Jennifer Nathalie Pyka / 24.01.2013 / 21:21 / 0 / Seite ausdrucken

Himmelreichs Beschwerden

Die aktuelle Ausgabe des „stern“ ist eine Offenbarung für alle, die schon immer wussten, dass es trotz Gleichberechtigung nach wie vor miserabel um die Lage deutscher Frauen bestellt ist. Unter dem Titel „Der Herrenwitz“ enthüllt die stern-Autorin Laura Himmelreich schier Unfassbares über den „spitzen Kandidaten“ Rainer Brüderle und dessen Testosteronhaushalt. Der Tatort: Eine Hotelbar, wo der FDP-Mann ihr vor rund einem Jahr angeblich auf die Pelle gerückt sein, dumme Sprüche gerissen und wohl ein bisschen zu lang in Richtung Dekolleté geguckt haben soll. Ein waschechtes „Gate“ also, das Himmelreich, die praktischerweise Zeugin der Anklage und Berichterstatterin in einem ist, damit geöffnet hat.

Der/die besorgte Leser_In stellt sich jetzt natürlich Fragen: Hat die Autorin wirklich so lange gebraucht, um dieses Trauma öffentlichkeitswirksam im „stern“ verarbeiten zu können? Oder war es doch die Nominierung Brüderles zum Spitzenkandidaten, die gewisse Erinnerungen weckte? So in etwa. „Eine Geschichte über das ‘neue Gesicht’ der FDP [hat] nun eine andere Relevanz“, vermeldete Himmelreich jüngst auf Twitter; was so klingt, als wäre Brüderle zum Tatzeitpunkt nicht als FDP-Fraktionschef, sondern als Protokoll-Führer des örtlichen Gärtnervereins tätig gewesen. Ob auch das geforderte „Mehr an Zivilisation“ und die Chauvi-Krise an sich heute relevanter als gestern sind, behält sie indes lieber für sich.

Denn schließlich soll es ja auch um Sexismus generell gehen, auch wenn keiner weiß, wo der eigentlich beginnt. Bei Komplimenten, bei falschen Blicken, oder gar bei der Tatsache, dass ausgerechnet eine Frau Brüderles Schlüpfrigkeiten dokumentierte? Und verharmlost man damit nicht auch sexuelle Gewalt? Nun, ähnlich wie die Schönheit liegt wohl auch der Sexismus im Auge des Betrachters bzw. der Betrachterin. Brüderles Dirndl-Weisheiten jedenfalls entsprechen dem, was eine durchschnittliche Wies‘n-Bedienung täglich hört. Sie sind primitiv, unhöflich, wenig originell und im Miteinander von Politik und Journalismus nicht wirklich angemessen.

Gleichwohl weiß frau sich in derartigen Notfällen ja trotzdem zu helfen. Ignoranz, Konter, Humor oder theatralische Ohrfeigen, ja, vielleicht sogar ein bisschen verschütteter Wein auf Brüderles Jackett - irgendwas davon wäre gerade für eine emanzipierte Frau wie Frau Himmelreich wohl machbar und auch angebracht gewesen. Auch und vor allem für sie „als Journalistin“, die möglicherweise nicht zum ersten Mal mit dummen Sprüchen in Berührung kam. Dass sie stattdessen ein Jahr wartete, um sich medial zu „wehren“, sagt nicht nur viel über ihren Arbeitgeber, sondern auch über den Zeitgeist, der die Geschichte umrahmt, aus.

Denn letztlich ist Frau Himmelreich nicht die einzige Heldin, die sich am immer schlimmer werdenden Alltags-Sexismus abarbeitet. Auch weitere Hauptstadtjournalistinnen, Politikerinnen und Hobby-Feministinnen bevölkern mittlerweile ein Biotop,  wo munter über Anti-Sexismus-Workshops für Männer sowie ähnliche Maßnahmen philosophiert wird. Und Sexismus, dass muss man wissen, beginnt hier schon bei schrägen männlichen Blicken im Aufzug.  Kein Wunder also, dass die moderne Feministin total im Stress ist. Vor ihr erstreckt sich ein schier endloses Einsatzgebiet, das beackert werden muss, und auch unzählige Gruselgeschichten, die als „Tabubruch“ vermarktet werden wollen.

Aber wer weiß: Vielleicht finden hierzulande auch einfach nur zu wenige Zwangsehen und Vergewaltigungen statt, gegen die frau noch anschreiben könnte. So zumindest ließen sich all die Irrungen, Wirrungen und die hochgejazzte Vorbau-Anekdote erklären. Natürlich: Auch eine Journalistin darf und soll sich nicht alles gefallen lassen. Man kann ihr aber wenigstens eine gewisse Hitzebeständigkeit und Entscheidungsfreude abverlangen. Entweder sie tauscht, wie es bei stern.de so schön heißt, „Offenherzigkeit gegen tiefes Dekolleté und klimpernde Wimpern“ und nimmt der Recherche zuliebe das Risiko dummer Sprüche in Kauf. Oder sie lässt es eben sein.

Bliebe nur noch eines: Mit wem sollten sich Politiker eigentlich in Zukunft an der Hotelbar unterhalten? Aus Sicherheitsgründen lieber nur noch mit männlichen Reportern? Oder ausschließlich mit Frauen, die einen blickdichten Angi-Gedächtnis-Hosenanzug tragen? Spätestens das nächste „Gate“ müsste diese dringenden Fragen beantworten.

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