Vera Lengsfeld / 04.08.2024 / 11:00 / Foto: WikiCommons / 10 / Seite ausdrucken

Hillbilly Running-Mate

J.D. Vance hat bereits ein sehr bewegtes Leben hinter sich – er war nicht nur Trump-Gegner, sondern musste sich auch von Kindheitstraumata befreien.

Im Jahr seines Ersterscheinens 2016 war das Buch „Hillbilly Elegy“ von J.D. Vance laut Sunday Times „das politische Buch des Jahres“. Auch andere Medien überschlugen sich in Lobpreisungen. Da beschreibt ein Abkömmling der weißen arbeitenden Klasse aus dem Rust Belt, dem zerbröckelnden Industriegebiet der USA, wie es ihm gelang, sein Herkommen zu verlassen und Mitglied der Elite zu werden. Geschrieben hat Vance das mit 31 Jahren, als er noch nichts war als ein Rechtsanwalt aus der Yale Law School, etwas, das er mit 13 Jahren als absurd bezeichnet hätte, wäre es ihm vorausgesagt worden. Vance beschreibt eine Schicht, die von Hillary Clinton als „the basket of deplorables“ verächtlich gemacht wurde.

Tatsächlich sind die Nachfahren irisch-schottischer Einwanderer am Boden der amerikanischen Gesellschaft angelangt. Sie sind vielleicht nicht materiell ärmer dran als die Hispanics oder die Schwarzen, aber laut Studien die pessimistischste und deprimierteste aller armen Bevölkerungsgruppen. Die Urgroßeltern von Vance lebten noch in den Appalachen, genauer in Jackson, wo die Familien arm, aber kinderreich waren. Die Großeltern wanderten, wie viele aus ihrer Generation, in die entstehenden Industriegebiete aus, wo neben Fabriken auch neue Siedlungen entstanden. Die Beziehung zur Heimat blieb eng. Trotz einer zehnstündigen Fahrt zwischen Middletown, der neuen Heimat, und Jackson pendelte man mehrmals im Jahr dorthin. Vance genoss bei seiner Urgroßmutter die wunderschöne Landschaft und stellte fest, dass die vier in Jackson gebliebenen Geschwister seiner Großmutter finanziell wesentlich schlechter gestellt waren als die vier ausgewanderten. Vor allem aber haftete die Prägung durch die Kultur von Gewalt und Drogenmissbrauch in Jackson an den Auswanderern.

Vances Großmutter musste mit zwölf davon abgehalten werden, einen Mann, der versucht hatte, sie zu missbrauchen, zu erschießen. Sie wurde als Teenager schwanger und floh mit ihrem Geliebten, der ihr Mann wurde, nach Middletown. Dort wurde der Großvater Stahlarbeiter und verdiente so gut, dass das Paar bald ein eigenes Haus bezog. Arm sein in Amerika bedeutet, dass man in einem eigenen Haus lebt, wechselnde Autos fährt, sein Essen hauptsächlich aus den Fast-Food-Restaurants bezieht und drogen- oder alkoholabhängig ist. Der Großvater von Vance war jahrelang ein schwerer Trinker. Seine Frau drohte ihm an, ihn umzubringen, wenn er nicht aufhörte. Als er das nächste Mal schwer betrunken auf die Couch sank, setzte sie ihn in Brand. Er wurde dank des Eingreifens seiner Tochter gerettet und trug wunderlicherweise nur geringe Brandwunden davon. Er bezog dann ein eigenes Haus, blieb aber mit seiner Frau eng verbunden und stoppte seinen Alkoholkonsum rechtzeitig, um eine Stütze in J.D.s Kindheit zu werden.

Die Mutter von Vance verließ das Haus ihrer Eltern schon als Teenager, wurde schwanger, geriet an einen drogenabhängigen Ehemann, von dem sie sich bald trennte. Der Vater von Vance war Ehemann Nr. zwei, dem noch mehrere unverheiratete und drei verheiratete Vaterfiguren folgten. Vance hatte es alle zwei, drei Jahre mit einem neuen Mann an der Seite seiner Mutter zu tun, die manchmal eigene Kinder mitbrachten. Kaum hatte er sich an die neue Patchwork-Familie gewöhnt, brach sie wieder auseinander. Einer der Männer adoptierte Vance, bevor er auf Nimmerwiedersehen verschwand.

