Quentin Quencher / 01.11.2015 / 12:00 / 0 / Seite ausdrucken

Hühner und andere Menschen

Ich bin mit Tieren aufgewachsen. Der zum Siedlungshaus rund tausend Quadratmeter große Garten diente quasi als landwirtschaftlicher Nebenerwerb, mindestens aber seiner ursprünglichen Bestimmung: Als Basis für Selbstversorgung. Dazu gehörten bei uns eben auch Tiere. Haustier war immer einen Katze, dazu als Nutztiere Kaninchen und Hühner. Manchmal auch Gänse oder Truthähne und einmal ein Schaf. Davon gibt es noch Bilder, wie ich versuche darauf zu reiten. Das Schaf war größer als ich. Irgendwann wurde es geschlachtet, genaues weiß ich darüber nicht mehr, ob es irgendwelche Vorschriften gegeben hat, wonach man das schlachten eines Schafes melden musste, oder ob irgendwelche Untersuchungen obligatorisch waren. Nur eine gewisse Heimlichkeit an diesem Abend war spürbar, ich durfte nicht in den Stall, die Fenster waren dort zugehängt, und meine Eltern machten einen Eindruck, als ob eben was Verbotenes getan wird. Schwarzschlachten nennt man es wohl.

Ich habe es vermisst, das Schaf, wie auch all die anderen Tiere die geschlachtet wurden, um sie dann zu essen. Bei den Hühnern eher weniger, manchen wünschte ich den Tod. Gerade die Hähne, wie die immer arrogant und selbstgefällig umher stolzierten. Wenn es Futter gab, dann waren das die ersten am Napf, ich empfand dies immer als Unverschämtheit. Irgendwann sah ich mal einen Bericht im Fernsehen, von einem Bauernhof, in dem der Hahn, dann wenn es Futter gab, seine Hennen rief und selbst so lange mit dem Fressen wartete, bis die Hennen fertig waren. Bei uns war dies immer andersherum. Aber es waren ja auch immer mehrere Hähne, im Schnitt die Hälfte der Küken sind eben männlich. Klar wollten wir immer mehr Hennen als Hähne haben. Hennen gaben Eier und Fleisch, und meine Mutter glaubte an der Form der Eier zu erkennen, ob aus diesen ein männliches oder ein weibliches Küken schlüpfen würde. Entsprechend wurden sie ausgesucht. Als dann aber mal von den rund ein Dutzend Eiern fast nur Hähne geschlüpft sind, war das Gelächter groß, und noch auf so manchen Familienfest wurde dieser Vorfall besprochen. Nur meine Mutter fand es nicht lustig. Jedesmal wenn die Sache zur Sprache kam, geschah eine Verwandlung mit ihr. Auf einmal erschien sie mir wie ein beleidigter Gockel, der mit starrem Hals und erhobenen Haupt davon schreitet: Ihr könnt mich alle mal, schien sie sagen zu wollen. Die Welt und die Hühnereier hatten sich gegen sie verschworen.

Dann tat sie mir natürlich leid, und ich verachtete die grinsende und feixende Verwandtschaft, obwohl ich selbst natürlich auch lächeln musste. Doch lassen wir erst mal die Menschen und kehren zurück zu den Tieren. Die Hähne jedenfalls, vor allem wenn sie in eben dieser Vielzahl wie in unserem Hühnerzwinger waren, die mochte ich nicht, und es erfüllte mich mit einiger Genugtuung, zu wissen, dass sie die ersten sein werden denen die Rübe abgehackt wird. Am liebsten hätte ich es ihnen erzählt, schon aus Neugier um zu sehen, ob sie dann immer noch so arrogant und aufgeblasen umher stolzieren, und dann wenn es Fressen gibt, die Hennen verjagen. Gut, richtig erwachsene Hähne waren es ja nicht, dieses Alter haben sie nie erreicht, sondern eher so was wie Teenager. Noch nicht richtig krähen können, aber alle anderen terrorisieren.

Wir machen mit unseren Hühnern irgendwas falsch, davon war ich spätestens seit dem Fernsehbericht überzeugt. Dass der dortige Hahn der Chef war, war klar ersichtlich, aber auch, dass der seine Macht nicht selbstsüchtig ausnützte, im Gegenteil, er stellte sich in den Dienst der Hühnergemeinschaft. Wenn es denn sowas gibt. Nur, war dieses Verhalten ererbt oder erlernt, und warum verhielten sich unsere Hähne so anders? Ich bedrängte meinen Vater, nicht alle Hähne zu schlachten, wollte sehen was passiert, wenn ein Hahn am Leben bleibt, der dann die Führerschaft im Hühnerstall übernimmt. Verändert dann der sein Verhalten, stellt der sich auch in den Dienst der Gemeinschaft, oder bleibt er dieses Arschloch wie er es in Gemeinschaft mit anderen Hähnen ist? Ich habe es nie heraus gefunden, komisch eigentlich, dass so viele Fragen aus der eigenen Kindheit unbeantwortet geblieben sind.

