Von Michael W. Alberts.
Zu meinem Beitrag „Herden-Immunität: Näher als gedacht?" vom Freitag über die Ausbreitung des China-Virus, warum unterschiedliche Bevölkerungsgruppen sehr unterschiedlich dazu beitragen und warum wir vielleicht schon recht nahe an einer Herden-Immunität sind, haben einige Leserinnen und Leser Meinungen beigetragen. Auf einige möchte ich hier eingehen:
Natürlich kann man bei so einer komplexen Materie immer nur einen Ausschnitt beleuchten; notgedrungen fehlt vieles, was ebenfalls wichtig wäre. Damit muss man leben, als Autor und als Leser. Gleichwohl Danke für die zusätzlichen Hinweise, z.B. den von Frau Mertz; deren Meinung nach „scheint es ja noch einige andere Gründe für den Rückgang der Fallzahlen zu geben, vor allem, dass sich Coronaviren saisonal verhalten“. Ja, das ist wohl so, und dieser positive Effekt, der z.B. darin begründet ist, dass das Virus von Sonnenschein (UV-Licht) in kürzester Zeit unschädlich gemacht wird, ist quasi zu der (anteiligen) „Herden-Immunität“ noch zu addieren. Der Unterschied ist aber, dass die Herden-Immunität im Herbst immer noch wirkt, auch wenn die Sonne sich nicht mehr so viel blicken lässt.
Frau Kuhn macht ganz zu recht darauf aufmerksam, dass parallel zu den Schutzmaßnahmen, zu denen die Politik die Gesellschaft gezwungen hat, „die Migration ungehindert weitergegangen ist und … viele Zugereiste infiziert sind“. Ja, das ist ärgerlich, aber das ändert nichts daran, dass die einheimische Bevölkerung mit einiger Wahrscheinlichkeit inzwischen eine gewisse Immunität gewonnen hat, und zwar insbesondere die „Super spreader“, die mit dem Virus besonders früh in Kontakt gekommen sind. Frau Kuhn bezieht sich dann auf diesen Hinweis in meinem Beitrag: „Und es sind eben auch nur etwa 10 Prozent der Bevölkerung, die 80 Prozent der Virusverbreitung besorgen (amtliche Zahlen!)“ und fragt, woher denn diese Zahlen stammen. Ganz einfach: aus dem von mir aufgegriffenen Fachbeitrag von Nicholas Lewis, der die aktuelle Forschung allem Anschein nach ganz gut übersieht und entsprechende Statistiken zitiert. Derer habe ich mich bedient; auf den Fachbeitrag wurde ausdrücklich verlinkt.
Politik ist nicht falsch, weil jemand unsympathisches sie verfolgt
Insoweit trifft mich auch die Meinung von Herrn Goldmann aus Dänemark nicht so sehr, der sich beschwert über „die ganze Zahlenspekuliererei ohne jegliche belastbare Basis“. Nun, wir haben immer noch nicht all die Zahlen und Erkenntnisse, die wir gern hätten, aber wir wissen inzwischen eben doch schon sehr viel mehr als vor zwei oder drei Monaten. Damit muss man sich dann schon auseinandersetzen, politisch – oder wie soll es sonst gehen?
Noch eine eher allgemeinpolitische Anmerkung steuert Frau Ruth bei – nach deren Meinung habe ich „den Fehler gemacht, Trump zu erwähnen, noch dazu als nachahmenswertes Beispiel, Trump ist doch in D dermaßen verhasst, so irreal…. das wird man Ihnen nie verzeihen.“ Ich habe den amerikanischen Präsidenten bewusst zitiert: weil er der mit Abstand bedeutendste Politiker weltweit ist, der zunächst intensive Schutzmaßnahmen ergriffen hat und jetzt stark auf eine Öffnung hinwirkt. Das ist der richtige Weg, und wer dem offensichtlich richtigen Weg nicht folgt, nur weil er Herrn Trump nicht leiden kann, dem ist leider nicht zu helfen. Wer will, darf auch Österreichs Kanzler Kurz folgen, das kommt fast aufs Gleiche raus, aber der ist auch irgendwie rechts und daher ähnlich verboten.
Sachlich richtig weist Herr Dr. Schlichting darauf hin, dass die Reproduktionsrate des Virus nicht nur vom Virus selbst und seinen Eigenschaften abhängt, sondern auch von der Ausbreitungsumgebung, also unter anderem dem Verhalten der betroffenen Menschen. Dazu gehöre auch, dass Menschen auf dem Lande, die ohnehin mehr Abstand voneinander haben, sich weniger leicht infizieren. So ist es.