Liebe zur Bildung

Kompliziert wurde das Leben durch die immer stärker werdende Drogenabhängigkeit seiner Mutter, die mindestens ebenso viele Entziehungskuren machte, wie sie Beziehungen zu Männern einging. Ehemann Nummer fünf warf sie schließlich wegen ihrer Heroinsucht aus dem Haus. Vance musste vor Gericht für seine Mutter lügen, damit sie nicht ins Gefängnis kam, musste ihr seinen Urin geben, damit sie bei einer angesetzten Kontrolle nicht ihre Lizenz als Krankenschwester verlor. Als sie von ihm verlangte, zu ihrem neuen Partner in eine andere Stadt zu ziehen, weigerte er sich und setzte durch, dass er zu seiner Großmutter zog. Zum ersten Mal entzog sich Vance dem familiären Chaos, indem er sich verpflichtete, vier Jahre bei den Marines zu dienen. Das veränderte sein Leben grundlegend. Statt Fastfood lernte er richtiges Essen kennen und wurde körperlich fit. Vor allem lernte er, was Verantwortung ist. Am Ende seiner Dienstzeit nahm er am Krieg im Irak teil, wenn auch nicht an der Front, sondern im Hinterland.

Trotz ihrer Drogenabhängigkeit hatte seine Mutter, die selbst Klassenbeste war, bevor sie wegen ihrer Schwangerschaft die Schule abbrach, Vance die Liebe zur Bildung mitgegeben. Sein Großvater die Liebe zur Lösung mathematischer Probleme und die Großmutter das Ziel, etwas aus sich zu machen, zur Universität zu gehen.

Nach seiner Dienstzeit gelang es Vance, in Yale zugelassen zu werden. Schon bei den Marines hatte er Kameraden aus den verschiedensten gesellschaftlichen Schichten kennengelernt, aber in Yale war er der Einzige, der nicht der Ivy League entstammte. Er stellte fest, dass es sich um eine komplett andere Gesellschaftsschicht handelte. Hier zählten vor allem Verbindungen und galten andere Regeln. Man netzwerkte bei Dinners und Cocktail-Partys. Als er das erste Mal an einem dieser Dinner teilnahm, wusste er nicht, was er mit dem vielen Besteck anfangen sollte, das um seinen Teller herum platziert war. Er tat, als müsste er dringend auf Toilette, und rief dort seine Freundin an, die ihm kurz erklärte, wie er vorgehen müsse.

„Nachhaltige Kindheitserfahrungen“

Diese Freundin wurde später seine Frau. Als er ihre Eltern zum ersten Mal besuchte, war er überrascht von der Abwesenheit von „Drama“. Keine Schreikrämpfe, kein Schlechtreden hinter dem Rücken, keine Unbeherrschtheiten. Seine Frau hatte es nicht immer leicht mit ihm, denn ab und zu ging das Appalachen-Temperament mit ihm durch.
Am Ende seines Buches beschreibt Vance, wie die Kindheitserfahrungen bis weit ins Erwachsenenleben reichen.

Die Psychologen nennen das „nachhaltige Kindheitserfahrungen“, erzeugt durch die in der Kindheit erlittenen Traumata. Von denen muss man sich befreien. Vance tut das, indem er sich als Politiker vor allem für die Unterschicht einsetzt. Staatliche Programme helfen kaum, weil sie nicht bekannt sind. Vance selbst wusste nicht, dass Yale ein Programm für arme Studenten hatte, das ihm einen großen Teil der Studiengebühren erließ. Diese Informationen sind wichtig und müssen bekannt gemacht werden, aber vor allem muss es Programme geben, die Teilnehmer befähigen, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen.

Als Donald Trump Vance zum Vizepräsidentschaftskandidaten machte, kam das als Überraschung für viele, könnte sich aber als sehr kluger Schachzug erweisen. Vance, der anfangs sein Gegner war, wird am 2. August 40, ist also noch jung und daher eine gute Ergänzung zu Trump.

Die deutsche Linke hat ihren Kampf schon aufgenommen

Wie hysterisch die Demokraten auf Vance reagieren, wird deutlich, wenn man sieht, dass sie versuchen, seine Bemerkung von vor vielen Jahren, als er Kamala Harris eine frustrierte kinderlose Katzenfrau nannte, zu skandalisieren. Wieso „Katzenfrau“ eine unverzeihliche Beleidigung sein soll, während „the basket of deplorables“ okay ist, müssen die Demokraten erst noch erklären.

