Henryk M. Broder / 16.04.2022 / 06:25 / Foto: www.parlament.ch / 200 / Seite ausdrucken

Hier irrt Roger Koeppel

Bis zu einer rechtskräftigen Verurteilung gilt die „Unschuldsvermutung". Auch im Falle von Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, meint Roger Koeppel. Henryk Broder widerspricht.

Roger Koeppel, Verleger und Chefredakteur der Zürcher „Weltwoche“, ist „entsetzt darüber, wie elementare rechtsstaatliche Grundsätze jetzt einfach so außer Kraft gesetzt werden…“. 

Ein Grund für Koeppels Entsetzen ist „der unbedachte Auftritt“ des amtierenden Bundespräsidenten der Schweiz auf dem Bundesplatz in Bern „an der Seite des ukrainischen Staatsoberhaupts Wolodymyr Selinski“, wobei der schweizerische Präsident den ukrainischen Präsidenten als „meinen Freund Wolodymyr“ bezeichnete, was wiederum Koeppel zu der Frage veranlasst, „ob der Schweizer Bundespräsident tatsächlich der Meinung ist, dass er mit diesem Verhalten dem Ansehen der Schweizerischen Neutralität in der Welt, der Glaubwürdigkeit der Neutralität und auch der möglichen Vermittlertätigkeit, der Ur-Funktion der Schweiz als Friedensschlichter, gedient oder ob er nicht doch genau diese Qualität der Schweiz geradezu mit dem Presslufthammer zertrümmert hat“. 

Es gehe vor allem um das Prinzip der „Unschuldsvermutung“ sagt Koeppel. „Die Medien, die Gerichtshöfe der Moral, kennen keine Prozessordnung“, für die Journalisten stehe fest, „wir haben hier klare Kriegsverbrechen in Butscha, und es ist noch viel, viel klarer, wer hier der bereits überführte Übeltäter ist, es sind natürlich die Russen“. Selbstverständlich sei das „eine plausible und vielleicht wahrscheinliche Möglichkeit“, aber: „Was ein Kriegsverbrecher ist, bestimmen nicht die Medien, nicht die Politiker, nicht die Intellektuellen und die Meinungsmacher, das bestimmen die Richter an den eigens dafür erfundenen und zuständigen Kriegsverbrechertribunalen“.

Selbstjustiz, beinahe schon Lynchjustiz

Die Europäische Union, die sich „immer als Gralshüterin des Rechtsstaates inszeniert“, so Koeppel weiter, „verliert gerade komplett die Proportionen aus dem Auge und verfällt in diese Art der Selbstjustiz, um das Wort Lynchjustiz zu vermeiden“. Es gehe nicht an, dass „das Festhalten an der Unschuldsvermutung bereits als Stellungnahme für den Feind, als Landesverrat gedeutet wird“. Hier ist „definitiv etwas ausgerenkt worden“, aber er sei „voller Zuversicht, zumindest was die Schweiz angeht,“ dass es sich wieder einrenken werde.

Da ich kein Schweizer bin, ist ein möglicher Schaden am „Ansehen der schweizerischen Neutralität in der Welt“ derzeit nicht meine größte Sorge. Angesichts der Nachrichten aus der Ukraine halte ich das für eine Petitesse, über die wir uns unterhalten können, wenn die russischen Truppen die Ukraine verlassen haben, je eher desto besser. Ausgangspunkt aller Überlegungen, wie der „Konflikt“ beendet werden könnte, muss die unbestreitbare Tatsache sein, dass Russland die Ukraine überfallen hat – und nicht umgekehrt. Es ist nicht die Ukraine, die Russland das Existenzrecht abspricht, es ist Russland, das die Ukraine als souveränen Staat vernichten will. 

Um es auf ein ganz einfaches Beispiel herunterzubrechen: Wenn A in das Haus von B einbricht, dann liegt die Vermutung nahe, dass A von einer bösen Absicht angetrieben wird und nicht B. Es sei denn, B wäre verpflichtet, sein Haus zu räumen und es A zu übergeben, um ihm die Mühsal des Einbrechens zu ersparen. 

