Die Forderung nach Abschaffung der Hausaufgaben ist ein alljährlich wiederkehrendes Ritual, das an Öde kaum zu überbieten ist.
Den diesjährigen Reigen zur Abschaffung der Hausaufgaben eröffnete Andreas Niklaus, Rektor der Kantonsschule Zürich Nord – mit 2.200 Schülerinnen und Schülern eines der größten Schweizer Gymnasien. Er mache sich Sorgen, der Stoffdruck, die Erwartungen der Eltern, der Lehrer, ja auch die der Jugendlichen erzeuge Stress. Er fordere deshalb, die Hausaufgaben abzuschaffen. In Deutschland doppelte die Linke-Vorsitzende Janine Wissler nach und verlangte fast zeitgleich die Abschaffung der Hausaufgaben. Sie argumentiert vor allem mit der fehlenden Chancengleichheit und der Tatsache, dass viele Eltern aus bildungsfernen Schichten mit den Hausaufgaben überfordert seien. Und prompt ist damit eine Diskussion lanciert, die auch die Gegner auf den Plan ruft. Dort sieht man eine Leistungskultur am Zerfallen und warnt vor der immer weiter sinkenden Bildungsqualität.
Erstaunlich an der ganzen Debatte ist, dass sich niemand fragt, was denn eigentlich Hausaufgaben sind.
Hierzu eine kleine Übersicht: 80 Prozent der Hausaufgaben sind Übungsaufgaben. In der Kette eines Lernprozesses ist das Glied des Übens ein entscheidendes Kettenglied. Findet das Üben nicht oder unter ungünstigen Bedingungen statt, dann ist der Lernerfolg gefährdet. Und weil die Lernverhältnisse in den Elternhäusern sehr verschieden sind, ist die Wirkung von Hausaufgaben diesbezüglich problematisch. Das haben wir aber an den Schulen längst erkannt. Deshalb gibt es in vielen Schulen sogenannte SOL-Lektionen, (SOL = Selbstorganisiertes Lernen), ILF (individuelle Lernförderung) oder betreute Mittagstische, in welchen die Schüler im Beisein einer Lehrkraft u.a. genau solche Übungsaufgaben lösen können. Die Lehrkräfte an unserer Schule müssen zwei solche Lektionen übernehmen, werden aber nur für eine bezahlt, weil dieser „Hütedienst“ keine Vor- und Nachbereitung abverlangt.
Was sind eigentlich Hausaufgaben?
Neben den Übungsaufgaben gibt es die sogenannten Lernaufträge. Der Französischlehrer kündigt einen Test an, in welchem die Passé composé-Formen abgefragt werden. Hier helfen die neuen Medien mit einfachen Apps, welche die Schüler auf ihrem Handy abrufen können (Quizlet). Aber auch Physikproben oder Geschichtsteste wollen gelernt sein. Interessant ist, dass genau diese Art Hausaufgaben in den Reglementen wohlweislich von allen Regulierungen ausgenommen sind. Der Grund liegt auf der Hand. Die Grundkompetenzen im Fach Mathematik verlangen die Beherrschung der vier Grundoperationen im Bruchrechnen. Nicht alle Schüler schaffen dies ohne Weiteres. Einige müssen mehr lernen als ihre Kameraden, welche die Regeln schneller erfassen. Eine der vielen Kränkungen, die uns das Leben beschert. Ich musste im Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Gymnasium stundenlang den Kosinussatz lernen, bis ich ihn begriff. Mein Freund und Mathegenie David hatte dies jeweils in Sekundenschnelle im Griff. Nicht selten kommen Schüler zu mir und bitten um sogenannte Zusatzaufgaben, mit denen sie für den bevorstehenden Test lernen können. Auch hier stehen uns gute Übungsaufgaben sowohl in Digitalform oder auf Papier zur Verfügung.
