Quentin Quencher / 09.02.2019 / 15:30 / Foto: Jake Barreiro / 27 / Seite ausdrucken

Heimlich Verfassung lesen!

In einem netten Örtchen am Rande des Erzgebirges hängte ein mutiger evangelischer Pfarrer zwei Plakate in die Fenster des örtlichen Pfarrhauses. Auf einem stand: „Lest die Bibel!“, auf dem anderen: „Lest die Verfassung!“ Das war 1968, in der DDR hatte die Staatsführung beschlossen, dem Lande eine neue Verfassung zu geben, und darüber sollte eine Volksabstimmung stattfinden. „Pro forma“ natürlich nur, die kommunistische Diktatur war längst etabliert und bis in die Köpfe der Menschen durchgedrungen, was bedeutete, Wahlen waren nur noch symbolisch. Die Menschen stimmten nicht über etwas ab, nein, sie gingen zur Wahl, um nicht aufzufallen, um sich nicht verdächtig zu machen.

Freilich gab es, zusätzlich zu dem Druck zur Anpassung, auch immer Wahlfälschungen. Doch die wären gar nicht nötig gewesen. Selbst die öffentlich gewordenen Fälschungen der Kommunalwahlen am 7. Mai 1989 machten klar, die überwältigende Mehrheit der Bürger machte brav ihr Kreuzchen genau so, wie es von ihnen erwartet wurde. Ich will den Mut und die Begeisterung für die späteren Montagsdemos gar nicht klein reden, doch Tatsache ist, die Mehrheit der Bevölkerung wartete lieber ab, hatte vielleicht Sympathien mit den Protestierenden, war aber dennoch viel zu vorsichtig, um offen dafür einzutreten. Rund neunzig Prozent machten brav weiter mit und beobachteten, was wohl geschehen wird. Mitläufer und Opportunisten hatten schon immer, unter jedem Regime in Deutschland, die absolute Mehrheit.

Dieser Charakterzug des deutschen Volkes war der SED sehr bekannt, sie wussten genau, möglicherweise auch durch ihre teilweise noch lebendigen Erinnerungen an die Auseinandersetzungen in der Weimarer Republik, dass Revolutionen in Deutschland niemals von einer Mehrheit getragen werden. Die Mehrheit folgt also immer dem, von dem sie glauben, dass es die Mehrheit ist. Nur um diese Illusion aufrechtzuerhalten, mussten solche Wahlergebnisse von neunundneunzig Prozent her.

Immer diese Massenkristalle!

Etwa jeder Zehnte, so meine vermutlich großzügige Schätzung, ist gegenüber diesen Mechanismen, die den Mitläufer so ganz und gar befallen, immun. Diese wenigen folgen hauptsächlich ihren Überzeugungen, ihrem Glauben oder ihren Idealen. Auch dann, wenn es für sie im täglichen Leben bedeutet, dass sie Nachteile in Kauf nehmen müssen. Doch genau von diesen, von Elias Canetti als Massenkristalle bezeichnete Menschen, geht für totalitäre Machthaber eine große Gefahr aus. Sie wissen, auch kleine Gruppen, wenn diese nur beständig genug sind und einen unveränderbaren Kern haben, können Massenbewegungen auslösen.

Jede Form des Widerstandes, des Protestes oder der Missbilligungsäußerung, ja, schon das Infragestellen von Vorhaben der Regierung und der Partei, musste daher im Keim erstickt werden, ganz aus der Angst heraus, es könnten sich Massenkristalle bilden, die dann Massenbewegungen auslösen. Natürlich verwenden die Machthaber in totalitären Regimen andere Bezeichnungen dafür. Sie sprechen nicht von Kristallen, der Begriff imaginiert Klarheit, Härte und Struktur, sondern von Keimen, vorzugsweise von gefährlichen Keimen, einem Begriff also, dem etwas Unreines, Infektiöses oder Verderbliches anhaftet. Schon die Wortwahl in der Beschreibung eines Phänomens verrät uns, ob dieses bekämpft oder unterstützt wird. Nur überzeugte Pluralisten versuchen wertneutrale Begriffe zu finden – oder Naturwissenschaftler.

Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum der Pfarrer dieser Gemeinde im Erzgebirgsvorland mutig war, als er seine Plakate in die Fenster des Pfarrhauses hängte, damit rief er nämlich sofort die Stasi auf den Plan. Selbstständiges Nachdenken über einen politischen Vorgang, eventuell noch vergleichende Lektüre zur Hilfe nehmend, das könnte ja zu dissidenten Erkenntnissen führen.

Und so bekam er auch sehr schnell Besuch von ein paar Herren von der Stasi, die ihm unumwunden klar machten, dass er sein Plakat, das mit der Aufforderung, die Verfassung zu lesen, umgehend aus dem Fenster entfernen solle. Gegen „Lest die Bibel“ hatten sie nichts, nur offensichtlich Angst, dass jemand die Verfassung selbst liest. Hier in diesem Fall, es geht ja um die Volksabstimmung über eine neue Verfassung, müsste es zudem noch heißen, dass zwei gelesen werden sollten, die alte von 1949 und die neue. Dies schrieb der Pfarrer zwar so nicht auf sein Plakat, doch ein jeder verstand es so, die Stasi ganz gewiss. Es musste unbedingt verhindert werden, dass sich die Bürger ein eigenes Bild durch das vergleichende Lesen von Texten machen.

Zu diesem Zeitpunkt war die Propaganda zur Annahme der neuen Verfassung ja schon in vollem Gange. Es wäre müßig, hier nun näher darauf einzugehen, wie welche Begründungen vorgebracht wurden, es genügt zu wissen, dass sie einem Befehl glichen, nämlich dem, die neue sozialistische Verfassung anzunehmen. Im Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung heißt es: 

„Das ‚Neue Deutschland‘ druckte täglich die Erklärungen von Kollektiven, Verbänden und einfachen Bürgern aus allen Schichten ab. Einen besonderen Wert legte man auf die Stellungnahmen prominenter Persönlichkeiten aus den verschiedensten Bereichen des öffentlichen Lebens: Sportler, Schauspieler, Künstler, Schriftsteller, Wissenschaftler und Geistliche.

Die Dominanz der Deutung

Bewährt ist bewährt, auch heute werden Sportler, Schauspieler, Künstler, Schriftsteller, Wissenschaftler und Geistliche ausführlich zitiert, nicht nur in den üblichen bunten Blättern, sondern auch in scheinbar ernsthaften Medien. Welche Kompetenz sie jeweils zum Sachverhalt haben, das ist nebensächlich. Das ist denjenigen, die Propaganda betreiben wollen, auch völlig egal, Hauptsache, ein bekanntes Gesicht oder ein bekannter Name kann mit ihrer Sache in Verbindung gebracht werden.

Kommen wir zurück zu unserer Verfassung heute, der ja im Nachkriegswestdeutschland eine herausragende Rolle gegeben wurde. Um dieses Dokument, diesen Vertrag, entstand eine stark ausgebaute argumentative Verteidigungslinie, doch darauf wollte man sich nicht verlassen, deshalb entstanden solche rechtsstaatlichen Institutionen wie der Verfassungsschutz und das Verfassungsgericht.

Doch heute geschieht etwas, was auch zur Verfassungsänderung in der DDR 1968 zu beobachten war. Es dominierten die Deutungen, nicht das Wort und der Geist des Textes. Die Indoktrination funktionierte damals schon recht gut, die alte durchaus liberale Verfassung wurde als gestrig und nicht mehr zeitgemäß dargestellt. Nur die allerwenigsten Menschen machten sich die Mühe, die Texte zu vergleichen, sie glaubten entweder der offiziellen Deutung oder resignierten, weil doch die Lebenswirklichkeit im Sozialismus ihnen sowieso keine echte Wahl ließ.