Die perfekte Täter-Opfer-Umkehr

In diesem Zusammenhang von einer Missachtung „elementarer rechtsstaatlicher Grundsätze“ wie z.B. der „Unschuldsvermutung“ zu sprechen, ist eine ungeheuerliche Frivolität, die ich nicht einmal einem nahen Verwandten aufgrund irgendeiner traumatischen Erfahrung durchgehen lassen würde. Natürlich dient ein solcher Vorwurf der Entlastung des Täters und der Belastung des Opfers. Es ist die perfekte Täter-Opfer-Umkehr, wie wir sie aus der jüngeren Geschichte kennen. Die Türken fühlten sich von ihren armenischen Nachbarn dermaßen bedroht, dass sie anderthalb Millionen von ihnen vertreiben und umbringen mussten. Der Völkermord an den Armeniern war die Blaupause für den Holocaust an den Juden, die dem Deutschen Reich „den Krieg erklärt“ hatten, wie es die letzten Alt-Nazis noch heute behaupten. 

Vom Grundsatz der „Unschuldsvermutung“ war keine Rede, als russische Panzer am 24. Februar in die Ukraine einfielen. Russland hatte nicht einmal eine formelle Kriegserklärung an die Ukraine abgegeben. Als Grund für die Intervention wurde die Notwendigkeit einer „Entnazifizierung“ der Ukraine angegeben. 

Also gut, nehmen wir für einen Moment an, die Toten von Butscha waren alle Komparsen des Kiewer Stadttheaters, die so taten, als wären sie von den Russen massakriert worden. Was ist mit den Kulissen, den ausgebrannten Autos, den zerbombten Häusern? Waren das auch Theater-Requisiten?

War Hitler kein Massenmörder?

Wenn für die Kollateralschäden der russischen Invasion die „Unschuldsvermutung“ gelten soll, wenn man also das Urteil eines „eigens dafür erfundenen und zuständigen Kriegsverbrechertribunals“ abwarten muss, dann dürfte man auch die drei schlimmsten Massenmörder des 20. Jahrhunderts – Stalin, Hitler und Mao – nicht Massenmörder nennen, allenfalls „mutmaßliche“ Massenmörder. Und wer es wagen sollte, Pol Pot, Idi Amin und Kaiser Bokassa „Mörder“ nachzurufen, könnte gemäß §189 des StGB wegen „Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener“ vor Gericht landen, eine Unbill, die den drei Blutsaugern erspart blieb.

Niemand bestreitet, dass die „Unschuldsvermutung“ ein wichtiges Instrument des Rechts ist. Das Prinzip „nulla poena sine lege“, keine Strafe ohne Gesetz, ist es auch.

Es besagt, dass ein Verhalten nur dann als Verbrechen verfolgt werden kann, wenn es zur Tatzeit als Straftat galt. Dieses sogenannte „Rückwirkungsverbot“ wurde von den Alliierten nach dem Krieg außer Kraft gesetzt, um die Nürnberger Prozesse durchführen zu können. Denn „Völkermord“ und „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ waren keine Straftaten im Sinne des Gesetzes. Die kriminelle Energie der Nazis übertraf alles bis dahin Gewesene. 

Es wird eine Weile dauern, bis sich die Juristen darüber verständigt haben, ob die „Spezialoperation“ der russischen Armee, die kein Krieg sein darf, den Tatbestand des Völkermords erfüllt oder „nur“ als Kriegsverbrechen gewertet wird.

Die „Unschuldsvermutung“ als Wunschdenken

Für die Annahme der „Unschuldsvermutung“ ist diese Unterscheidung irrelevant. Die Unschuldsvermutung sichert jedem mutmaßlichen Täter einen fairen Prozess zu. Sie gilt nicht gegenüber einem Kollektiv, das sich zum Morden verabredet hat. So wie es keine kollektive Schuld gibt, gibt es auch keine kollektive Unschuld. 