Und schließlich gibt es noch die Projektaufträge, wie zum Beispiel die Präsentation eines Buches, das Porträt eines Landes, die Planung und Durchführung eines Chemieexperiments. Sie sind bei den Schülerinnen durchaus beliebt, weil sie stark auf das Erkunden ausgerichtet sind. Ich wage zu behaupten, dass diese Art „Hausaufgaben“ durchaus zu einer Bereicherung der Freizeitgestaltung führen kann.
Es gibt auch blödsinnige Hausaufgaben
Als Lehrer mit 44-jähriger Unterrichtspraxis weiß ich natürlich, dass es auch blödsinnige Aufgaben gibt. Es ist belegt, dass leider immer noch die meisten Hausaufgaben in den letzten paar Minuten einer Lektion erteilt werden, also schlecht in den Unterricht integriert sind. Es handelt sich dabei oft um „Fertigstellungsaufgaben“. Und eine Tatsache ist auch, dass die Ergebnisse der Hausaufgaben in der Regel eher unzulänglich im Unterricht behandelt werden. Hausaufgaben als Strafe soll es immer noch geben.
Aber sind diese Mängel ein Grund, Hausaufgaben abzuschaffen? Sicher nicht! Und sind Hausaufgaben mit der Chancengleichheit unvereinbar? Das ist ein ausgemachter Blödsinn. Gerade die Hausaufgaben erlauben es den weniger talentierten Schülern, die Grundkompetenzen in einem Fach zu erfüllen und die Ziele mit Fleiß zu erreichen.
Es gab und gibt immer wieder Versuche, die Hausaufgaben zu regulieren. So wollte man der drohenden Überforderung der Schüler beispielsweise mit einem Zeitrahmen beikommen. Maximal 2 Stunden an der Primarschule, maximal 3 Stunden an der Oberstufe. Und manchmal fragen auch Eltern während eines Elterngesprächs, ob ihr Kind nicht zu viele Hausaufgaben hätte. Grundsätzlich aber wollen über 75 Prozent der Eltern, dass ihre Kinder Hausaufgaben erhalten, wie eine Umfrage des Nachrichtenmagazins FOCUS ergab.
In meiner Praxis setze ich Hausaufgaben maßvoll ein, will heißen, die Schüler müssen auch ihre Freizeit haben. Vor allem aber kontrolliere ich die Hausaufgaben und evaluiere sie, indem ich meine Schüler frage, wie sie diese Aufgaben gelöst haben, wo sie Probleme hatten. Nicht gemachte Hausaufgaben werden nicht sanktioniert, sind aber Teil des Elterngesprächs.
Eltern nicht als Hausaufgabenhilfe missbrauchen
Ich achte darauf, dass die Hausaufgaben von den Lernenden selbstständig erledigt werden können. Eltern sollen die Hausaufgaben kontrollieren, aber nicht als Hausaufgabenhilfe missbraucht werden. Das sage ich den Eltern jeweils immer zu Beginn eines Zyklus. Hausaufgaben sollten sinnvoll, das heißt, sie sollten in den Unterricht eingebettet sein. Projektaufträge sollen attraktiv gestaltet werden.
Was den Stress betrifft, den Hausaufgaben auslösen sollen, so darf ich feststellen: Die Schule ist eher die Institution, welche versucht, die Erwartungen der Eltern – und die sind das eigentliche Problem – in realistische Bahnen zu lenken. Wir wollen glückliche Schüler. Aber es muss möglich sein, dass auch weniger talentierte Schüler mit Fleiß und Einsatz ihre Ziele erreichen können. Viele tun dies von sich aus, einige leider auch unter dem permanenten Erwartungsdruck der Eltern. Brisantes Detail: Letzte Woche hat der Schülerrat an unserer Schule eine Eingabe gemacht: Man solle die Anzahl der SOL-Lektionen von drei auf zwei senken. Grund: Vielen Schülern sei es während den SOL-Lektionen zu laut, einige von ihnen lernten grundsätzlich lieber zu Hause als in der Schule.
