Als jemand, der „zu überspitzenden Übertreibungen“ neigt, hat man es dieser Tage in der empathischsten aller möglichen Gesellschaften nicht leicht. Andauernd wird man von der Realität überholt und steht plötzlich wie ein Depp da. Ob es sich um die Beschreibung sinnloser Maßnahmen aufgrund einer humorvollen Regierung oder die „Neufassung“ alter Spiele handelt – die Spinner sind dir immer einen Schritt voraus.
Sie kennen das sicher vom Stammtisch: Wie oft haben Sie im Familien-, Freundes-, Feindes- oder Bekanntenkreis zusammengesessen und irgendjemand in der Runde war den Tränen nahe, weil Sie „Schwarzer Peter“ spielen wollten und er oder sie eine dunklere Hautfarbe hatte. Da war es dann natürlich vorbei mit der Harmonie am Tisch und Sie haben dann Rommé, Schafkopf, Poker oder sonst ein anderes Kartenspiel (aber nicht Mau-Mau – das hätte die kenianische Widerstandsbewegung gegen den britischen Kolonialismus diskriminiert) vorgeschlagen. Oder haben ein paar Entschuldigungsworte gemurmelt und wären – böse, böse Uhr – vorzeitig nach Hause gegangen.
Geben Sie es zu: Sie waren, ebenso wie Ihre und meine Vorfahren, bisher grauenhaft unsensibel. Seit mehreren Jahrhunderten starrten und starren alle bei allen möglichen Kartenspielen auf die Blätter, ohne sich zu fragen, ob denn Bub, Dame und König unsere heutige Gesellschaft noch zeitgemäß abbilden. Schlicht, weil Sie und ich und unsere Ahnen ein ganz furchtbar oberflächlicher Haufen von rassistischen Sexisten und sexistischen Rassisten sind. Falls Sie aber tatsächlich bemerkt haben, dass die Könige selten schwarz, die Damen selten lesbisch und die Buben selten weiblich und behindert waren, haben Sie das trotzdem mangels Alternativen („für Deutschland“ und sonstwo) zähneknirschend hingenommen. In diesem Falle ist Ihre Leidenszeit vorbei!
Jana mit dem Saskia-Esken-Gedächtnis-Kurzhaarschnitt möchte „unterbewusste Stereotype aufbrechen"
Jana, Samantha und Carolin ist das nämlich auch aufgefallen, und den drei Studentinnen ist, in bester marktwirtschaftlich-radikaler Intention, die Idee gekommen, dies eigeninitiativ zu ändern. „(Menno), das normale Spiel bildet gar nicht unsere Gesellschaft ab“, maunzt Jana Fischer und hat deshalb mit ihren Mitstudierendinnen ein abnormales Spiel entwickelt, damit niemand mehr wegen der Hetz-Dame weinen muss. Statt Königen gibt es nun auch Königinnen, es gibt „Menschen mit Behinderungen und non-binäre Menschen“, „bei den Damen und Buben werden Geschlechterrollen aufgebrochen“ und „unterschiedliche Formen von Weiblichkeit und Männlichkeit gezeigt“.
Außerdem „sieht jede Karte anders aus, so wie wir auch“ und nicht nur das: Gezeichnet wurden die Karten „von unterschiedlichen Künstler*hups*Innen mit verschiedenen Hintergründen“ (die der Künstler*hust*Innen – nicht die der Karten). Doch damit nicht genug! Wie oft haben Sie zornentbrannt alle Karten auf der Hand gehabt, aber der Straight-Flush des Gegenüber hat Ihren Full-House pulverisiert und Sie haben die Karten zornentbrannt vernichtet? Dank der Jana, der Samantha und der Carolin können Sie dies künftig ohne schlechtes Gewissen tun, denn die Karten werden auf recyceltem Papier mit ökologischen Farben gedruckt. Außerdem unterstützen die Frouwens mit jedem Kauf die Aktion „Flüchtlingsangeln im Mittelmeer“ mit 50 Cent. Wer, außer mir, kann da schon widerstehen?
Okay, ganz zu Ende gedacht ist das noch nicht, wären die Karten auf Esspapier mit Lebensmittelfarben gefertigt, könnte man sie im Zweifelsfalle auffressen, aber die Studierinnenden des Fachs „Sustainability, Society and the Environment“ (exakt so, nix mit Völkerrecht) stehen ja noch am Anfang ihrer unternehmerischen Karriere. Nichts zu danken.
Doch was sagen die jungen Menschen selbst über ihre Intention? Caro begrüßt die Mitlesenden mit einem kecken „Hey“ und mag am liebsten die „Karo-König*Innen Karte“, weilweilweil… sie zeigt, dass „alle Personen, die höchste Position erreichen können und sich Weiblichkeit und Führung prima vereinen lassen“. Kommaregeln hingegen nicht. „Hi Jana“ hat am liebsten „die kurzhaarige Königinnenkarte“, weil sie selbst einen Saskia-Esken-Gedächtnis-Kurzhaarschnitt hat. Hihi. Sie möchte „unterbewusste Stereotype aufbrechen“ und sorgt dabei und damit für die Bestätigung von klischeehaften und stereotypen Rollen- und Spiegelbildern überkandidelter Orchideenfachstudentinnen.
