In den Schlagzeilen der Londoner Abendzeitungen durfte gestern ein Wort nicht fehlen: “hypocrisy” (Heuchelei) - fett gedruckt, unterstrichen und mit einem Ausrufezeichen versehen. Bezogen waren diese Anschuldigungen auf Ruth Kelly, Kommunalverwaltungsministerin in Tony Blairs Kabinett, und sie setzen sich in den heutigen Zeitungen von “Sun” bis “Telegraph” fort. Doch was sich den Lesern offenbar als veritabler Skandal darstellen soll, sagt mehr über den Zustand der britischen Presse aus als über das angebliche Fehlverhalten einer Politikerin.
Worin bestand also die “Heuchelei” von Mrs Kelly? Mrs Kelly war bis vor acht Monaten Bildungsministerin und ist Mutter von vier Kindern. Drei dieser Kinder besuchen staatliche Schulen. Ein Sohn jedoch fiel in der Schule jüngst durch Lernschwächen auf, woraufhin sich Mrs Kelly entschied, ihn in einem privaten Internat anzumelden, das sich auf die Förderung solcher Kinder spezialisiert hat. Die Kosten für diese private Schule betragen im Jahr 15.000 Pfund. Bei Mrs Kellys Bezügen als Ministerin von 137.000 Pfund kann sie sich dies problemlos leisten. Dabei hätte sie unter Umständen sogar Anspruch auf staatliche Unterstützung gehabt, auf welche sie allerdings verzichtete.
Seitdem all dies bekannt wurde, haben sich insbesondere Boulevard-Zeitungen auf Ruth Kelly eingeschossen, und beliefert werden sie dabei mit empörten Statements aus ihrer eigenen Partei. Dass dabei auch andere Rechnungen beglichen werden, versteht sich von selbst. So verwundert es nicht, dass sich eben jener Parteifreund zu Wort meldete, auf dessen Wahlkreis es Ruth Kelly angeblich abgesehen hat. Seinen Wählern sei Kellys Verhalten nur schwer zu vermitteln, meinte ihr selbstverständlich wohlwollender Kollege. Auch oft übergangene Hinterbänkler sahen nun ihre Chance gekommen, schließlich hat die 39-jährige Mrs Kelly einen kometenhaften Aufstieg in Partei und Regierung hinter sich. Und bei all dem schwingt sicherlich auch mit, dass sich Kelly mit ihrem offenen Bekenntnis zur katholischen Kirche in ihrer Partei nicht viele Freunde gemacht hat.
Aber rechtfertigt dies alles die jetzige Aufregung um ihre Person? Ist Kellys Verhalten wirklich heuchlerisch? Sie hat das getan, was alle Eltern tun würden, nämlich nach der bestmöglichen Schule für ihr Kind gesucht. Dies war in diesem Fall eine Privatschule, während ihre drei anderen Kinder nach wie vor Staatsschulen besuchen. Mrs Kelly hat auch nie die Abschaffung des Privatschulwesens gefordert, weshalb es völlig legitim ist, dass sie es nun auch selbst in Anspruch nimmt.
Es ist bezeichnend, dass Kelly ausgerechnet von der Opposition in Schutz genommen wird. David Cameron, der Chef der Konservativen, sagte, es handele sich um eine private Entscheidung der Mutter, nicht der Ministerin Ruth Kelly, und diese müsse sie zum Wohle des Kindes treffen. Auch die bildungspolitische Sprecherin der Liberaldemokraten, Sarah Teather, äußerte Verständnis. Die Kritik an Mrs Kelly sei unfair, erklärte sie. Allerdings müsse die Regierung aus diesem Fall lernen.
Damit kommt man dem eigentlichen Skandal in der Tat näher. So wurden unter der gegenwärtigen Labour-Regierung insgesamt 117 Schulen für Kinder mit Lernschwächen geschlossen. Für die etwa eineinhalb Millionen Kinder, die auf spezielle Fördermaßnahmen angewiesen wären, gibt es in ganz Großbritannien gerade einmal 250.000 Plätze in staatlichen Schulen. Kellys Verhalten macht insofern nur das Problem offenkundig; ihre private Entscheidung kann aber kaum heuchlerisch genannt werden, solange sie nicht vorgibt, im staatlichen Bildungssystem sei alles in bester Ordnung. Das hat sie aber auch nie gesagt.
Es gehört wahrscheinlich nicht zu den schlechtesten Seiten des deutschen Journalismus, das Familienleben von Politikern in der Regel nicht zum Gegenstand der Berichterstattung zu machen. Die Gefahr der Instrumentalisierung durch angebliche Parteifreunde und Medien ist nämlich, wie der Fall Kelly zeigt, sehr groß.