Weshalb ich frage? Na, weil am 9. Januar 2014 auf ZEIT ONLINE der Artikel „Tatort”-Inflation bedient Krimiwahn von Ulrich Greiner erschien. Da muss jetzt dringend gegengesteuert werden! Denn es ist ja gut möglich, dass Sie den Artikel auch gelesen haben – und falls Sie (noch) kein „Tatort”-Gucker sind, nehmen Sie ihn vielleicht ernst. Das fände ich schade.
Denn der Tatort, ich erwähnte es kürzlich auf der Achse, bietet dem soziologisch Interessierten mindestens schon mal die Möglichkeit für „knallharte Privatstudien zum Vordringen des rot-rot-grünen Top-Down-Gutmenschentum-Verordnungswesens (schwarz gibt’s ja nicht mehr) bis in die letzte Ritze der Gesellschaft”. Und das ist längst nicht alles. Herr Greiner hingegen findet am Tatort ungefähr so viel Geschmack wie ein Philosophieprofessor an „Hello Kitty”-Kleinmädchenprodukten.
Dröge wälzt sich sein Klagelied eines Ahnungslosen durch den Artikel: Immer mehr Tatorte trotz immer weniger realer Mordopfer; immer mehr Städte mit Tatort-Kommissaren, sogar völlig harmlose wie Wiesbaden; das Ganze nur deshalb, weil’s die Leute sehen wollen (Diktat der Einschaltquote – total primitiv!); „allgemeiner Krimiwahn” und so weiter. Er wisse ja, schreibt er, dass es „in diesem Land nicht wenige widerwärtige oder unglückliche Menschen gibt, die aus Not oder Gier andere Menschen umbringen”, doch sehe er keinen Grund, sich „die Tristesse dieser Tatsache durch naturalistische Fernsehfilme bestätigen zu lassen.” Und überhaupt sei er an Krimis nicht interessiert.
Jedem das Seine. Nur ist Greiners Tunnelblick dermaßen grottensimplifizierend, dass man das unmöglich so stehen lassen kann. Sich die Tristesse von Mord und Totschlag vom Tatort „bestätigen zu lassen” – das soll der Zweck der Übung sein? Dass ich nicht lache. Und dann dies: Angesichts der Tatort-Inflation „... fragte ich mich, ob dieses doch alles in allem sichere Land keine anderen Wünsche hat, als Gemeinheit und Niedertracht am Werk zu sehen.” Ha – da ist es raus: Der Bürger ist undankbar. Er genießt Sicherheit, und trotzdem fällt ihm nichts Besseres ein, als sich an Unsicherheit, Gefahr und Gewalt zu berauschen.
Aber warum nur? Greiners Frage ist ja bloß Rhetorik, heißt: er will gar nicht wissen, warum, sondern will sich vornehm distanzieren. Das ist edel, führt aber nicht weiter. Um der Sache auf die Spur zu kommen, muss man schon eine gewisse Mindestintelligenz mobilisieren. (Ich sagte „mobilisieren”, nicht „haben”! Letzteres natürlich sowieso, wie bei Greiner gewiss der Fall!) Man könnte beginnen mit der Frage: Was hat es wohl damit auf sich, dass das Verhältnis zwischen Real- und Tatortleichen dazu tendiert, umgekehrt proportional zu sein? Könnte es vielleicht sein, dass der Tatort immer mehr Leute davon überzeugt: Mensch, es ist ja viel besser, anderen beim Schädeleinschlagen zuzuschauen, als es selbst zu tun?
Diese Frage könnte aufkommen, wenn man, sagen wir: hundert Intelligenzpunkte von seinen 125 oder mehr mobilisiert. Greiner hat das anscheinend getan, aber er hat was anderes damit angestellt, so dass es bei ihm lediglich für die Erkenntnis reicht: „Er [der ‚Krimisender ARD’] tut ja auch – mithilfe der Zwangsgebühr – etwas durchaus Gutes: Er demonstriert, dass das Böse auf Dauer keine Chance hat, jedenfalls nicht in der ARD.” Das bleibt hinter den Implikationen jener Frage klar zurück. Es fokussiert auf den Aspekt „Güte und Moral”, vielleicht noch auf „Sicherheit”, aber das war’s dann. Hingegen hat jene Frage psychologisches Erklärungspotential, indem sie die Möglichkeit von Projektion einschließt: Der Tatortgucker könnte ja seine eigenen Boshaftigkeiten, die er bekanntlich weniger denn je ausleben darf, auf die Tatorttäter projizieren, und diese würden sie stellvertretend für ihn ausleben. Und da „Tatort-Inflation” herrscht, gibt es immer mehr solcher Stellvertreter – was die umgekehrt proportionale Leichenquote ganz passabel erklären könnte.