Es steht jedem frei zu glauben, woran er glauben will. Dass der Klimawandel kein Naturphänomen, sondern anthropogenen Ursprungs ist, dass die Mondlandung in der Wüste von Nevada in Szene gesetzt wurde, dass 9/11 ein Projekt der CIA in Zusammenarbeit mit dem Mossad war oder dass die Erde eine flache Scheibe ist, die in einem See aus Natronlauge schwimmt. 

Im Falle des russischen Überfalls auf die Ukraine allerdings müsste allein die Tatsache, dass jedem russischen Bürger, der die „Spezialoperation“ einen Krieg nennt, bis zu 15 Jahre Haft drohen, reichen, um eine „Unschuldsvermutung“ als Wunschdenken zu entzaubern. Wer angesichts der Bilder und der Berichte von einer „Unschuldsvermutung“ phantasiert, will sagen, dass man nichts ausschließen kann, nicht einmal, dass die Ukrainer sich selbst überfallen haben, womöglich in der Hoffnung, in den Genuss eines von der EU aufgestellten „Wiederaufbaufonds“ zu kommen. 

Solchen Leuten ist alles zuzutrauen, auch dass sie sich von einem Panzer überrollen lassen, um in die Nachrichten zu kommen, ohne Rücksicht auf elementare rechtsstaatliche Grundsätze und das Ansehen der schweizerischen Neutralität in der Welt.

Der Beitrag ist gekürzt in der Zürcher Weltwoche erschienen

Foto: www.parlament.ch via Wikimedia Commons

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Leserpost

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Andreas Marx / 16.04.2022

werter herr broder, ich bin nicht sicher, aufgrund welcher quellen sie die echtheit des „kriegsverbrechens in butscha“ beurteilen. ich hoffe, es sind nicht die medien aus dem verbund, die uns über saddams massenvernichtungswaffen und chemiewaffeneinsätze und die brutkastenstory im irak, … berichtet haben. ich nehme auch an, sie kennen die grundsätze jedes krieges: - die wahrheit stirbt immer zuerst - wer profitiert davon ich bin erstaunt, wie plötzlich personen wie broder, tichy, reitschuster all ihre grundsätze über neutrale berichterstattung über den haufen werfen. auf einen schlag sind scheinbar alle berichte aus den msm, die uns seit jahren in allen politischen und wirtschaftlichen themen belügen, wieder wahr. verrückte welt

M. Wolke / 16.04.2022

Ein zielführender Kommentar, Herr Broder. Der von mir sehr geschätzte Köppel ist in dieser wichtigen Sache leider auf merkwürdig Abwegen. Er verkauft dies mit seiner ansonsten richtigen Attitüde, die Minderheitsmeinung als ‘devils adcocate’ einzunehmen. Das ist allerdings bei Angriffskriegen wie von Hitler Deutschland oder nun Putins Russland nicht angebracht. Ich weiß nicht, was Köppel hier reitet. Ich finde es schade.

R. Matzen / 16.04.2022

Um es klar zu sagen, scheint es mir doch, als würden hier fleißig Haare gespalten. HMB und Roger Koeppel liegen doch gar nicht weit auseinander. HMB schreibt ja sogar in der Weltwoche. Das Ansehen der schweizerischen Neutralität finde ich wiederum nicht vernachlässigbar. Im Krieg stirbt die Wahrheit immer zuerst. Da ist es wichtig, sich auf bestimmte Dinge verlassen zu können. Zum Beispiel auf die Rolle der Schweiz als Vermittler. Vertrauen ist nämlich schneller verspielt als gewonnen. Ihnen allen wünsche ich frohe Ostern. Und den Ukrainern Frieden und den baldigen Sieg!

Sean le Carnêt / 16.04.2022

Koeppel irrt nicht, wenn er dazu rät erst einmal abzuwarten bevor man vermeintlich endgültige Urteile fällt. So manches von willfährigen Medien für korrupte Politiuker verbreitetes Schreckensszenario - von George Bushs Massenvernichtungswaffen des Iraks bis zu Scharpings Hufeisenplan im Kosovo - hat sich später deutlich anders dargestellt, als zunächst berichtet. Wir brauchen dringend Frieden in der Ukraine, da helfen eine mediale Eskalation und die Dämonisierunge von Putin ebensowenig weiter wie Beschönigungen. Koeppel liegt insbesondere richtig, wenn er die zwielichtige Rolle die Carla Del Ponte über Jahre gespielt hat zurechtrückt.

