Jesko Matthes / 17.06.2017 / 07:50 / Foto: Bundesarchiv/Grubitzsch / 6 / Seite ausdrucken

Helmut-Kohl-Straße 1

Von Jesko Matthes.

Meine Erinnerung an Helmut Kohl hat mit Griechenland zu tun. Im Herbst 1982 befand ich mich auf einem Schiff vom Piräus nach Iraklion, als Schüler auf einer Kursfahrt meines Gymnasiums. Mein Freund Jens hatte einen kleinen „Weltempfänger“ bei sich, und in der Nacht quäkte dieser über Kurzwelle, der Bundeskanzler heiße Helmut... Kohl. Ich ging an die Bar, besorgte einen Retsina und stieß mit mir selbst an. Andere waren entsetzt. Genschern lohnt sich nicht, prangte bald an der Schule – Das allerdings sahen die Botschaftsflüchtlinge in Prag 1989 ganz anders.

Oskar Lafontaine und Horst Ehmke, auch Richard von Weizsäcker („jetzt bloß nicht durchballern“) mahnten wenig später, im November 1989, die deutsche Einheit solle nur nicht zu schnell und zu teuer kommen. Vor allem die SPD hatte ihre Schwierigkeiten mit der deutschen Einheit, der Wandel durch Annäherung an die Verbrecher der SED eine Richtung genommen, auf die sich die Genossen erst einstellen mussten. Das verstand ich, ich nahm es ernst, sah sogar eine gewisse Tragik und wiederum später, mit einer Mischung aus Genugtuung und Befremden, wie rasch nach dem Tode Willy Brandts Straßen nach ihm benannt wurden – und ich erwarte keineswegs, dass dieser Trend sich nach dem Tode Helmut Kohls wiederholt.

Denn die geistig-moralische Wende lässt auf sich warten. Sie wird die eigentliche posthume Pointe des Wirkens des Kanzlers aus Oggersheim, selbst wenn Angela Merkel länger regieren sollte als Helmut Kohl. Ebenso amüsant wie richtig ist es nämlich, wenn Helmut Schmidt 2012 bemerkte, eine Wende habe es nie gegeben, nur das Personal sei ausgetauscht worden. Schmidt hat damit unbewusst ein beredtes Zeugnis der Austauschbarkeit deutscher Kanzler abgelegt; so ironisch kann ehrliche Eitelkeit sich auswirken.

Dies war die erste Frucht der Pointe Helmut Kohls, mein Empfinden war allerdings, dass das Personal gegen eines ausgetauscht worden war, das angesichts des NATO-Doppelbeschlusses und der Veränderungen des Ostblocks sprachlich glaubwürdiger und inhaltlich patriotischer war als der späte Helmut Schmidt und seine SPD. Das Bonmot vom Austausch des Personals ließe sich auch danach nahtlos fortschreiben, mit der Wahl Gerhard Schröders 1998. Sie führte den Alt-Juso Schröder ins Kanzleramt, Deutschland in die fälligen Reformen der Agenda 2010, die Grünen unter Joschka Fischer in eine Position, die sie zwangen, die Westbindung der Bundesrepublik und das Bekenntnis zur Bundeswehr zu akzeptieren. Dies war die zweite Frucht der Pointe Helmut Kohls.

Und sogar Cem Özdemir unterbrach gestern, am 16. Juni 2017 seine Rede, in der er auf dem Parteitag der Grünen, kurze Zeit nachdem er in englischer Sprache das Europa der multicultural societies gepriesen hatte, nun den verstorbenen Helmut Kohl als einen großen Europäer pries. Frank-Walter Steinemeier, mit schwarzer Krawatte, äußerte sich praktisch gleichlautend. Dies ist die dritte Frucht der Kohl'schen Pointe.

Die Pointen Helmut Kohls

Helmut Kohls Leben und Werk sind in jeder Hinsicht zukunftsweisend. So blitzschnell, wie er im November 1989 sein Zehn-Punkte-Programm zur deutschen Einheit präsentierte und vorausschauende Führungsstärke bewies, so sehr lag ihm auch das einige Haus Europa am Herzen, das seine Konflikte innerhalb des Hauses austrägt und beilegt, auch – und damit in seiner von Kohl angebahnten und hinterlassenen problematischsten Form – mit einer gemeinsamen Währung.

Helmut Kohls am meisten belächeltes Wort, jenes von der geistig-moralischen Wende, behält damit noch sehr lange seine Gültigkeit. Denn die Auseinandersetzungen innerhalb Europas verlaufen nicht mehr entlang erratischer Machtblöcke, auch nicht mehr entlang rein monetärer, fiskalischer oder wirtschaftlicher Erwägungen, die sich längst als Teil des Problems und nicht der Lösung erwiesen haben: nein, sie verlaufen entlang der Linien geistig-moralischer Inhalte. Wie sonst wäre es zu erklären, dass fast niemand über die Probleme des Euro spricht, aber jeder über die des Brexit, jeder über die Bedrohung Europas durch die „Populisten“, jeder über die „Rettung“ Europas durch Mark Rutte und Emmanuel Macron – und Angela Merkel?

Lächerlich war es, dass der eine Parteispendengünstling, Helmut Kohl, seinen Ehrenvorsitz über die CDU verlor, während der andere, Wolfgang Schäuble, noch eine ganze Weile CDU-Vorsitzender blieb und heute der hoch geachtete Finanzminister ist, der dem deutschen Parlament kein Mitspracherecht über die weitere Finanzierung Griechenlands einräumen möchte.