Netter Spieleabend mit Austausch über Themen wie Rassismus und Sexismus
Samantha, oder „Sam“, wie sie ihre Freund*Innenden nennen, begrüßt uns mit einem echt hamburgischen „Moin“ und mag am liebsten die Pik-König*innen-Karte, „weil Geschlecht vor allem ein soziales Konstrukt ist“. Denn „wir müssen aufhören (wieso eigentlich?) in Binäritäten (und Kommaregeln) zu denken und anfangen Menschen unabhängig von ihrem Geschlecht wert zu schätzen.“ Gerade darum machen die drei Hübschen (darf man das noch sagen oder ist das sexistisch?) ja so ein Gewese um die Geschlechter. Sam oder Sammy „freut sich dabei besonders an intellektuellen Herausforderungen und Diskussionen, die die feministische und anti-rassistische Szene umtreiben“. Klar: Da dürften alle einer Meinung sein. Super-Diskussion. Und sonst so?
Deswegen sollen die Karten ja nicht nur dem schnöden Spiel dienen, sondern „den Austausch über schwierige Themen wie Rassismus und Sexismus (der bei vielen Menschen mit Angst und Unsicherheit verbunden ist)“ über „die unverkrampfte Atmosphäre bei einem Spieleabend einfacher zugänglich machen und zum Nachdenken anregen.“ Geht es eigentlich noch verkrampfter und verkopfter? Ich stelle mir das am dörflichen Stammtisch vor Vorort so vor: „Pieks ist Trumpf, Du Homo! Warum spielst Du da die diverse Cross-König*hng*In aus, Du Spasti?“
Damit aber genau das nicht passiert, bieten die drei Damen vom Spiel „Workshops“ an: Es gibt nämlich jede Menge zu lernen über „Privilegien“, wobei wir alle uns „soziale Teilhabe- und Ausschlussmechanismen anschauen“ und „über unterbewusste Rollenbilder sprechen“. Spielerisch erarbeiten sich die bis dato arbeitsscheuen Teilnehmer, „welche Ungleichheiten es auch in Deutschland gibt und warum wir uns mit unseren eigenen Privilegien auseinandersetzen müssen.“ Und warum die schwarze Pik-Non-Binäre künftig die höchste Spielkarte sein soll.
Und danach den Workshop „Der weibliche Zyklus“ besuchen
Wer das hinter sich und überlebt hat, der kann sich den Workshop „Hass und Kritik im Netz – haters gonna hate?!“ geben. Hier wird gefragt und sinnigerweise gleich geantwortet: „Wer hatet eigentlich gegen wen und was hat das für Auswirkungen?“ Und wie können, ohne den Einsatz von Mafia und Schusswaffen, „selbst im Netz Personen zum Verstummen gebracht werden?“ Tja: „Wir diskutieren mit euch über Silencing, Sexismus im Netz, Beispiele aus der Praxis und Lösungsstrategien.“ Ich hoffe, ich versaue den jungunternehmenden Menschen mit Menstruationsuntergrund jetzt nicht das Geschäft, wenn ich schreibe: „Bleib einfach in Deiner Blase von Gleichwoken.“
Apropos: Wer die ersten beiden Seminare mit Hilfe der Spielkarten überwunden hat, kann jetzt den Workshop „Der weibliche Zyklus“ belegen. Denn wisse, oh korrekt Kartenspielende*r: „Jede Frau hat einen eigenen individuellen Zyklus, der nicht immer in die 24/7 Rhythmus unserer Gesellschaft passt (ärgerlich, vor allem bei Haitaucher*Innen). Dabei kann der Arbeitsalltag durchaus produktiv und stressfrei gestaltet werde, wenn die eigenen Bedürfnisse berücksichtigt werden (beispielsweise gibt es Wichtigeres als Kommaregeln und Orthographie). Was braucht mein Körper in welcher Zyklusphase? Wie arbeite ich stressfrei und im Einklang mit meinem Körper (bleib daheim und spiele mit unseren Karten mit den anderen woken Freund*Innens)?
Was das jetzt noch mit den Karten zu tun hat? Nix. Warum fragen Sie? Weil das so irre schräg, klischeebeladen, hirnverbrannt komisch und geradezu manisch wirkt, dass ich mir das nur ausgedacht haben kann? Danke für das Kompliment, habe ich aber nicht. Wie eingangs gesagt: Auch meine Phantasie kennt Grenzen.
Ich fordere Sie, liebe Lesende, daher dazu auf: Kaufen Sie sich ein Kartenset und seien Sie beim nächsten Kameradschaftsabend bei der Bundes- oder Feuerwehr der woke Held, die woke Heldin, das woke Heldende. Und niemand wird Sie mehr wegen Ihrer lausigen Kartenkünste belächeln. Denn mit diesem Kartenset haben Sie stets den antisexistischen und antirassistischen Trump(f) in der Hand! Und berichten Sie mir von Ihren Erfahrungen. Wenn Sie wieder aus dem Krankenhaus draußen sind. Lesen Sie auch morgen vor zehn Monaten: „Ist Schach rassistisch?“
(Weitere Trümpfe des Autors unter www.politticker.de)
Von Thilo Schneider ist in der Achgut-Edition erschienen: The Dark Side of the Mittelschicht, Achgut-Edition, 224 Seiten, 22 Euro.