Wir Lehrkräfte halten uns an die im Lehrplan formulierten Grundkompetenzen. Sie sollten von allen Lernenden erreicht werden. Wenn eine immer größer werdende Zahl unserer Schüler diese Grundkompetenzen nicht erreicht, liegt es weder an den zu vielen noch an den zu wenigen Hausaufgaben.
Gebot der Stunde wäre ein markanter Lektionenabbau
Die völlige Überfrachtung der Lehrpläne, das „Immer mehr“, gekoppelt an die vielen überfachlichen Kompetenzen, haben aus der Schule ein Gemischtwarenhandel gemacht, der kaum mehr Prioritäten kennt. Profunde Lernziele sind durch einen beliebigen Kompetenzquark ersetzt worden. Das hat zur Folge, dass die Schule Ziele zu erreichen versucht, die außerhalb der Möglichkeit von Unterricht liegen. Die Konsequenz ist, dass vieles gemacht und abgehakt, aber kaum mehr gründlich durchgenommen wird. Die Schüler gehen so viel in die Schule, wie noch nie, es herrscht eine beispiellose Hektik. Die Lösung wäre hier ein „Back to the roots“ oder, wie es die Amerikaner ausdrücken, ein „Reduce to the Max“. Das Gebot der Stunde wäre ein markanter Lektionenabbau, aber sicher nicht die Abschaffung der Hausaufgaben. Gerade mit diesen Hausaufgaben wird auch die Autonomie und Mündigkeit der Lernenden unterstützt. Die Hausaufgaben bilden – wirksam eingesetzt – eine wertvolle Ergänzung zum Unterricht. Und sie erfüllen darüber hinaus die von der Bildungsnomenklatura immer wieder betonte Prämisse: Individualisierung.
Und denjenigen, die sich durch die Abschaffung der Hausaufgaben eine markante Vergrößerung der Chancengerechtigkeit erhoffen, kann man nur zurufen: „Na, dann versucht es mal!“
Meine Tochter hat ganze Mittwochnachmittage an Schulaufträgen gearbeitet, mit Hingabe und sehr oft mit Freude. Als sie eines Abends um 22.00 Uhr immer noch am Plakat für ihren Vortrag malte, forderte ich sie auf, ins Bett zu gehen. Sie tat es, stellt den Wecker und stand um 05.00 Uhr auf der Matte. Das Plakat wurde fertig. Der Vortrag war scheinbar brillant. Meine Tochter war mächtig stolz. Eine Gesellschaft, die will, dass nichts großartig ist, weil, wo was groß ist, es rundherum klein aussieht, beschneidet in erster Linie die Gestaltungskraft der Kinder.
Eine Allianz aus Politik, Verwaltung und Wissenschaft hat sich der Steuerzentralen unsere Bildung bemächtigt. Die Folgen sind bedrückend. Praxisferne Reformen, immense Bürokratisierung, eine Ideologisierung und die Umkehr aller Werte sind die Folge. Abschaffung von Hausaufgaben, Abschaffung von Noten, Abschaffung von Gliederungen der Schulstufen, Abschaffung vom Leistungsgedanken schaden vor allem den Kindern der unterprivilegierten Schichten. In einer fünfteiligen Serie analysiert der Bieler Lehrer Alain Pichard, wohin uns diese Politik geführt hat und welche dramatischen Folgen sie für die Zukunft unserer Gesellschaft haben wird. Vor allem aber kritisiert er die völlige Realitätsferne und die mangelnden Kenntnisse im bildungsbürokratischen Überbau.
Für unsere Rubrik „Achgut zum Hören“ wurde dieser Text professionell eingelesen. Lassen Sie sich den Artikel hier vorlesen.
Alain Pichard ist Grünliberaler Großrat im Kanton Bern und Mitbegründer des Bildungsblogs condorcet.ch. Trotz seiner Pensionierung ist er immer noch Lehrer an einer Brennpunktschule in Biel.