Nicht Abgrenzung, sondern Ausgrenzung

Sich nicht auf die Propaganda zu verlassen, die Texte selbst zu lesen, zu vergleichen, um sich dann eine eigene Meinung zu bilden, das war der Aufruf des Pfarrers in Sachsen damals, und genau das möchte ich heute den Medienkonsumenten auch ans Herz legen. Vergesst die Deutungen, die Interpretationen von wem auch immer, vergleicht die Texte selbst, die Verfassung ist kein so komplizierter Rechtstext, den nur Spezialisten verstehen.

Zu beobachten ist nämlich, dass die Institutionen, die zum Schutz der Verfassung geschaffen wurden, das Verfassungsgericht und insbesondere der Verfassungsschutz, immer mehr zu Instrumenten der Propaganda gegen politische Gegner der Machthabenden gemacht werden. Hier und heute und von einer politischen Elite, quer durch fast alle Parteien, die zudem noch tatkräftig von den Medien unterstützt werden. Es tritt nun leider das ein, was der Staatsrechtslehrer Erhard Denninger in dem von ihm herausgegebenen Band „Freiheitliche demokratische Grundordnung – Materialien zum Staatsverständnis und zur Verfassungswirklichkeit in der Bundesrepublik“ bemerkte: 

„Auch künftig wird nicht etwa die fdGO-Formel die Praxis steuern, sondern umgekehrt werden die aktuellen Bedürfnisse der politischen Ausgrenzungspraxis den Inhalt der juristischen Formel füllen.“ (Bd.1, S.70)

Genau darum geht es nämlich heute, speziell bei den Vorwürfen an die AfD und dem Versuch, den Verfassungsschutz gegen diese Partei in Stellung zu bringen: um politische Ausgrenzung. Nicht Abgrenzung, wohlgemerkt. So möchte ich diesen kleinen Ausflug in die Geschichte der DDR und ihrer Verfassungen damit schließen, den Aufruf des Pfarrers aus Sachsen, der übrigens ein gebürtiger Ungar war, ein klein wenig abzuwandeln. Sinnbildlich hänge ich in das eine Fenster ein Plakat mit der Aufforderung: „Lest die Verfassung!“ und ins andere: „Lest die Parteiprogramme!“

Dann werdet ihr erkennen, wer in unserem Lande wirklich auf dem Boden der Verfassung der Bundesrepublik Deutschland steht und wer nicht. Ich will nicht versuchen, vorauszuahnen, zu welchem Schluss der Leser dabei kommt. Wichtig ist nur, dass er sich selbst ein Bild macht und nicht einfach der Propaganda glaubt. Das vergleichende Lesen von Texten ist dabei sehr hilfreich. Der Pfarrer wusste das, die Stasi allerdings auch.

Zuerst erschienen auf Quentin Quenchers Blog Glitzerwasser.

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Leserpost

netiquette:

Thorsten Helbing / 09.02.2019

Wir werden untergehen! Nicht, weil 10% keine nennenswerte Anzahl wäre; gegen den 90%-igen Irsinn anzuschreiben schaffen keine 10%. Denn diese 10% sind heute diejenigen 10%, welche Wertschöpfend einer Tätigkeit nachgehen und unmöglich 90% des bis nach dem Feierabend angesammelten Irrsinns widerlegen können. Geht einfach nicht. Naja, wie sagt man so schön: Für Nachwuchs gesorgt, einen Baum gepflanzt und ein Haus gebaut? Was fehlt? Das Leben im Sozialismus. Ist ja vielleicht auch etwas was der Mensch so im Lauf seines kurzen Lebens “erfahren” sollte. Sonst kann er schliesslich gar nicht mitreden irgendwann da oben oder in den Weiten der Unendlichkeit. Wer weiss das schon.

