Von Frank Richter.
Vom November bis zum Dezember 2014 wuchsen die Demonstrationen kontinuierlich an. Montag für Montag zogen zehntausende Menschen schweigend durch Dresden. Sie lehnten das Gespräch mit Vertretern der Medien und der Politik rigoros ab. Sie signalisierten, das Vertrauen ins „System“ verloren zu haben. Am Scheitelpunkt PEGIDAS – am 12. Januar 2015 – waren es 25.000 Menschen. Damals befürchteten nicht nur ich, sondern viele Verantwortliche in der Politik, der Gesellschaft und der Kultur Dresdens eine zunehmende Radikalisierung und Gewaltbereitschaft. Sie waren sich einig, alles Mögliche versuchen zu müssen, um die trotzig Demonstrierenden zum Gespräch zu bewegen. Die pauschalen Beschimpfungen: „Neonazis in Nadelstreifen“ (Ralf Jäger, Innenminister von NRW, am 11. 12. 2014), „Komische Mischpoke“ (Cem Özdemir, Bundesvorsitzender von Bündnis90/Die Grünen, am 14. 12. 2014), „Schande für Deutschland“ (Heiko Maas, Bundesjustizminister, am 15. 12. 2014) und „Hass in deren Herzen“ (Angela Merkel, Bundeskanzlerin, am 1. 1. 2015) konterkarierten diese Versuche grandios. Sie wurden von den Organisatoren von PEGIDA dankbar entgegengenommen.
Die kardiologische Ferndiagnose der Kanzlerin war besonders verhängnisvoll. Wer hat sie beraten? Eines hätte man doch wissen können und bedenken müssen: Im kollektiven Gedächtnis der Dresdner spielt der 19. Dezember 1989 eine herausragende Rolle. Bundeskanzler Helmut Kohl war in die Stadt gekommen und hatte Gespräche, unter anderem mit Hans Modrow, dem Ministerpräsidenten der DDR, geführt. Als Helmut Kohl in den frühen Abendstunden zu einer Rede an die Ruine der Frauenkirche kam, wurde er von schätzungsweise 60.000 Menschen begrüßt. Diese trugen hunderte Deutschlandfahnen mit sich, riefen nach der Einheit Deutschlands und feierten den Bundeskanzler.
Helmut Kohl selbst hat dieses Ereignis als Wendepunkt seiner politischen Lagebeurteilung bezeichnet. An diesem 19. Dezember in Dresden sei ihm klar geworden, dass die Einheit Deutschlands schneller kommen würde als gedacht beziehungsweise politisch durch nichts aufzuhalten sei. Als tausende Dresdner im Dezember 2014 erneut wiederum in den Abendstunden und vor der inzwischen wiederaufgebauten Frauenkirche demonstrierten und Deutschlandfahnen schwenkten, wurden sie mit einer nahezu einhelligen Generalkritik überschüttet.
Obwohl sie äußerlich das Gleiche taten, was sie 1989 in der Gegenwart des Bundeskanzlers schon einmal getan hatten und was fünfundzwanzig Jahre lang als großartiges und herausragendes Ereignis der deutschen Nachkriegsgeschichte beschrieben worden war, wurden sie nun von prominenten Politikern – meist westdeutscher Provenienz – und von zahlreichen Medien abgestempelt als Nationalisten, Neonazis, Islamfeinde et cetera und in toto in die rechte politische Ecke gestellt.
In dieser Phase des Aufkommens von PEGIDA hätte es einer genauen Betrachtung und einer differenzierten politischen Antwort bedurft. Es stimmt, dass es auch schon in dieser frühen Phase von PEGIDA hetzerische Ansprachen und rechtsextremistische Ausfälle gab. Diese gingen von einzelnen Rednern aus, nicht von der Gesamtheit der Demonstranten. Dass sie allesamt als rechte Scharfmacher und Strippenzieher betrachtet und in der Kritik über einen Kamm geschoren wurden, war falsch.
Dass die etablierten demokratischen Parteien nicht nach den möglicherweise ernsten Problemen und berechtigten Anliegen der Demonstranten fragten, sondern diese entweder ignorierten oder diffamierten, war verhängnisvoll. Die richtigen Leute gerieten in die falschen Hände. Wenn sich zehntausende Dresdner 1989 von dem aus Westdeutschland kommenden Helmut Kohl verstanden gefühlt hatten, so fühlten sie sich nun von der aus Ostdeutschland stammenden Angela Merkel nicht nur nicht verstanden, sie fühlten sich von ihr abgekanzelt. Dass sie für viele Menschen im Osten – insbesondere in Dresden – regelrecht zum Hassobjekt und zur Projektionsfläche von Empörung wurde – was weder gerechtfertigt noch hinnehmbar ist –, hat in diesem Vorgang seine Wurzel. Es hat viel zu tun mit ihrer Herkunft und mit verschmähter Liebe.
Wie hätte die Einlassung der sorgend und mütterlich dargestellten Bundeskanzlerin am 1. 1. 2015 lauten müssen? Hans-Joachim Maaz, der bekannte Hallenser Psychoanalytiker, hat diese Frage in einer öffentlichen Veranstaltung wie folgt beantwortet: „Ich, die Bundeskanzlerin, mache mir Sorgen und stelle mir die Frage, warum so viele Menschen auf den Straßen demonstrieren und unserer politischen Ordnung misstrauen. Wir sollten niemanden vorschnell in die rechte Ecke stellen und im offenen Gespräch nach den Ursachen fragen.“
Auszug aus dem Buch: Hört endlich zu! Weil Demokratie Auseinandersetzung bedeutet von Frank Richter.
Hört endlich zu (2)
Hört endlich zu (3)
Frank Richter, geboren 1960 in Meißen, ist Theologe und seit 2017 Geschäftsführer der Stiftung Frauenkirche in Dresden. Zuvor arbeitete er als Pfarrer und war Direktor der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung. Während der politischen Wende 1989/90 war Richter einer der wichtigsten Exponenten der Bürgerbewegung in Dresden. Auch im wiedervereinigten Deutschland wurde er bekannt als Vermittler zwischen verhärteten Fronten. Seit die PEGIDA-Bewegung 2014 Dresden, Sachsen und Deutschland spaltet, setzt er sich für Gespräche mit der Führung und den Unterstützern der Bewegung ein.