Dies nur eine der spannenden Überlegungen, von welchen sich Ulrich Greiner vornehm ausschließt. Und investiert man ein paar IQ-Punkte mehr, dann wird’s noch viel spannender. Dann kann man in Regionen vorstoßen, die von der chronisch unterrezipierten Schriftstellerin und Denkerin Esther Vilar erschlossen worden sind (genau: der antifeministischen Alice Schwarzer-TV-Sparringspartnerin von 1975. Sie haben das Gemetzel nicht gesehen? (Hier ist es – sofort anschauen!!). In Vilars 1998 erschienenem Essayband „Denkverbote. Tabus an der Jahrtausendwende” heißt ein Kapitel, wohlgemerkt das erste: „Brauchen wir die Verbrecher?” – und die Antwort der Autorin ist ein dröhnendes „Aber hallo!”, das vieles, wenn nicht alles andere übertönt.
Vilar gelingt nämlich nicht weniger als der Nachweis, dass ohne die Verbrecher unser gesamtes Gemeinwesen binnen kürzester Zeit kollabieren müsste. Hier einige ihrer Argumente im Schnellüberblick:
– Arbeitsplatzsicherung: Die Arbeitsplätze von Polizei bis Versicherungswesen, von Justiz bis Gerichts- und Reha-Medizin, von Sicherheitsanlagenbau bis Medien inkl. Unterhaltungsindustrie u.v.a. hängen in eminenter Weise vom Verbrecher ab.
– Spannung und Aufregung: Der Verbrecher sorgt wie niemand sonst für die kräftigen Adrenalinschübe, die der Alltag nicht hergibt, die aber gerade für den zivilisatorisch heruntergeregelten Menschen absolut unverzichtbar sind.
– Unterhaltungsfaktor: Der Verbrecher egal welcher Couleur, also inkl. Politikern, Finanzhaien, Economy-Heuschrecken usw., liefert die mit Abstand wichtigste und meistkonsumierte Unterhaltung. Auch die Nachrichten handeln im Grunde von nichts anderem.
– Neuheit/Kreativität: Der Verbrecher versorgt die Gesellschaft unablässig mit Neuem. Zum Beispiel auch mit den neuesten Tricks, die dann von anderen kopiert werden und von Drehbuchschreibern etc. variiert werden.
Verehrter Leser, das muss als absolut überzeugend, da vernichtend realistisch eingestuft werden. Ergibt im Umkehrschluss: Wer das nicht einsieht, ist doof, bzw. vernagelt. Oder ein Träumer, was aber auf dasselbe hinausläuft. Der Verbrecher ist der Kitt, der den ganzen Laden zusammenhält, und der damit dem Bürger ermöglicht, Gutmenschentum zu zeigen, ohne augenblicklich zu explodieren vor angestauter Wut. Diese Wut nämlich kann der Bürger gerade mal eben notdürftig in Zaum halten, weil – und NUR weil – es den Verbrecher gibt. Vilar wörtlich: „Worüber spricht man an der Theke? Spricht man über liebe, gute, barmherzige Menschen? Handeln die Bücher und Filme von Nettigkeit und Normalität? Nein, sie handeln von Dingen, die unterhaltend und aufregend sind, die (...) jenseits des Gewohnten liegen. Die Filme, Stücke, Romane, Reportagen, Gespräche, die uns am meisten interessieren, handeln von Korruption, Erpressung, Fälschung, Betrug, Vergewaltigung, Mord ...”.