Der Vater war strikt dagegen einen Hahn leben zu lassen. Für was soll der gut sein, er ist nur ein unnötiger Fresser. Meinen Einwand, dann bräuchten wir keine befruchteten Eier beim Bauer holen, wollte er nicht gelten lassen. Wenn wir nur die Eier von unseren Hühnern ausbrüten lassen, dann bekommen wir sowas wie Inzucht, so haben wir aber immer Blutauffrischung und bekommen weniger Krankheiten rein. Das Argument war natürlich quatsch, und wie das so oft bei Vätern ist, so unterschätzte auch mein Vater mein logisches Verstehen. Eine Vermischung fand ja gar nicht statt, sondern mit den befruchteten Eier von anderswo her, so importierten wir ja nur die dortigen Gene. Und wenn dort eben Inzucht herrscht, dann haben wir sie auch.

Mein Vater sah es aus rein praktischen Gesichtspunkten in der Abwägung von Aufwand und Nutzen. Es war deutlich billiger im Frühjahr befruchtete Eier zu kaufen, als einen Hahn den ganzen Winter durchzufüttern. Ich aber wollte wissen, welches Verhalten der Hühner, vor allem der Hähne, ererbt ist und welches erlernt. Es musste im Hühnerstall auch so was wie eine Kultur geben, etwas was über die Generationen weiter gegeben wird, bei uns aber immer wieder unterbrochen wird, da dreiviertel des Jahres kein Hahn bei den Hühnern ist. Warum sonst stellte sich der Hahn in den Hühnergemeinschaften der Bauernhöfe, solche mit Geschichte und Tradition, in deren Dienst, während bei uns die Halbstarken eine Terrorherrschaft errichteten?

Wahrscheinlich waren meine Schlussfolgerungen falsch, ich wusste eben damals noch nicht, dass wir gerne menschliche Verhaltensweisen auf Tiere projizieren, um uns dann praktisch in den Tieren wieder zu erkennen. So wie es bei den Hühnern zuging, so war es auch im Leben der Menschen. Speziell auch in meinem Leben in der DDR gegen Ende der sechziger Jahre. 1966 wurde ich eingeschult, mit sechs Jahren, einen Kindergarten hatte ich vorher nicht besucht. Und diese Gemeinschaft, in die ich nun gezwungen wurde, war mir vom ersten Tag an fremd und widernatürlich, sowohl im Verhältnis der Schüler untereinander, als auch das ganze System Schule. Von Ideologie und sozialistischer Erziehung verstand ich damals natürlich noch nichts, doch schon allein der Fahnenappell, in Hufeisenform standen die Klassen militärisch streng auf den Schulhof, irgendwelche Reden wurden gehalten, die DDR-Fahne gehisst und Belobigungen ausgesprochen, empfand ich, als wolle man mich in ein Paralelluniversum pressen. Ich habe sie gehasst, die ganze Schule mit ihren Ritualen und Zeremonien, die Lehrer und oft auch die Mitschüler, die den ganzen Quatsch über sich ergehen ließen und es hin nahmen wie das Wetter.

Alles erschien mir künstlich und aufgesetzt, und mich zwang man hier mitzumachen bei etwas, dessen Sinn und Zweck sich mir nicht erschloss. Klar, wenn man sechs Jahre alt geworden ist, musste man zu Schule gehen und lernen. Nur was das ganze Drum-Herum sollte, dieses stramm stehen, die Pausenordnungen wie die Hackordnungen erschienen mir widernatürlich und lediglich dem Zweck geschuldet, über mich Macht zu bekommen.

Eigentlich ging dies schon mit der Feier zur Einschulung los, an die ich allerdings nur eine Erinnerung habe, die Schultüte, wir nannten sie Zuckertüte. Zuhause wurde dieses Ereignis auch gefeiert, da gab es eine große Zuckertüte mit irgendwelchen Süßigkeiten drin, und in der Schule, zu der dortigen Feier, noch mal eine kleine. Im Schulhof stand ein großer Kastanienbaum, mit Fäden hatte man diese kleinen Zuckertüten daran befestigt, und jeder neue Erstklässler suchte sich eine aus. Brav stellte sich jedes Kind unter die von ihm gewünschte Tüte, doch wie sie diese dann in die Hand bekamen, das ging ja nicht ohne Hilfe, daran habe ich keine Erinnerung mehr. Vielleicht wurden die Kinder von den Eltern hoch gehoben, damit diese die Leckereien erreichen konnten, ich weiß es nicht mehr. Nur eine Zuckertüte, die hing nicht an einem Ast, die stecktein einem Astloch im Stamm. Das war meine, die die ich mir aussuchte, wahrscheinlich auch deswegen, weil ich um sie zu erreichen keine Hilfe brauchte. Das klettern auf Bäume war ich gewöhnt, in unserem Garten befanden sich ja einige.

Dieses Astloch in diesem Kastanienbaum, in dem meine kleine Zuckertüte war, blieb mir als Erinnerung an meine Einschulung immer gegenwärtig. Jedesmal wenn ich an diesem Baum vorbeiging, erinnerte mich die Existenz dieses Astloches an die meine, und dass ich nicht zur Masse der Schüler gehörte die sich brav haben hoch heben lassen, sondern dass ich mir meine Süssigkeiten erkletterte.