Karsten Paulsen / 16.04.2022

Man lässt einfach die ganze Vorgeschichte weg und fertig ist das Urteil. So einfach ist das nicht Herr Broder. Nein ich befürworte den Krieg nicht. Bereits Helmuth Schmidt hat vor den Gefahren durch die Nato Osterweiterungen gewarnt. Einfach ausgedrückt: Hätte Russland Mexiko “ukranisiert” wären die Amerikaner, gemäß der immer noch gültigen Monroe Doktrin, Mexiko angegriffen.

Stefan Hofmeister / 16.04.2022

Ich freue mich schon auf einen Podcast oder ein Video einer Diskussion Broder - Koeppel, Es versteht der eine nicht die Position des anderen und jeder hat angesichts seines Hintergrunds vermutlich für sich in gewisser Weise recht. Das wird hochinteressant! Bitte!!!

A. Ostrovsky / 16.04.2022

Bei dem Wort Querdenker, denkt man nicht zuerst an Reichsbürger, Nazis, oder Ukrainer. Nein man denkt an Querköpfe, denen man nichts recht machen können, an die Blaupause vom bösen alten weißen Mann. Und ja, in den renommierten Bekleidungshäusern gibt es diese großen Spiegel, wo man sich in Gänze sehen kann. Die kleinen Männer gehen da einfach näher ran, als die großen, das regelt sich irgendwie von selbst. Aber man muss dann auch schauen! Querdenker jedenfalls sind die Brüder der Querköpfe. Aber es ist völlig falsch, zu glauben, wenn man die übereinander legt, zeigen die alle quer in die selbe Richtung. Das wäre beängstigend, wenn die sich einig wären. Dann könnten sie ja tatsächlich etwas erreichen. Nein, die liegen alle überkreuz. Der Hilbert vom Hilbertraum muss da auf den unendlichdimensionalen Raum gekommen siin, in dem alle Querköpfe zueinander orthogonal sind. Aber es ist eben nicht even, es ist odd. Manche sind nur eben keine Querköpfe, sondern Spalter. Wenn Schauspieler auf Tournee sind, muss man applaudieren,  das gehört sich so. Aber wer nicht mit gutem Gewissen applaudieren kann, sollte besser gar nicht zu der Aufführung gehen und lieber schweigen. Sonst gefährdet er den Erfolg.

Uwe Heinz / 16.04.2022

Die Ermordung polnischer Offiziere in Katyn wurde in den Nürnberger Prozessen den Deutschen angelastet! Täter waren aber die Sowjets, die in genau diesen Prozessen die Schuld von sich auf andere geschoben haben. Man hat Assad den Angriff mit Giftgas auf sein eigenes Volk angelastet, wirklich bewiesen werden konnte es nicht, da genausoviel Indizien vorhanden waren, daß der IS dahinterstand, um den Westen zum Eingreifen zu zwingen. Ich stimme Roger Köppel zu, erst mal alles zusammenzutragen und dann den Schuldigen festzustellen! Kriegspropaganda wird immer von beiden Seiten betrieben. Beide Seiten wenden Gewalt an. Beide Seiten begehen Kriegsverbrechen. Diese Leute müssen gefasst und bestraft werden. Alles andere geht immer zulasten der Zivilbevölkerung! Für mich sind weder die Russen noch die Ukrainer Unschuldslämmer und jeder Krieg hatte bisher noch eine Vorgeschichte, ob sie mit Brutkästen, einem ominösen weißen Pulver oder einem anderen casus belli zu tun hatten. Wenn wir jetzt nicht aufpassen wird sich der lokale Krieg wieder zu einem Flächenbrand ausweiten, an dessen Ende viele Menschen nichts mehr haben werden und eine kleine Minderheit alles besitzen wird! Klaus Schwab reibt sich schon die Hände und läßt schön grüßen.

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