkeit der medizinischen Grund- und Spitzenversorgung zu für die meisten Bürger erträglichen Kosten, Sicherheit der Landesgrenzen, und nicht zuletzt: Währungsstabilität. Also alles nur noch „Schtonk“!?
Tatsächlich ist im Laufe der Jahre immer deutlicher geworden, dass die meisten dieser Versprechen gebrochen wurden. Trotz der bemerkenswerten Fortschritte, die im Kampf für die Gleichberechtigung erzielt wurden, sind Frauen und Minderheitengruppen in vielen Lebensbereichen spätestens seit 2015 im Zuge der Masseneinwanderung aus kulturfremden Gebieten erneut mit Diskriminierung, sexueller Belästigung und Ungleichheit konfrontiert und trauen sich nach Einbruch der Dunkelheit nicht mehr auf die Straße. Und trotz eines „Heeres“ an Antisemitismusbeauftragten ist der Antisemitismus so gewalttätig und quicklebendig wie eh und je. Selbst die Meinungsfreiheit, ein Eckpfeiler der Demokratie, ist mit dem Aufkommen sozialer Medienplattformen, die die Macht haben, bestimmte Standpunkte zu zensieren und zu unterdrücken, akut bedroht, wie die schockierenden Enthüllungen der sog. „Twitter Files“ gezeigt haben.
Scherben unserer Träume
Die Situation wird durch die künstlich und gegen alle Evidenz und medizinische Vernunft auf den Sankt-Nimmerleinstag verlängerte Coronavirus-Politik weiter erschwert, die ein Klima der Angst und des Misstrauens geschaffen hat. In einigen Ländern wie China und Russland wurde die Krise als Vorwand für eine autoritäre Herrschaft genutzt, wobei die Führer die Situation missbrauchten, um ihre Macht zu festigen und abweichende Meinungen zu unterdrücken oder gezielt zu diskreditieren. Doch auch in der westlichen Welt ist man zu Recht besorgt über die Aushöhlung der bürgerlichen Freiheiten und das Aufkommen von diktatorischen, autokratischen Tendenzen. Die mit den bereits erwähnten „Twitter Files“ bekannt gewordenen Hintergründe der Sperrung des Twitter-Kontos von Präsident Trump haben beispielsweise eine längst überfällige Debatte über die Rolle der Technologieunternehmen bei der Regulierung und unzulässigen Zensur der Online-Kommunikation ausgelöst. Irritierenderweise scheinen unsere Regierungspolitiker das Problem gerade in den jetzt einsetzenden Enthüllungen zu sehen, jedoch nicht in den Missständen selbst.
Wir träumten einst davon, dass Individuen zu fördern und Freiheitsrechte zu stärken seien und dass selbst der Himmel keine Grenzen kenne. Ein „Reichweiten-Management“ zur Ausbremsung missliebiger individueller Talente, Hoffnungen, Träume, Visionen und politischer Ambitionen wäre uns wie eine literarische Übertreibung aus einem dystopischen Roman á la „1984“ erschienen. Wir mussten in den letzten drei Jahren zur Kenntnis nehmen, dass sie bereits seit langem eine technische und politische Realität ist.
Dass nun ausgerechnet in der Advents- und Weihnachtszeit, dem Fest der Kinder, im „besten Deutschland aller Zeiten“ die Betten in den Kinderkliniken knapp werden, macht letztlich auch dem Wohlmeinendsten klar, dass wir als Gesellschaftsentwurf vor den Scherben unserer Träume stehen. Eine Gesellschaft, die nicht einmal mehr den Schutz ihrer Kinder sicherstellen kann, hat keine Zukunft!
Zu Beginn der Weihnachtszeit 2022 ist uns bewusster als in früheren Jahren, dass Deutschland, aber auch die Welt insgesamt mit einer Reihe von extrem schweren, nach menschlichem Ermessen kaum noch lösbaren Herausforderungen konfrontiert sind.
Mir scheint jedoch, unsere heutige Welt ist dem ersten Weihnachtsfest in einer unscheinbaren Krippe zu Bethlehem in vielem ähnlicher als die „Goldene Zeit“, die wir gerade hinter uns gelassen haben. Wir waren wie Träumende, die bereits im Paradies lebten und dabei Freiheiten und Reichtümer genossen, die vor uns stets nur den privilegierten Adels- und Oberschichten früherer Epochen zuteil wurden. Schon Jesus hatte sie nie. Jetzt erwachen wir und entdecken, wie faul und brüchig die politischen Heilsversprechen einer ganzen Generation gewesen sind. Zurück bleibt Ernüchterung angesichts der zuweilen grotesken Banalität des Geschehens.
Die politischen Versprechen haben nicht getragen, die bunten Politkartons mit ihren hübschen Diversity-Schleifen und -Binden waren leer. Ich glaube aber als Christ, dass es ein Versprechen gibt, das sehr wohl trägt: die Liebe. Sie ist es, die im Mittelpunkt der Weihnachtsgeschichte steht und die allen Menschen gilt. „Gott will im Dunkeln wohnen und hat es doch erhellt“, dichtete einst der von den Nazis in den Tod getriebene Dichter Jochen Klepper, der jüngst am 11. Dezember seinen 80. Todestag hatte. Das Licht der Liebe, das in der Weihnachtskrippe so hell scheint, kann niemand und nichts mehr verdunkeln. Ich wünsche Ihnen gerade deshalb heute: Merry Christmas, gesegnete Weihnachten!
Der Autor ist Lehrkraft an einem niedersächsischen Gymnasium. Er feiert ausgesprochen gerne Weihnachten, dieses liebevolle „Lichterfest“ aller kleinen und großen Kinder!