Exactly. Sich über „liebe, gute, barmherzige Menschen” unterhalten? Pah – keine fünf Minuten lang. Völlig uninteressant. Das gilt laut Vilar auch für Frauen; ich zitiere direkt weiter: „Wir Frauen lieben es zwar in der Regel etwas sanfter, doch ohne spannende Handlung war es kein richtiger Film.” Und die Autorin fügt dem etwas Wesentliches hinzu: “Spannung kann jedoch nur durch die Bedrohung durch das Böse entstehen – ohne dieses wäre das Gute ja nicht einmal zu erkennen.”
Dieser letzte Satz verweist eindringlich auf eine Tatsache, die in Gutmenschenhausen nicht mehr jeder auf dem Schirm hat: Das Leben spielt sich unvermeidlich zwischen verschiedenen Polen ab (in der Regel sind es zwei), und wer bloß den einen davon gelten lässt, der vergisst, dass er ihn überhaupt nur wegen der Existenz des anderen sehen kann. Ganz abgesehen davon, dass jener eine Pol seine besonderen Qualitäten DURCH die des anderen erhält. Kein Licht ohne Schatten, kein Gut ohne Böse, und so weiter. Alles erschütternd selbstverständlich, sollte man meinen – nur eben nicht in Gutmenschenhausen. Und daher braucht’s gerade dort den Verbrecher, so wie in der Steckdose den Minuspol. Sonst ist nämlich der Saft weg.
Was aber, wenn sich das Verbrechen NUR NOCH in Filmen, Büchern usw. abspielen würde? Wäre das nicht völlig ausreichend – so dass dann der reale Mensch ABSOLUT GUT sein könnte? Selbstverständlich hat sich Esther Vilar auch diese Frage vorgelegt, denn ihr Denken macht vor nichts halt („Wer nicht weiterdenkt, denkt überhaupt nicht”, bemerkte einst Arthur Schnitzler). Sie schreibt: „Doch würden uns diese erfundenen Thriller, Mordgeschichten, Tragödien und Komödien auch nur im geringsten interessieren, wenn sie keinen Bezug zur Wirklichkeit hätten – wenn wir niemals, unter gar keinen Umständen, selbst zum Opfer eines Verbrechens werden könnten? Würden wir auf dem nun absolut ungefährlichen Nachhauseweg vom Kino mit unserem Partner auch nur eine Minute lang darüber diskutieren, wie plausibel das eben mit so viel Spannung auf der Leinwand betrachtete Verbrechen war? Wer hier nur einigermaßen ehrlich ist, muss die Frage verneinen.”
So ehrlich bin ich allemal, und ich füge hinzu: Wenn NUR NOCH in Filmen, Büchern ... siehe oben, dann würde ja Ulrich Greiners relativ leichtes Unbehagen am Tatort in einen Albtraum ausarten. Dann würde ihm zwar der Tatort nichts mehr „bestätigen”, da in der Realität nicht mehr vorhanden, aber vornehm oder gar edel wäre sein Inhalt dann erst recht nicht.
Noch einige Zitate aus Vilars Untersuchung: „Ohne sie, die Bösen, wäre unsere Film- und Fernsehindustrie also praktisch überflüssig. Denn wenn alle gut wären, gäbe es selbstverständlich auch die kleinen Verbrechen des Alltags nicht mehr, die vor allem uns Frauen interessieren.” Und: „Mit anderen Worten: Die Kreativität unserer kleinen und großen Ganoven und Ganovinnen macht die unserer kleinen und großen Künstler und Künstlerinnen erst möglich (...), und da es ohne Kunstwerk keine Kunstkritik geben kann, wäre damit zugleich auch der Kritiker aus dem Amt.” Aber: „Und trotzdem ist die Tatsache, dass unser Leben ohne Verbrechen und Verbrecher zwar ruhiger, aber auch unendlich viel langweiliger wäre – wahrscheinlich sogar unerträglich –, etwas, über das die meisten von uns sich nicht nachzudenken erlauben. Sie ist EIN TABU.”
