Fabian Nicolay / 26.12.2021 / 16:00 / Foto: Imago / 19 / Seite ausdrucken

Hurra, über Rot gegangen!

Zwei Dinge möchte ich anfangs klarstellen. Zunächst: Die erste rote Linie ist bereits überschritten, nämlich die, dass es keine mehr geben darf. Das ist doch ein Realitäts-Eingeständnis und -Anspruch, dem sich gewählte Führer unseres Landes gern stellen – wie man sieht – ohne mit der Wimper zu zucken. Zweitens: Marie von Ebner-Eschenbach hatte recht, als sie behauptete: „Die glücklichsten Sklaven sind die erbittertsten Feinde der Freiheit.“ Die Schriftstellerin hat zwar im 19. Jahrhundert gelebt, also anno Tobak, aber traf mit dem Gedanken die Essenz kleinbürgerlicher Bedürfnisse auf einer noch heute als gültig anzusehenden psychologischen Ebene.

Beides zusammen – Regenten und Regierte – oder beides getrennt: Wer sich auf den Weg über Rote Linien begibt, muss wissen, wes Geistes Kind er ist. Denn als Pionier oder als Outcast der Demokratie die ihr geltenden Grenzen zu überschreiten, setzt sicherlich neue Maßstäbe für die Bundesrepublik im 72. Jahr nach ihrer Gründung. Hier wird Terrain neu kartografiert, dessen Landnahme vor ein paar Jahren noch als undenkbar galt. Ich bin gespannt, wie Demokratie jenseits der ehemaligen Roten Linien aussehen soll. Herr Scholz sollte uns das mal dringend erklären.

Bei allem Gemecker der letzten Jahre über den „Niedergang“ der (politischen) Kultur, den Mangel an erklärten, oder erklärbaren Politik-Konzepten, über den Schaden, den „unser Land“ genommen hat, weil so vieles hinter verschlossenen Türen, klandestin, intransparent beschlossen worden ist, ohne Einflussmöglichkeit oder wirksamen Widerspruch, im Modus einer überheblichen Distanz der Politik zum Souverän... bin ich heute unserem neuen Kanzler Olaf Scholz trotzdem dankbar. Er spricht aus, was als Traum in den mentalen Regalen des Kanzleramtes zu verstauben drohte, nämlich, dass uns endlich der neueste heiße Scheiß des Regierens präsentiert werden kann: die Demokratie 2.0, Post-Demokratie, oder eine „Kratie advanced“, eine „fortschrittliche Herrschaft“, in der das hineinredende Volk nicht mehr vorkommt und der gesellschaftliche Diskurs keine Rolle mehr spielt.

Mehr Ehrlichkeit hätte ich nicht vom Kanzler erwartet

Wir Bürger können „endlich“ von der diesseitigen zu einer jenseitigen Demokratie wechseln. Hurra, über Rot gegangen, dank Ampel-Neudefinition. Bei Grün musst du stehen, bei Rot darfst du gehen! Wie erkläre ich das meinen Kindern? Darf das dann überhaupt noch „Demokratie“ genannt werden, oder gibt's schon ein besseres Label (siehe oben)? Auch die DDR hatte „Demokratie“ im Namen ... Das müssen wir mal dem Ethikrat zurufen, der auch schon rübergemacht hat, während wir Langweiler noch zaudern und verstohlen winken.

Mehr Ehrlichkeit und Anstand hätte ich nicht vom Kanzler erwartet. Es stimmt mich zutiefst positiv, dass der Kanzler aller Deutschen, auch der ungeimpften, damit höchst persönlich und ausdrücklich die Verantwortung übernimmt, qua Richtlinienkompetenz. Es sei denn, auch die Richtlinien gäbe es nicht mehr. Es sieht ja ein bisschen danach aus.

Auch bin ich Markus Söder und Peter Tschentscher dankbar, dass sie mit nachweislich falschen Fakten rumhantieren, um den vermaledeiten Impfgegnern das Handwerk zu legen. Es ist ja irgendwie gut gemeint und auch einsehbar, dass der Zweck die Mittel heiligt. Das ist ein hohes Gut, auf das Markus Söder ohnehin schon immer diesseits der Roten Linien zuzugreifen bereit war. Ich freue mich für die beiden Herren, dass sie nun endlich von dem ganzen Fakten-Ballast befreit sind und sich nunmehr ungehemmt der leichten Derivate des Schwindels bedienen können – ohne irgendeinen Rechtfertigungsdruck. Wenn es jemand merkt, hat es sowieso keine Folgen. Die Schleudersitze sind indes ohnehin in den oberen Etagen der Politik ausgemustert worden.