Lächerlich ist es, das Angela Merkel, als die große europäische Alleingängerin in Sachen Energiewende, Eurorettung und Einwanderung, für sich reklamiert, die (von Martin Schulz und Cem Özdemir einmal abgesehen) angeblich einzige Garantin für das gemeinsame Handeln, die Einheit Europas zu sein - ohne jemals auch nur einen Zehn-Punkte-Plan für die Einheit Europas vorgelegt zu haben.

Straße der Einheit

Straßen werden also noch lange nicht nach Helmut Kohl benannt werden, vielleicht nie. Ich hätte allerdings eine nette Idee, eine weitere vorläufige Pointe. Man könnte als erste die Kleine Alexanderstraße in Berlin-Mitte in Helmut-Kohl-Straße umbenennen. Das wäre eine angemessene geistig-moralische Adresse für die Bundeszentrale des Gregor Gysi und seiner SED-Nachfolger, der Linkspartei. Denn das Bundeskanzleramt hat bereits eine Adresse: „Willy-Brandt-Straße 1“.

Ich wage eine Prophezeiung: In Deutschland werden eine Menge Straßen nach überzeugten Europäern benannt sein - außer nach Helmut Kohl, auch dann noch, wenn Europa nur noch ein Schatten seiner selbst ist, und dann wird man sich vielleicht fragen, ob das alles mit rechten Dingen zugegangen ist. Das wir die letzte Frucht der Pointe Helmut Kohls sein, und was das mit geistig-moralischer Wende zu tun hat, weiter umstritten.

Ich werde Helmut Kohl vermissen.

Jesko Matthes ist Arzt und lebt in Deutsch Evern.

Foto: Bundesarchiv/Grubitzsch CC BY-SA 3.0 de via Wikimedia Commons

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Hartmann Ulrich / 17.06.2017

Wie man liest, gibt es bereits erste Forderungen, Straßen und Plätze nach Helmut Kohl zu benennen (übrigens auch von SPD-Politikern).

Heiner Bargel / 17.06.2017

In Berlin wird so schnell keine Straße nach Helmut Kohl benannt werden, Nicht, daß eine solche Widmung ihm nicht gerecht würde, aber wir müssen hier erst alle Straßen so lange nach Frauen benennen, bis bei den Straßennamen die Hälfte nach Frauen benannt wurde. Das kann dauern.

Herbert Dietl / 17.06.2017

Vielleicht wird man eines Tages Helmut Kohl dafür verfluchen, dass er das Mädchen mit der hässlichen Frisur, das nicht mit Messer und Gabel essen konnte, an seine Seite geholt und protegiert hat. Doch jetzt und heute gilt, de mortuis nil nisi bene.

Dr. rer. nat. Konrad Klein / 17.06.2017

Am gestrigen Todestag von Helmut Kohl trieb mir die halbwegs objektive Berichterstattung der Medien Tränen von Reminiszenz und Nostalgie in die Augen. Diese rückblickend guten Zeiten sind in den schier endlosen Jahren Merkels unsäglicher Kanzlerschaft Makulatur geworden und kehren nie wieder. Danke, Helmut Kohl.

Ralf Schmode / 17.06.2017

Sehr geehrter Herr Matthes, der Tod eines verdienten Staatsmannes ist in der Regel Anlass, die Messlatte seines Schaffens an die Leistungen der aktuell Regierenden anzulegen. Wenn man das in diesem Zusammenhang tut, möchte man schreien und sich in den Arm kneifen, um aus diesem bösen Traum aufzuwachen, der leider bittere Realität ist. Ich stimme in einem Punkt möglicherweise nicht mit Ihnen überein: Es wird Versuche geben, Straßen und Plätze nach Helmut Kohl zu benennen. In den Untergliederungen der Union, in Stadt- und Gemeinderäten, finden sich auch heute noch gestandene Konservative, die nicht akzeptieren werden, dass das Wirken Kohls dem allgemeinen Vergessen anheimgegeben wird. Ich bin gespannt, ob sich die Vertreter der Linksparteien in diesen Gremien dann dazu hinreißen lassen, unappetitliche Debatten zu führen. Ich hoffe insgeheim, Helmut Kohl möge in seinen letzten Jahren noch die Kraft gefunden haben, ein politisches Vermächtnis niederzuschreiben, das sich mit der aktuellen Lage und dem politischen Handeln seiner Nachfolgerin befasst. Vielleicht könnte eine solche Schrift etwas bewirken in diesen Zeiten betonierter Alternativlosigkeit. Werter Herr Matthes, auch ich werde Helmut Kohl vermissen. Nicht nur wegen seiner Persönlichkeit, sondern mehr noch, weil er für eine Zeit stand, in der Parteien, Parlament und Medien noch Subjekte politischer Debatten waren. Diese Zeit scheint vorbei zu sein, und die derzeitige politische Klasse scheint alles daran zu setzen, dass sie nicht wiederkommt.

Matthias Kaufmann / 17.06.2017

Interessante Idee, Herr Matthes, dass die berühmte “geistig-moralische Wende” Helmut Kohls nicht in dessen Sinne, sondern in sozusagen dialektischer Weise gekommen ist. Dann würde ich aber auch so weit gehen zu sagen, die moraltriefende, bessermenschlich-antideutsche politische Korrektheit nicht nur mit den “Bewusstsein-verändern”-Predigten der Grünen, sondern auch mit Kohls Aufruf zur geistig-moralischen Wende zu verbinden, der auf politische Führung und Entschiedenheit GEGEN den Zeitgeist zielte. Und Frau Merkels laisser-faire auf allen Ebenen erscheint als das komplette Gegenteil dieser Führung!

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