Die deutsche Linke hat ihren Kampf gegen Vance schon aufgenommen. Der Ullstein-Verlag, bei dem 2017 „Hillbilly Elegy“ erschien, hat die Lizenz nicht verlängert. Der Verlag begründete seine Entscheidung damit, dass das Buch von Vance zum Zeitpunkt seines Erscheinens „einen wertvollen Beitrag zum Verständnis des Auseinanderdriftens der US-Gesellschaft“ geliefert habe. Heute aber vertrete der Ex-Gegner von Trump „offiziell an dessen Seite“ eine „aggressiv-demagogische, ausgrenzende Politik“. Yes Publishing hat die Rechte gekauft. Das Buch ist über ihn, möglicherweise mit einer Wartezeit auch schon wieder beziehbar.

Zudem kann man sich auf Netflix den großartigen Film ansehen, der zu diesem Buch gedreht wurde. (Dort ist übrigens die Top 10 der Filme – zumindest auf dem Account meines Sohnes – zur Zeit auf wundersame Weise nicht mehr zu auffindbar.)

 

Vera Lengsfeldgeboren 1952 in Thüringen ist eine Politikerin und Publizistin. Sie war Bürgerrechtlerin und Mitglied der ersten frei gewählten Volkskammer der DDR. Von 1990 bis 2005 war sie Mitglied des Deutschen Bundestages zunächst bis 1996 für Bündnis 90/Die Grünen, ab 1996 für die CDU. Seitdem betätigt sie sich als freischaffende Autorin. 2008 wurde sie mit dem Bundesverdienstkreuz am Bande geehrt. Dieser Beitrag erschien zuerst auf ihrem Blog Vera-Lengsfeld.de

Foto: Von Walker Evans - Via Library of Congress website [1]; high-res TIF converted to JPG, border cropped, Gemeinfrei, via Wikimedia Commons

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Thomas Szabó / 04.08.2024

Buchtipp: Woke Racism: How a New Religion Has Betrayed Black America / John McWhorter. Der schwarze Professor (Columbia University) argumentiert in Woke Racism, dass die woke Ideologie eine Religion ist, mit “white privilege” als Erbsünde. Er schreibt: “victimology, separatism, and anti-intellectualism underlie the general black community’s response to all race-related issues” “it’s time for well-intentioned whites to stop pardoning as ‘understandable’ the worst of human nature whenever black people exhibit it”. Die woke Ideologie der US-Demokraten macht die Schwarzen zu ihren Mündeln. Der Weg den J.D. Vance beschritten hat, um Armut, Ignoranz, Gewalt zu entkommen, steht auch für die schwarze Community der USA offen.

Helmut Driesel / 04.08.2024

  Ich dachte erst “running mate” heißt Laufbursche. Vom Hinterwäldler zum Laufburschen, dachte ich, damit gibt man doch nicht an. Als Hinterwäldler weiß ich aber, das kommt erst richtig zum Tragen, wenn man sich in den großen Städten aufhält. Trump und Vance werden sich fürchterlich in die Wolle kriegen, sobald sie miteinander zu tun haben. Schon weil Trump ja nicht gedient hat. Die wichtigste Rolle von Vance wird es sein, die Gusche zu halten, und das wird ihm am wenigsten gefallen. Außer der Liebe Gott hat ein Einsehen und lässt Trump den Weg alles Irdischen gehen. Nein, wir müssen uns das nicht wünschen. Haben die Amerikaner einen guten Präsidenten, könnten wir das ignorieren. Haben sie einen schlechten, müssen wir wachsam sein.

Dirk Göske / 04.08.2024

Danke für den Artikel. Das Buch beschreibt eine für mich völlig fremde Welt und ich kann die Leute nicht verurteilen für dieses Leben in dem sie gefangen sind. Eine Art amerikanischer Traum, vom Hillbilly zum Running Mate. Der Mann hat sich wirklich Respekt verdient. Dem Ullstein Verlag zolle ich natürlich auch meinen Respekt. Einfach aufs Geldverdienen verzichten zum Wohle der Ideologie, das ist schon famos. Vielleicht sollten sie einen Schritt weiter gehen und eine Gesinnungsprüfung bei ihrer Leserschaft in Betracht ziehen. Es läuft im Besten Deutschland aller Zeiten.

A. Ostrovsky / 04.08.2024

Vielleicht ist die Annahme, dass sich die Menschheit vom Niederen zum Höheren entwickelt, einfach falsch. Darauf weist ja schon Hillary C. hin. Und es wäre auch eine Erklärung für das sorgsam gehütete Geheimnis, dass sich das Genom der drei großen Affenarten untereinander stärker unterscheidet, als zum Genom des Homo Sapiens Sapiens.