Den Weg aus der Pandemie mit Zahlen leuchten

Die Verhältnisse sind nun klar: Der Vorwurf an die Gegner dieser Politik, Fake-News und unwissenschaftliche Unwahrheiten zu verbreiten, ist durch eine Art „Waffengleichheit“ nun entkräftet. Die zunehmende Faktenbefreiung wird auch noch durch Säuberungen im Feld der Unliebsamen flankiert (Boris Reitschuster wurde aus der Bundespressekonferenz entfernt, Alexander Kekulé aus der Uni Halle, der Achgut-Kanal von YouTube). Söder und Tschentscher bedienen sich also eines Arsenals, das nach ihrer Lesart alle Widersacher längst zu bedienen wussten. Früher mussten Politiker der Vox populi noch hinterherrennen, nun können sie sich wieder an deren Spitze drängeln, mit Propaganda, die um ihren prahlerischen Wahrheitsanspruch nie verlegen ist.

Also kann ich diesen beiden Leuchttürmen der Politik auch dankbar sein. Mögen sie uns endlich den Weg aus der Pandemie mit Zahlen leuchten, deren verblasster Wahrheitsgehalt vom Zweck überstrahlt wird. Endlich kann das ganze Kleinklein der Belege und Rechtfertigungen, der Nörgelei und des Besserwissens beiseitegeschoben werden und sinnhaft ersetzt werden durch Führungsstärke, Wille und Mut zum Aufbruch in eine neue Zeit postdemokratischen Aufgeräumt-Seins.

Die Herrschaft des Volkes war gestern. Es war einfach unanständig, wie es sich in Teilen benommen hat – so ist das Empfinden bei den Herrschenden. Menschen haben protestiert und sich auf Grundrechte berufen, die ihnen von Politikern mal zu- oder abgesprochen werden können. Das ist der Zustand und es ist ein Paradox, wie es im Grundgesetz nicht vorgesehen ist. Aber es braucht starke Männer mit dem Mut zur Veränderung und einem gehörigen Maß an Chuzpe, Männer wie Olaf Scholz, Markus Söder, Peter Tschentscher, Winfried Kretschmann.

Ich kann verstehen, dass unser Kanzler genervt ist

Einen weiteren Vorteil hat das nassforsche Vorgehen dieser Macher: Nun können alle entlarvt werden, die neben den echten Rechtsextremisten zu den Schlimmsten gehören. Das sind die „Demokratieleugner“, also Menschen, die auf eine schon bösartige Art nicht verstehen wollen. Auf der Straße zeigen sie ihr „wahres Gesicht“ und verkennen, dass die Leuchttürme der Republik einen wahrlich guten Job machen. Um das zu bekräftigen, muss man hin und wieder pauschal diffamieren. Es ist besser, solche Leute mit Schmutz zu bewerfen, damit sie jeder erkennt und Abstand halten kann.

Dass es „keine Spaltung der Gesellschaft“ gibt, wie der Kanzler sagt, das sieht doch jeder, der versucht aus der beschlagenen Kuppel des Reichstags aufs Land zu schauen. Niemand hat vor, eine solche Spaltung zu errichten. Und es ist gute autoritäre Tradition, die gesellschaftliche Realität so zu benennen, wie man sie braucht: Es existiert nicht, was nicht existieren darf. Heute gibt es deshalb keine Spaltung.

Ich kann verstehen, dass unser Kanzler genervt ist. Er muss jetzt den Augiasstall ausmisten, den ihm seine Vorgängerin hinterlassen hat. Und vielleicht geht es nicht nur ums Ausmisten. Scholz will und muss auf diesen Hinterlassenschaften seine transformierte Gesellschaft errichten. Keine schöne Arbeit. 

Da er und seine Subalternen keine Veranlassung sehen, uns ein unbeschwertes Weihnachten zu gönnen, und das neue Jahr eher ein Wagnis, aber keins des Aufbruchs werden wird, müssen wir wohl oder übel weiter genau hinschauen, kritisch kommentieren und gegenhalten. Guter Journalismus hat Konjunktur.

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Wilfried Düring / 26.12.2021

