Karim Dabbouz / 08.06.2020 / 06:05 / Foto: achgut.com / 197 / Seite ausdrucken

I can’t breathe

In einem Land zu leben, in dem Versammlungen auch in Ausnahmezeiten nicht pauschal untersagt werden dürfen, ist ein großes Privileg. Attila Hildmann weiß das. Im Gegensatz zu den, wie ich finde, traurigen „Corona-Demos“ mit Verschwörungseinschlag wurde am Wochenende erstens für eine wichtige Sache und zweitens sehr erfolgreich demonstriert. Erfolgreich aber nur in dem Sinne, dass ein Zeichen gesetzt wurde. Zählbar werden womöglich nur die Toten und die Zerwürfnisse für diejenigen sein, um deren Belange es eigentlich ging: von Rassismus betroffene Menschen.

In Deutschland liegt die Armutsgefährdungsquote von Menschen mit Migrationshintergrund deutlich über der von Menschen ohne Migrationshintergrund. Bei Menschen mit afrikanischem Migrationshintergrund ist der Unterschied am größten. Lassen wir die Diskussion um die Definition von Armut und um die Gründe einmal außen vor und stellen fest: Von Rassismus betroffene Menschen sind auch von den Auswirkungen von Corona mit (!) am stärksten betroffen.

Natürlich ist nicht das Virus rassistisch, aber es legt offen, wogegen sich die Demonstrationen am Wochenende richteten, nämlich gegen strukturellen Rassismus. Struktureller oder systemischer Rassismus heißt etwa, dass Menschen mit dunkler Hautfarbe aufgrund ihrer Hautfarbe oder ihrer Herkunft in wesentlichen Aspekten des Lebens (Bildung, Beruf, Gesundheit) im Mittel schlechter gestellt sind als Menschen mit weißer Hautfarbe. Oft führt dabei ein Missstand zum anderen.

Ein greifbares Beispiel ist das Kind, das mit acht Jahren nach Deutschland einwandert und, da es die Sprache noch nicht beherrscht, eine Hauptschulempfehlung bekommt. Die wiederum führt zu potenziell schlechteren sozialen Kontakten, schlechterer Bildung, weniger Selbstvertrauen und damit letztlich zu einer höheren Armutsgefährdung, was wiederum häufig zu schlechterer Gesundheit führt. Oder eben: Zu einer Situation, in der gerade Schulen, Kitas und Jugendzentren die einzige Entlastung vom Lockdown-Stress sind.

Verantwortungsbewusstsein in liberalen Gesellschaften

Auf derartige Ungleichgewichte und Zusammenhänge wollte man am Wochenende aufmerksam machen. Für das, was dort passierte, gibt es in der Soziologie das schöne Verb „reproduzieren“. Missstände nicht zu reproduzieren, verlangt zweierlei: erstens, dass alle Menschen die gleichen Rechte haben und zweitens, dass mündige Menschen sich der Verantwortung durch ihre persönlichen Freiheiten bewusst werden, damit sich individuelle Handlungen nicht zu einem systemischen Missstand auswachsen, ihn verstärken – oder ihn reproduzieren. Genau das geschieht aber, wenn ich mich in einer Pandemie mit 15.000 Menschen dicht gedrängt auf einen Platz stelle. Aus diesem Grund ist Verantwortungsbewusstsein in liberalen Gesellschaften so wichtig. Es sorgt dafür, dass Freiheiten nicht eingeschränkt werden müssen, da Menschen persönlich Verantwortung für ihre Mitmenschen übernehmen.

Im Corona-Jahr hat das bisher sehr gut funktioniert. Menschen hielten sich nicht nur deshalb an Hygiene- und Abstandsregeln, weil sie selbst nicht erkranken wollten, sondern weil ihnen bewusst war, dass ihre Handlungen für weniger privilegierte Menschen (etwa mit Vorerkrankung) Konsequenzen haben können. Dieses Grundprinzip individueller Verantwortung für Mitmenschen wurde am Wochenende über Bord geworfen. Für eine Menschenrechtsbewegung ist das entweder ein Armutszeugnis oder ein ungewollt ehrlicher Offenbarungseid, ganz nach dem Motto: “So wirklich um Menschen geht es mir nicht, Hauptsache ich bin dabei.” Manche Bilder, zum Beispiel vom Alexanderplatz, ermuntern mich, diesen Vorwurf einmal als These in den Raum zu stellen.

Um Rassismus zu verstehen, rät man weißen Menschen gerne, sich in die Lage von Betroffenen zu versetzen. Ich schlage deshalb vor, sich einmal Folgendes vorzustellen: Gemeinsam mit deinen Eltern und deinen drei Geschwistern lebst du in einer Zweieinhalb-Zimmer-Wohnung mit niedrigen Decken und lärmenden Nachbarn in einem schlecht angebundenen Stadtteil einer deutschen Großstadt. Die Schule hat zu, das Jugendzentrum hat zu, auf den Bolzplatz darfst du nicht und dein Vater hat Leukämie. Einer seiner letzten Gedanken ist: „I can‘t breathe.“

Dieser Beitrag erschien auch auf Karim Dabbouz Blog.

Foto: achgut.com

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Leopold Hrdlitschka / 08.06.2020

Und nun? Was machen Menschen z.B. aus Vietnam, aus Iran (vor allem jene die nach 1978 flohen), China, Indien anders? Warum macht der Grossteil derer Kinder Abitur und studiert? Warum ist das so?

Gertrud Schreiber / 08.06.2020

Ich frage mich gerade , ob das 8 jährige Kind in seiner angestammten Heimat bessere Zukunftschancen gehabt hätte.