S. Weisser / 04.08.2024

Ich konnte den Film vor ein paar Tagen noch auf Netflix ansehen. Sehr berührend. Ich bin also schon kontaminiert vom Gottseibeiuns.

A. Ostrovsky / 04.08.2024

Ich habe ein Problem mit der kulturellen Aneignung. Nein es ist nicht wegen der Schreibweise des Namens von Johann Wolfgang von, der ja so daher kommt, als wäre er auf einer amerikanischen Schreibmaschine entstanden. Es ist vielmehr das Lied “Wo sind all die Indianer hin”. Es ist ja aus dem Kontext erkennbar, dass sich das I-Wort auf die Stammeszugehörigkeit vor dem Verbot bezieht. Darf man also Bezeichnungen, die vor dem Verbot legal waren und die in ein Kulturgut vor dem Verbot eingeflossen sind, nun nach dem Verbot nur deshalb nicht mehr verwenden, weil es jetzt verboten ist. Das ist ein justizhistorisches Dilemma. Wer keine Geschichte hat, hat auch keine Zukunft. Wem sagen Sie das? Das wird uns mit einem Hohnlachen vor Augen geführt. Was kommt als Nächstes? Das Verbot des inneren Schweinehundes? Weil das Hassrede gegen Tiere ist? Werden damit nicht die Erkenntnisse des Psychopapstes Freud und seiner Jünger, sowie des Propagandapapstes Bernays und seiner Verjüngerer automatisch gesetzeswidrig? Ich möchte mir so eine Zukunft nicht vorstellen, die dann automatisch auch verboten werden muss. Vielleicht gibt es schon Bestrebungen, das Grundgesetz und die Kirchenbücher in Hinterplumsing zu verbieten. Vielleicht dürfen die Kirchenbücher nur noch auf dem Smartphone gehalten werden und dann werden sie irrtümlich gelöscht. Oder das Smartdings plumst hinten einfach runter?  Es gibt doch ein Rückwirkungsverbot. Gibt es doch, oder?  Das begründet zwar noch kein Verrücktwirkungsverbot, aber wem soll man das erklären? Dunning und Kruger sind vielleicht schon tot. Währet den Anfängen!! Gestern war es schon zu spät. Und morgen noch später.

Irene Luh / 04.08.2024

War J. D. Vance nicht deshalb zuerst Trump-Gegner, weil er auf die perfiden Lügen der Linken hereinfiel, hereinfallen wollte? ++ Dann prüfte er nach und siehe da: nichts außer Lügen über Donald Trump, der im Gegensatz zu seinen Gegnern über ein abgeschlossenes Wirtschaftsstudium verfügt und noch sehr viel mehr positive Eigenschaften hat. ++ Diese Zeiten sind auch deshalb irre, wahnsinnig krank, weil da ein “Retter” ist und sehr viele den “Retter” nur deshalb ablehnen, weil denen eine Haarsträhne nicht passen will. Man verlangt also vom “Retter” eine Vollkommenheit, die die Kritiker selbst nie liefern könnten.  ++ Zudem ist Trump ein zuverlässiger Freund Israels. Er weiß, wie man den Gegnern Israels echten Respekt einflösst.

L. Luhmann / 04.08.2024

“Als er das erste Mal an einem dieser Dinner teilnahm, wusste er nicht, was er mit dem vielen Besteck anfangen sollte, das um seinen Teller herum platziert war. Er tat, als müsste er dringend auf Toilette, und rief dort seine Freundin an, die ihm kurz erklärte, wie er vorgehen müsse.” - In derartigen Situationen kann man auch “Copy & Paste” anwenden.—- “Wie hysterisch die Demokraten auf Vance reagieren, wird deutlich, wenn man sieht, dass sie versuchen, seine Bemerkung von vor vielen Jahren, als er Kamala Harris eine frustrierte kinderlose Katzenfrau nannte, zu skandalisieren. Wieso „Katzenfrau“ eine unverzeihliche Beleidigung sein soll, während „the basket of deplorables“ okay ist, müssen die Demokraten erst noch erklären.” - ‘Cackling’ Kamela H. habe sich auf ihren Knien hochgehurt, wird schon seit vielen Jahren kolportiert ... und ich habe noch nie irgendwo gehört oder gelesen, dass sie jemanden wegen derartiger Aussagen angezeigt hätte.

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