@Jochen Lindt Was Sie schreiben halte ich für - offensichtlichen - Unsinn. Mit jedem Tag dieser ‘rot-gruenen Regierung mit blassgelber Tönung’ (Zitat eines Afd-MdBs) stirbt in Deutschland ein Stück Freiheit! Das koordinierte Abschalten kritischer Medien (RT Deutsch, Achse), offene Repressalien gegen kritische Journalisten (Fall Boris Reitschuster), Zensur im öffentlich rechtlichen Fernsehen (Fall Lisa Fitz), die - rechtwidrige ? - fristlose Entlassung von Alexander Kekule, das mit der Impfpflicht verbundene Berufsverbot gegen ungeimpfte Ärzte, Pfleger und Krankenschwestern, die an die ‘Briefe’ von Kampfgruppenkommandeuren 1989 erinnernden Gewaltdrohungen und -aufrufe gruener MdB’s gegen Regierungskritiker - alles Fakten der letzten 14 Tage; alles Dinge, welche diese Ampel-Regierung mit-verantwortet. Kein Tag vergeht ohne die Verletzung von bisher - auch unter Frau Merkel - (fast) selbstverständlichen Grundrechten! Dazu die völlig unnötigen anti-russichen Provokationen durch die gruene Kampf-Bärin. Das eine Regierung innerhalb von 17 Tagen (8. -24. Dezember) soviel verbrannte Erde produziert und dann am Heiligen Abend (wie zum Hohn) ausgerechnet ihren Oberhof-Prediger im Staatsfernsehen die Weihnachtsbotschaft vorlesen läßt - das hat es in Deutschland seit 1945 nicht mehr gegeben; Merkel hin oder her! In DIESER Regierung und in den Regierungs-FRAKTIONEN gibt es Leute, die einen ‘HIMMLISCHEN FRIEDEN’ WOLLEN (Vgl.1989) und diesen auf Twitter ankündigen! Ich möchte deshalb eine Gegen-These zu Herrn Lindt formulieren: In den vergangenen Monaten und Jahren hat ganz offensichtlich bei nicht wenigen Leute immer stärker eine Personalisierung aller (auch berechtigten) Kritik, aller Unzufriedenheit und nicht selten des HaSSes auf Frau Merkel stattgefunden! DIESE PERSONALISIERUNG WAR FALSCH; sachlich falsch, perspektivisch falsch und auch moralisch falsch! Merkel IST jetzt weg; die Bundes-CDU vorerst auch - und schon nach wenigen Tagen ist alles noch viel schlimmer geworden!

C.u.G. Raum / 26.12.2021

Sehr geehrter Herr Nicolay, wir sind uns nicht sicher, ob Ihr Artikel als Satire zu verstehen oder er ernst gemeint ist? Falls letzteres zutrifft, dann klingt dies eher als Waffenstillstandsangebot ans Regime, als Kritik am selbigen. Nein, nein, vermutlich muss das wohl eher als Resignation bzw. Kapitulation vor den Demokratiefeinden verstanden werden! Vielleicht steht der Gegner uns nicht gegenüber, sondern befindet sich schon in den eigenen Reihen oder noch viel schlimmer, hinter uns. Nach ihrem Artikel stellt sich uns die Frage, lohnt sich ein aufbegehren überhaupt noch, oder ist die Messe schon gelesen? MfG C. u. G. Raum

Peter Holschke / 26.12.2021

Wieder das Guillotine-Bild? Ob der aktuelle Westentaschen-Diktator so enden wird?

A. Ostrovsky / 26.12.2021

Was Spahn und Lauterbach eint, ist - nein nicht das Konto bei der Sparkasse Sauerland - der Auftrag, die Kosten im Gesundheitswesen zu senken. Allerdings ist das auch nicht ganz richtig. Sie sollen die Kosten, deren Ansteigen unvermeidlich ist, in die richtigen Bahnen lenken. Einerseits sollen die Milliarden, die in dieses Gesundheitswesen fließen, auch an der richtigen Stelle wieder herauskommen, da, wo sie ungehindert in die Kassen einiger weniger globaler, aber US-dominierter, Pharmaunternehmen fließen. Andererseits muss der ansteigende Finanzstrom auch finanziert werden. Dabei gilt Schnelligkeit vor Genauigkeit. Nachhaltig war gestern. Die Profitoptimierung muss am nächsten Quartalsende stimmen, sonst winken schon die Nachfolger, die ihre Aufgaben besser verstehen.

S. Marek / 26.12.2021

Wer von ganz oben den Konsens des GG aufkündigt zeigt nur seine arrogante Kurzsichtigkeit zur eigenem Vorteil und Unkenntnis der Menschheitsgeschichte, da ab dann kann dieser nicht erwarten, daß sich die Gegenseite an etwas Hält was nicht mehr existiert. Ja, ein Tyrann nutzt die noch vorhandene Judikative und Exekutive in seinem Sinne, doch die Tür wurde geöffnet für Anarchie und offene Korruption und so werden diese auch sich nicht mehr deren Schutzes sicher sein können.

Ralf Renders / 26.12.2021

Das ging nun wirklich schnell. Noch nicht einmal einen Monat hat es gedauert, dass man als Bürgerrechtler und Demokrat genötigt ist, zu rufen “Scholz muss weg”... oder besser die gesamte “Ampel” mit ihren größenwahnsinnigen Dilettanten. Also weiter auf die Strasse, immer mehr und immer öfter… und sich weder von Polizei, Medien oder Antifa provozieren lassen…

Petra Wilhelmi / 26.12.2021

@Jochen Lindt: Das meinen Sie doch nicht ernsthaft. Scholz führt die Merkelpolitik weiter. Meinen Sie ernsthaft, dass die Migration unterbunden wird? Wir werden in Afrika aufwachen, keine Sorge, auch ohne Merkel.

Bernd Meyer / 26.12.2021

Warum nicht Geld, das auf den Bäumen wächst? Dann müssten sie nicht mehr in die Keller mit den Druckmaschinen steigen. Oder noch tiefer, da wo nur noch Digitales wartet! Buuuh!

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