Wolfgang Richter / 09.02.2019

@ Frank Mertes— Zustimmung. Immer wieder erstaunlich, wie Menschen sich dem Wissen verweigern, Geschichgte ignorieren, Nichtwissen durch eine auf Selbsthypnose basierende Ideologie ersetzen, diese in den Rang einer Religion erheben. Und wie viele sich weigern, diesen Unsinn anzuerkennen, weil “Religion” und “Glaube” nicht verhandelbar seien. Und das sind die selben Leute, die z. B. nach “Auschwitz” gehen, aber sich der Erkenntnis verweigern, daß sie die Basis des selben Denkens verinnerlicht haben.

Michael Lorenz / 09.02.2019

“Rund neunzig Prozent machten brav weiter mit ...” - ist ja wie bei uns heute. Da folgen 87% der FDJ-Sekretärin in ihr ausgerufenes fedidwgugl-Paradies!

Volker Kleinophorst / 09.02.2019

Wir haben keine Verfassung. Darum wurden wir ja ganz bewusst bei der “Wiedervereinigung” betrogen, obwohl es so im Grundgesetz stand und uns im Westen permanent vorgebetet wurde. Eine Verfassung gibt sich eine Nation, seine Bürger selbst. Hätte man nun den Allierten-Homunkuls “Die ganze Welt beneidet uns um unser Grundgesetz” zur Verfassung machen wollen, hätte man zumindest darüber abstimmen müssen. Nicht einmal das ist geschehen. Denn sicher ist sicher. Nicht das der Bürger denkt, er hätte was zu melden. Grund: Eine Verfassung kann man auch nur mit den Bürgern ändern, ein Grundgesetz taugt doch das Papier nicht, auf dem es geschrieben steht, wie die unzähligen Änderungen der Regierung Merkel zeigen. Ich verstehe nicht, was daran so schwer zu kapieren ist.

Wolfgang Kaufmann / 09.02.2019

Im Grundgesetz mag stehen was will. Für den Deutschen sind spießbürgerliche Tugenden wichtiger, edel sei der Mensch, hilfreich und gut; sehr beliebt sind auch weibliche Vorbilder, tolerant, lieb, verständnisvoll; und bitte mehr auf die Wellness achten als auf die Effizienz. Das „freundliche Gesicht“ wird gewählt, die grüne Schnatteria ebenfalls; Kassandrarufe hingegen stören das Karma. Die heimliche Verfassung verlangt, dass wir pfleglich miteinander untergehen.

Immo Sennewald / 09.02.2019

Dieser gescheite Artikel wird jedem, der DDR erlebt - erlitten - hat und an den Konflikten mit SED, Stasi, Politbürokraten jeder Art nebst medialer Gefolgschaft gewachsen ist, aus dem Herzen sprechen. Danke an Quentin Quencher. Mich freut insbesondere der Hinweis auf Elias Canetti, dessen großartiges Buch “Masse und Macht” jede Aufmerksamkeit verdient. 50 Jahre sind schnell vorbei, leider wird ebenso schnell vergessen. Und im Westen, wo ohnehin nur wenige das Geschehen in der DDR interessiert verfolgten, hatte sich kurze Zeit nach der deutschen Vereinigung in Wohlgefallen aufgelöst, was an gemeinsamen Defiziten zu reflektieren gewesen wäre: Die Tradition des Mitlaufens bzw. Mitmarschierens zum Beispiel. Dass die “Kulturschaffenden” heute wieder willig Worthülsen im Dienste der Regierenden drehen wie 1968 und 1976 nach der Ausweisung Biermanns, ist schon eine bittere Pille für alle, die beim Fall der Mauer auf Lernprozesse im ganzen Deutschland hofften.

Hilmar Türkowsky / 09.02.2019

Kluger Text. Die Eigenschaft des Mitläufers ist aber kein Alleinstellungsmerkmal der Deutschen. Es hat noch nirgends eine Mehrheit eine Revolution gestartet. Castro fing mit 11 Mann an, beim Easter Rising in Dublin 1916 waren die meisten Iren im Pub, etc.

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