Kurt Lewin / 08.06.2020

Die Verhältnisse, welche der Autor hier beschreibt, gelten auch für viele Menschen, die schon länger hier leben. Daraus einen rassistischen Vorwurf zu erheben, erscheint mir widersinnig. Deutschland war nie ein Sklavenland und die meisten Migranten kommen freiwillig. Welche Erwartungen und Ansprüche erhebt er für dieses Klientel? Die ganze, von den Medien aufgegriffene und angeheizte Rassismusdiskussion wegen eines durchgeknallten Cops in den USA auf unsere Verhältnisse zu übertragen halte ich für völlig absurd. Die „Weiße Rasse“, sonst nur als ein Konstrukt verstanden, steht plötzlich unter einer Generalanklage. Diese Strategie erscheint mir zudem völlig kontraproduktiv. Sie schafft zudem eine Spirale ohne Ende: Die einen verstehen sich immer als Opfer sozialer Ungerechtigkeit, während den anderen das Gefühl vermittelt wird immer irgendwie schuldig zu sein.

Th. Wagner / 08.06.2020

Ich finde diese Diskussion heuchlerisch. Struktureller Rassismus ist Gott sei Dank passé. - Rassismus, so wie das Wort gern gebraucht wird, gibt es auch in der “eigenen” Rasse, z, B. blondes Mädchen oder Frau. Benimmt sich ein Mensch nicht gruppenkonform, wird er(/sie) ausgeschlossen. Das kann grundsätzlich an vielem liegen. An der Kleidung, an der Religion, an der Hautfarbe, an dem Auftreten, ... - so wieder der Autor richtig sagt. muss jeder einzelne offen sein, selbst Verantwortung für sich und sein Handeln tragen um den Nächsten nicht zu schädigen oder auch nur Handlungen gegen ihn auszuführen, wie auch Beschimpfungen als geringstes Übel. Leider wird ein offenes liberales Handeln oft missbraucht von Menschen, die nicht bereit sind, das zu leisten, was ihren Ansprüchen entspricht. Das meiste, was als Rassismus bezeichnet wird, ist selbst rassistisch. Derjenige der das äußert will in eine andere Machtposition kommen. Rassismus in der eigenen Rasse, nannte man früher in der Schule harmlos hänseln, obwohl es eiskaltes Mobbing war und darauf abzielte den Mitschüler als Person schlecht zu machen. Das wird von Ausländern, von Menschen mit anderer Hautfarbe gerne als Rassismus bezeichnet, um sich selbst Vorteile zu erschleichen. Ich persönlich finde das genauso schlecht, wie diese Art des Mobbing selbst. Es wäre schöner, die Menschen würden ihre Vorurteile revidieren, und immer das Individuum sehen.

U. Langer / 08.06.2020

Der Autor zeigt sehr schön, wie schräg man denken muss, wenn man die Rassismusdemonstrationen inclusive Randale der letzten Tage richtig gut findet. Grundvoraussetzung ist offenbar, dass man Demonstrationen für Grundrechte als “traurig” ansieht und dabei Verschwörungen wittert. Man muss auch davon überzeugt sein, dass das Coronavirus nicht bei alten Menschen mit Vorerkrankungen besonders tragische Auswirkungen hat sondern bei Schwarzen, weil die ja sowieso schon vom Rassismus gebeutelt sind. Dass ein Einwanderer aus Arfika gegenüber einem Weißen eine höhere Armutsgefährdung hat, liegt natürlich am Rassismus und keinesfalls daran, dass der Einwanderer Analphabet ist und keinen Beruf gelernt hat und der Weiße im gleichen Alter Abi und einen Studienabschluss hat. Bei der irrigen Behauptung des Autors, dass im Alter von 8 Jahren eingewanderte Kinder nur wegen der fehlenden Deutschkenntnisse zur Hauptschule delegiert werden, habe ich dann aufgehört zu lesen. Trotzdem hat mir die Lektüre etwas gebracht. Mein Vorurteil gegenüber solchen Menschen (ich meine jetzt nicht die Einwanderer aus Afrika) wurde bestätigt.

Reinhard Max / 08.06.2020

Die Demos am Wochenende und das nicht handeln des Staates zeigen zwar den ganzen Unsinn der Corona Pandeverarsche, aber der Migrantenteil des Artikels ist trotzdem Unsinn. Mit 8 ist man Grundschüler, das Kind hat drei Jahre Zeit die Sprache zu lernen und sich für den höheren Bildungsweg zu qualifizieren. Der kranke Vater lebt mit der Familie in einer zu kleinen Sozialwohnung und einen deutschen ginge es genauso. Wo soll hier der Rassismus sein ? Warum haben Asiaten kein Integrationsproblem ? Warum niemand aus dem Ostblock ? Und die sind auch nicht alles weiße. Vielleicht weil sie dem Grundsatz, „Jeder ist selbst seines Glückes Schmied“ folgen und anpacken und arbeiten statt zu jammern ? Obwohl die Afrikaner in Amerika die ersten dunkelhäutigen Menschen waren, wurden sie Sozial von allen anderen überholt. Obwohl Afrika von Sozialprogrammen zugeschi..sen wurde, hat es China und Indien überholt. Obwohl die meisten Schwarzen in Amerika, und auch Weise durch Schwarze sterben, haben wir Weißen ein Rassismus Problem ?

Jürgen Liebich / 08.06.2020

Überall lese ich, so auch hier, man solle gegen Rassismus sein. Nur was ist Rasse? Ich kann doch das DAGEGEN nur verstehen und dann auch mich dem anschließen, wenn ich das Gegenteil, also das DAFÜR, verstehe. Fragt euch Diskutanten Jürgen aus einem kleinen Dorf in der sächsischen Provinz.

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