Nicht mehr so überzeugend ist die Behauptung, Schweden und Deutschland könne man daher nicht vergleichen, denn Schweden habe nur 10% der Bevölkerungsdichte. Das mag zwar sein, aber dort, wo das Virus sich bisher austobt, nämlich vor allem im Bereich Stockholm, wohnen die Menschen durchaus nah beieinander, und damit ist die Ausbreitung der Krankheit dort sehr wohl vergleichbar.
Nur nebenbei: Herr Schlichting gibt seiner Verärgerung Ausdruck, indem er vermutet: „Offenbar scheint man mit solchen Artikeln aber Geld verdienen zu können.“ Da muss ich den Leser leider enttäuschen, denn Beiträge wie diese verfasse ich pro bono, wie der Jurist sagt, einfach aus Interesse an Politik und dem Wohlergehen der Gesellschaft. Also wenn mir schon Eigennutz unterstellt wird, dann sicher nicht Profitgier, höchstens Geltungsbedürfnis.
Stark unterschiedliche Todesfallzahlen je nach Land
Herr Kaufmann berührt einen wichtigen Punkt: „Offenbar ist der Verlauf in Ländern wie F, E, I, B (Frankreich, Spanien, Italien, Belgien) oder GB (Großbritannien/UK) ziemlich anders als in Portugal, Dänemark, Deutschland oder Südschweden; die Gründe haben wir noch nicht verstanden. Für die erste Ländergruppe hat sicherlich das Herunterfahren eine größere Katastrophe verhindert; dort sind anteilig fünf- bis achtmal so viele Menschen gestorben.“ Es ist leider nicht unbedingt davon auszugehen, dass die Statistik in allen Ländern nach exakt gleichen Vorgaben geführt und ganz präzise ist. Das gehört zu den noch nicht wirklich geklärten Fragen, übrigens auch in den USA. Es scheint regionale Politiker und Behörden zu geben, die die Todesfallzahlen bewusst in die Höhe treiben, aus welchen Gründen genau auch immer. Dabei ist eine exakte Abgrenzung von vornherein schwierig, denn viele sehr alte und vorerkrankte Patienten wären ohnehin gestorben, vielleicht nicht einmal später als ohne zusätzliche Ansteckung mit dem Virus, oder nur Tage später. Man kann nur hoffen, dass unvoreingenommene Fachleute diesem Punkt in den nächsten Monaten genauer auf den Grund gehen werden.
Aber ungeachtet solcher Unsicherheiten ist es vermutlich doch so, dass die Virusgefahr noch von weiteren Faktoren abhängt, etwa der Qualität der Krankenhaus-Systeme, der Wohnsituation der Bevölkerung (allein oder in Großfamilien), den Alltagsgewohnheiten auch vor einem kulturellen Hintergrund (Migration), um nur wenige mögliche Aspekte zu nennen.
In diesen Kontext passt auch das Argument von Herrn Huebner; er schreibt: „Schweden hat als Folge der ‚Durchseuchungstheorie‘ für Corona bisher eine etwa 3,8-mal höhere Todeszahl pro Million Einwohner als Deutschland“. Das würde sehr gegen das „schwedische Modell“ sprechen, keine Frage. Aber die Todesfälle in Schweden sind eben nicht höher als in Ländern wie Frankreich oder auf der britischen Insel, und damit scheint das schwedische Vorgehen eben doch durchaus „konkurrenzfähig“ zu sein.
Übrigens ging es mir nicht darum, Schweden zum großen Vorbild zu erklären. Offensichtlich sind dort auch Fehler begangen worden, etwa im Blick auf die Alten- und Pflegeheime, deren Personal man womöglich nicht hinreichend zu effektiv schützendem Verhalten im Alltag mobilisieren konnte. Aber Schweden zeigt nun einmal, dass der Verzicht auf strenge „Lockdown“-Maßnahmen nicht unmittelbar zur Katastrophe führt – bei aller Vorsicht der Zahlen-Interpretation.
Taugt Schweden als gutes oder schlechtes Beispiel?