So ist es. Herr Greiner und Gesinnungsgenossen mögen besonders die Formulierung beachten: „SICH nicht nachzudenken erlauben”, und sie mögen prüfen, ob das nicht auch für sie gilt. Wäre gar nicht mehr schwierig, eine solche Selbstprüfung, nachdem Esther Vilar den ganzen Standardmüll so gründlich aufgemischt hat, dass die komplexe Realität durchzuscheinen beginnt. Gut, was heißt „Realität” – aber unbezweifelbar scheint mir, dass Vilars Argumentation alle Wahrscheinlichkeit auf ihrer Seite hat. Das liegt meiner Meinung nach daran, dass sie eine genügende Anzahl von Variablen ins Auge fasst, um überhaupt etwas Substantielles aussagen zu KÖNNEN. Während man das Gegenteil davon, siehe z.B. bei Greiner, als REDUKTIONISMUS bezeichnen darf – sicher nicht zufällig eine meiner meistgestellten Diagnosen der letzten Jahre. (Anderes Beispiel hierfür: „Anzahl von Frauen in Vorstandspositionen.” Zieht man andere Variablen hinzu, womöglich sogar alle, dann sieht man, dass die schiere Anzahl nichts aussagt; jedoch verleitet das schale Gefühl, das solche Gehaltlosigkeit erzeugt, dazu, nur noch intensiver und ausschließlicher auf diese Zahl zu starren. Als könnte mit EINER Variablen etwas erklärt werden, das über das Abkochen von Eiern hinausgeht. Reduktionismus eben.)
Vilar macht dann noch einen Ausflug ins Paradies. Sie überlegt, wie die dort endlos sich ausdehnenden Zeitwüsten auszuhalten wären, wenn nirgendwo etwas anderes in Sicht ist als reine Güte (ist im Paradies bekanntlich der Fall); sie kommt zu dem Schluss, dass ohne irdische Vergangenheit – inklusive Bösem natürlich! – nichts zu erzählen bliebe, was das ewige Leben auch nur erträglich machen könnte. Und sie geht noch weiter in ihren Überlegungen, aber ich müsste ihren Essay komplett zitieren, um ... na, einer geht noch: „Extrem zynisch ausgedrückt sind wir, die Mehrheit, fast täglich auf irgendeine Weise Nutznießer der kriminellen Handlungen einer verbrecherischen Minderheit. Büßt doch jeder zweite Schwerverbrecher mit Haftstrafen, die zuweilen lebenslänglich sind, während wir anderen, die wir uns unsere Freizeit mit den Geschichten ihrer Greuel vertreiben – in der tabuisierten Erwartung, dass sich wieder eine neue Variante und damit ein neuer Nervenkitzel findet –, in der Regel ungeschoren bleiben.” Das spricht so sehr für sich, dass ich mich eines Kommentars enthalten kann.
Eigentlich wollte ich an dieser Stelle die bisherigen Tatort-Muffel in die ganz konkrete Tatort-Welt einführen, wollte einige Kommissars-Pärchen und ihre Marotten vorstellen und Appetit machen auf die deutsche Crime-Manufaktur schlechthin; das Ganze nebst Anregungen, wie man dem Tatort in vielerlei Hinsicht ein Maximum abgewinnen kann (ich selbst musste jahrelang trainieren, um die entsprechenden Beobachtungs- und Vergleichskriterien zu erarbeiten). Aber gottlob hat mir der ZEIT-Artikel von Ulrich Greiner gezeigt, dass ich damit den zweiten Schritt vor dem ersten getan hätte – welcher da lautet: theoretische Grundlagenarbeit. Und den zweiten kann ich ja immer noch tun. Mein besonderer Dank gilt natürlich Esther Vilar, denn so gut wie sie (oder gar besser) hätte ich’s bestimmt nicht hinbekommen. Chapeau!
PS: Ein Tipp sei dennoch schon jetzt gegeben. Ich habe nicht mal einen Fernseher und bin daher gezwungen, den Tatort woanders zu gucken – heißt: immer in Gesellschaft. Das ist das Wichtigste überhaupt! Sofortiges Durchdebattieren mit aufgeschlossenen, geistreichen Co-Soziologen ist beim Tatort ideal! Bringt auf die besten Gedanken!
Till Schneider, geboren 1960, ist Pianist und Autor. Er studierte Musik, Journalistik und Psychologie.
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