Gleichzeitig zur Einschulung geschah die Aufnahme in eine andere Gemeinschaft, die der Kirche. Religionsunterricht gab es ja an DDR-Schulen nicht, doch vor allem meine Mutter bestand auf diesem. So ging ich also jede Woche einmal, nach der offiziellen Schule, zur Christenlehre ins Gemeindehaus. Hier war alles anders, hier gehörte ich dazu. Geschichten wurden erzählt, und wie von allein lernte ich die Lieder auswendig. Natürlich war ich auch nach kurzer Zeit Mitglied in der Kurrende, wie der Kinderkirchenchor bezeichnet wurde.

Nichts erschien mir künstlich oder aufgesetzt, es war keine wie an den Haaren herbei gezogen wirkende Kultur wie in der Schule. Die Geschichten ergaben Sinn, sie erzählten von Individuen, von deren Kämpfen mit sich selbst und der Umwelt. Damit konnte ich was anfangen, es erklärte mir meine Welt, ich fand deren Sinnhaftigkeit im täglichen Leben bestätigt. Erst viel später, als Erwachsener, begann ich die Lehre die dahinter steckt kritisch zu hinterfragen. Die Geschichten aber, die Erzählungen und Beschreibungen, die faszinieren mich bis heute, weil sie mir eine Kultur der Toleranz vermittelten. Sie beschrieben Menschen in ihrer Verschiedenhaftigkeit.

Welcher krasser Gegensatz hingegen in der Schule, dieses kollektivistische, das Individuum immer nur als Teil und untergeordnet der Gesellschaft sehende menschenfeindliche Weltbild. Erziehung zum Klassenkampf vom ersten Tag an, auch mit Geschichten, die aber so fern meiner Empfindungen waren, dass sie mir immer fremd und konstruiert erschienen. Hier das Gute, dort das Böse - daran konnte ich dieser Absolutheit nie glauben. Die Kultur der Schule erschien mir oberflächlich konstruiert, nur einem bestimmten Zweck untergeordnet, dass ich sie geradezu lächerlich empfand. Und diese Lächerlichkeit hatte Macht über mich, dies war eine Kränkung die ich, wenn ich ehrlich bin, bis heute nicht überwunden habe. Meine Abneigung und mein Widerstand gegen das Gesellschaftssystem der DDR begann schon in der Schule, aus dem Bauch heraus sozusagen, längst bevor ich verstand, was derartige Ideologien in der Praxis bedeuteten.

Die Schule, das war wie unsere Hühner, vor allem wie die Hähne, in der kurzen Zeit in der sie lebten. Kulturlos, ohne Tradition oder tieferen Sinn, geradezu nur dem Zweck des Eigentümers untergeordnet, der keine Rücksicht auf die Natur der Vögel nimmt, solange sie ihm Eier und Fleisch liefern. Sie haben zu parieren. Die Kirche, nun, die schien mehr wie der Bauernhof aus dem Fernsehen. Traditionen und Kultur hatten sich entwickelt, und in diesem Rahmen lebten die Tiere gemäß ihren Eigenschaften. Beides stand stellvertretend für ein Gesellschaftsmodell, und genau das schaute ich mir, so glaubte ich, bei den Tieren ab. In Wirklichkeit aber projizierte ich nur diese beiden Welten, die der Kirche und die der Schule, auf die Hühner. Nur wusste ich das damals alles noch nicht. Ich war ja davon überzeugt, eine Beobachtung bei den Tieren gemacht zu haben, und verarbeite dabei doch nur unterbewusst eine lediglich gefühlte Erkenntnis.

Bis heute glaube ich an dieses gefühlte Wissen, die Kunst ist allerdings, herauszufinden, welchen Ursprung die dann unvermeidlichen Projektionen haben. Wir entdecken Dinge in Tieren, an anderen Menschen, überhaupt an allem was lebt, was aber gar nichts mit den Dingen zu tun hat, und deren Ursprung uns somit verborgen bleibt. Warum sonst sollte ich denn unseren halbstarken Hähnen den Tod wünschen, eigentlich liebte ich doch Tiere, sorgte für sie, besserte aber auch mit den Verkauf meiner Kaninchen, beispielsweise, mein Taschengeld auf. Es war ein durchaus rationales, aber auch emotionale gesundes Verhältnis zu unseren Tieren vorhanden. Nur eben zu den halbstarken Hähnen nicht, sie standen für etwas was ich hasste, und das hatte nichts mit den Tieren zu tun. Die Organisation unseres Hühnerzwingers, so wie er von meinen Eltern geführt wurde, betrifft dies genau so. Was war es, was mich daran so störte, dass es mir selbst heute noch, knapp ein halbes Jahrhundert später, so lebendig in der Erinnerung geblieben ist? Mit den Tieren selbst hat es jedenfalls sicher nichts zu tun.

Zuerst erschienen auf Quention Quenchers Blog Glitzerwasser

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