Damit zuletzt noch zu Herrn Idler, der kritisiert: „Die Überlegungen zu Schweden sind interessant, aber passen nicht. Die Sterblichkeit ist sehr ungleich verteilt, geografisch. Stockholm, eine Stadt mit weniger als einer Million Einwohnern, hat mit etwa 1900 fast die Hälfte der Todesfälle, das sind etwa 0,2 Prozent der Bevölkerung (nicht der Infizierten). … Die Zahl der Corona-Toten ist in Schweden insgesamt je Million Einwohner fast viermal so hoch wie in Deutschland, aber mit fast der Hälfte der Toten in zehn Prozent der Bevölkerung (Stockholm) ist der schwedische Weg noch verheerender als der Ländervergleich vermuten läßt.“ Das ist nur vordergründig überzeugend, denn zum einen: Verglichen mit Deutschland sehen derzeit viele Länder sehr schlecht aus, nicht nur Schweden – wie vorhin schon erläutert. Und dass sich Todesfälle nicht gleichmäßig in der Fläche verteilen, auch das gilt nicht nur für Schweden. In Amerika etwa entfällt etwa die Hälfte der Todesfälle auf den Großraum New York, und dort leben auch höchstens 10% der US-Bevölkerung. Damit sind wir erneut bei der Tatsache, dass Schweden eben kein katastrophaler Ausreißer ist.
Herr Idler schreibt außerdem: „Ein Massentest der Stockholmer ergab 7,3 Prozent mit Covid-19-Antikörpern, also mit aktueller oder überstandener Infektion (das wären etwa 70.000 Einwohner). Demnach wäre die Coronasterblichkeit in Stockholm knapp 3 Prozent, bisher.“
Das ist leider das Problem mit vielen Zahlen und Einzelstudien, die derzeit herumgereicht werden: Sie sind vielfach nicht zuverlässig. Ich kann nicht bewerten, was für ein „Massentest der Stockholmer“ das war. Ob er repräsentativ war, ob der genutzte Test zuverlässig ist und ähnliches. Aber dass der Erreger in Stockholm ungefähr mindestens zehnmal so häufig zum Tod der Patienten führt wie im weltweiten Vergleich mit anderen westlichen, hoch zivilisierten Industrienationen, das scheint doch nicht so ganz plausibel. Wobei in der Tat Metropolen mit Metropolen zu vergleichen sind, und dort dürfte die Sterblichkeit wirklich höher liegen als im allgemeinen Durchschnitt, eben wegen der räumlichen Enge.
(Deutsche) Politik muss mehr Fakten liefern und offener denken
Wie ausdrücklich in meinem Beitrag formuliert: Natürlich konnte ich nicht den Anspruch erheben, nun endlich „die richtigen Zahlen“ in der Hand zu haben. Zu manchen Fragen verdichten sich inzwischen Forschungsergebnisse und man kann damit vorsichtig spekulieren, während manche Fragen noch reichlich ungeklärt sind. Da wir aber akut Politik machen, verantworten und möglichst vorher rational diskutieren müssen – was bleibt uns anderes übrig? –, müssen wir mit dem Zahlenmaterial arbeiten, das uns vorliegt.
Noch einmal: Der entscheidende Aspekt meines Beitrags war die Feststellung, dass relativ kleine Anteile der Bevölkerung, weil sie so viele soziale Kontakte haben, privat oder beruflich, im „Hochlauf“ der Epidemie einen riesigen Anteil an der Verbreitung haben. Etwas später sind diese „super spreader“ aber fast alle immunisiert, und damit sinkt die Reproduktionsrate des Virus ganz erheblich – und zwar so stark, dass mehr oder weniger eine „Herden-Immunität“ erreicht sein könnte.
Ob diese in Schweden ganz erfolgreich erreicht ist oder nicht, oder ob sie in Deutschland vielleicht zur Hälfte erreicht ist oder schon mehr, das könnte man feststellen, wenn man einigermaßen flächendeckend repräsentativ die Bevölkerung darauf testen würde.
Parallel sollte man unbedingt vorsorglich massiv testen an Punkten, wo das Virus sich besonders stark und gefährlich verbreiten kann, z.B. im Umfeld von Alten- und Pflegeheimen, z.B. in Schlachthöfen, die sich in Amerika als zentrale Verbreitungspunkte herausgestellt haben.
Den Kopf in den Sand zu stecken und einfach abzuwarten, bis die Dinge sich von selbst in Wohlgefallen auflösen, ist keine vernünftige Option; ebensowenig das reine Dampfablassen angesichts einer zweifellos ärgerlichen Gesamtlage.
Wenn Zahlen und Zusammenhänge teilweise noch ziemlich fraglich sind, dann muss die Politik härter an den Antworten arbeiten, anstatt eine vordergründige Show abzuliefern.
Dazu gehört, die „Herden-Immunität“ als eine offenbar sehr reale Option in die Betrachtungen und notwendige Forschungsarbeiten einzubeziehen, anstatt das gesellschaftliche Leben „auf Vorrat“ monatelang reichlich lahmzulegen.