Die Bundeskanzlerin mag die komplexe Rechtslage so oft zu ihren Gunsten auslegen, wie sie will: Es wird sich nirgendwo eine implizite Aufforderung finden lassen im Zuge humanitärer Hilfe – falls es denn eine solche ist – Stabilität und Sicherheit im eigenen Land aufs Spiel zu setzen, was letztendlich nur zu Verlusten und weiterhin dazu führt, dass überhaupt niemandem mehr geholfen werden kann. Wer sich als Regierungsverantwortliche in die Untiefen der Juristerei begibt und der Bevölkerung vermittelt, an den Grenzen gelte „europäisches vor deutschem Recht“, agiert außerdem dann unseriös, wenn das internationale Völkerrecht bei der Kontrastierung ausgeklammert wird.
Die Aufnahme des Artikels 14 „Recht auf Asyl“ in die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (AEMR) war ein umkämpfter Vorgang. Wie ähnlich die Argumente schon 1948 im Vergleich zur aktuellen Debatte gewesen sind, lässt sich bei der Bundeszentrale für politische Bildung nachvollziehen. Letztlich stieß die Forderung nach Freizügigkeit ohne jegliche Einschränkungen auf breite Ablehnung.
„Im Zuge des Entstehungsprozesses der AEMR ging es wiederholt um eine Assimilationspflicht von Einwanderern. … Schließlich führten die Mehrheitsverhältnisse dazu, dass vom ursprünglichen Entwurf, in dem noch von einer Garantie die Rede gewesen war, das deutlich abgeschwächte Recht übrig blieb, „in anderen Ländern vor Verfolgung Asyl zu suchen und zu genießen“ … Damit trat an die Stelle des vormals angedachten, umfassenden Rechtsanspruchs für Asylsuchende ein genereller staatlicher Vorbehalt: Der Flüchtling konnte das Asyl „suchen“, den potenziellen Aufnahmestaat also darum bitten – Anspruch auf Gewährung hatte er aber nicht.“ Verfolgten als anerkannte Flüchtlinge wurden weitergehende Rechte zugesprochen. „Allerdings waren nach Artikel 14 unter anderem diejenigen Menschen vom Flüchtlingsstatus auszunehmen, die ‚auf Grund von Verbrechen nichtpolitischer Art‘ Asyl beantragten.“
In etlichen Staaten des euroatlantischen Raums habe Einwanderung seit dem Ersten Weltkrieg „per se als problematische Herausforderung“ gegolten, auch in kultureller und politischer Hinsicht. „Generell spiegelte sich in der vorgenannten Mehrheitshaltung die äußerst restriktive Einwanderungspolitik der meisten Länder wider. Die Restriktionen gegenüber Migranten bzw. Nicht-Staatsangehörigen zeigen, dass sich die Mehrheit der damaligen Delegierten nicht bereit fand, die praktischen Folgen der millionenfach erfahrbar gewordenen (Zwangs-)Migration auf eine menschenrechtliche Basis zu stellen, die einzelstaatlicher Kontrolle entzogen war.
Verfrühte Grabreden auf den Souveränitätsbegriff
Vielmehr deuten Inhalt und Entstehungskontext der AEMR darauf hin, dass vorrangig die Staatsangehörigen eines Landes im Fokus des beabsichtigten Menschenrechtsschutzes standen und damit zugleich die Ursachen von Migration bekämpft werden sollten. Bereits die UN-Charta von 1945 hatte insofern in diese Richtung gezielt, als sie … die Souveränität der einzelnen Staaten betont hatte.“
Wie übrigens die souveräne Gleichheit der Staaten als Grundprinzip des Völkerrechts im Zuge der internationalen Organisation zunehmend angefochten wurde und wird, steht an dieser Stelle: „In seiner langen Geschichte hat sich der Souveränitätsbegriff in überraschender Weise als wandlungs- und anpassungsfähig erwiesen. Er hat viele verfrühte Grabreden, die auf ihn gehalten wurden, ebenso überdauert wie Vorwürfe besonders im 20. Jahrhundert, er stehe jener gesteigerten Form internationaler Zusammenarbeit im Wege, die für das Überleben der Menschheit notwendig sei.“ Dass letztgenannte Bestrebung gar nicht unbedingt mit einem politisch modernen Verständnis korreliert, wie es der Bevölkerung derzeit weis gemacht werden soll, geht aus diesem Zitat hervor: „Vieles spricht dafür, dass erst sein Verschwinden an einem noch unbekannten Zeitpunkt der Zukunft das wirkliche Ende des modernen Staates markieren wird.“
In einem neueren Beitrag nimmt Georg Lohmann die ideologische Vereinnahmung der Menschenrechte unter die Lupe. Denn Menschenrechte seien nicht in dem Sinne gemeint, dass „der Einzelne schlicht auf Kosten aller anderen seine Rechte geltend macht“. Sie implizierten nicht eine umfassende Theorie des Guten und seien im Prinzip einschränkbar. Gegen Einwände argumentiert der Autor: „Das scheint insbesondere dem geläufigen Verständnis der Unbedingheit und Absolutheit der Menschenrechte zu wiedersprechen, die häufig als ‚Trümpfe‘ (Ronald Dworkin) verstanden werden, die alle anderen normativen Erwägungen überbieten. Das scheint mir aber ein Missverständnis des kategorischen Anspruchs der Menschenrechte zu sein. Er bezieht sich auf den unbedingten Anspruch eines jeden Menschen, Träger von Menschenrechten zu sein, nicht auf seinen Anspruch, seine Rechte auch ohne jede Einschränkung durchzusetzen.“
Die Ernüchterung im Verständnis der Menschenrechte breche mit dem absoluten Verständnis ihres Geltungsanspruchs; vor allem, wenn es als moralisch absolutes Konzept verstanden wird. Oft im Dienst hehrer Absichten stünden auch Ausweitungen der Menschenrechte, „die entweder harmlos oder aber im Gegenteil unzulässig und irreführend sind oder sein können, häufig aber problematisch sind, d.h. in ihnen vermischen sich gute Absichten mit schlechten oder bedenklichen Folgen“. Man überschätze dabei, „was vernünftigerweise den Menschenrechten abverlangt oder was mit ihnen geleistet werden kann“.
Dieser Beitrag erscheint auch auf Susanne Baumstarks Blog Luftwurzel