Das Plastiktütenverbot ist unlogisch, inkonsequent, ökologisch fragwürdig und ignoriert die mannigfaltige Verwendbarkeit. Zeit, eine Lanze für den Kunststoffbeutel zu brechen.
Überall gab es sie: an den Kassen der Supermärkte, Kaufhäuser und Einzelhandelsgeschäfte, oft wurden sie einem mit sanfter Gewalt aufgedrängt. „Darfs ein kleines Tütchen sein?“, säuselte die Kassiererin. Wer konnte da schon nein sagen? Doch mit der Plastiktütenherrlichkeit ist es vorbei, seit zum ersten Januar 2022 die Beutel verboten wurden und aus dem Kassenbereich der Geschäfte verschwunden sind. Mittlerweile geht der sorgsam über Jahre aufgebaute Vorrat zu Ende und der Tag ist nicht mehr fern, dass die letzte Plastiktüte aus privatem Fundus, schmutzig und durchlöchert, im Müll landen wird.
Dabei sind die „Tütchen“ doch so praktisch, was der Grund dafür war, dass sie nach dem Krieg so populär wurden. Der Kaufhauskonzern Horten brachte 1961 die erste Plastiktüte modernen Typs heraus, bedruckt mit blauen Dreiecken, die ein abstrahiertes H (für Horten) darstellen sollten. Drei Jahre später kam hierzulande die erste vollautomatische Produktionsstraße zur Herstellung von Polyäthylen-Tragetaschen auf den Markt.
Die Plastiktüte avancierte sogar zum Kunst- und Kultobjekt. Bekannte Designer schufen Entwürfe, die heute als Sammlerobjekte gefragt sind. Joseph Beuys druckte 1971 auf eine Plastiktüte seine bis heute aktuellen Vorstellungen zur „Überwindung der Parteiendiktatur“. Bei Kunsthändlern im Internet kann man sie noch finden: „Beidseitig bedruckte Tragetasche aus Polyäthylen (ohne Einlage), Format: 75 x 51,5 cm, Auflage 10.000 Exemplare, mit rotem/schwarzem Filzstift signiert“, heißt es da. „Preis auf Anfrage“.
Fragwürdiger ökologischer Nutzen
Immer waren die kostengünstigen, langlebigen und strapazierfähigen Beutel auch attraktive Werbeflächen, ein Traum für jede Marketingabteilung – schließlich wurden die jeweiligen Werbebotschaften in der Hand von Millionen Tütenträgern kostenlos an allen möglichen Orten präsentiert. „Mit anderen Tüten herumrennen? Ich bin doch nicht blöd“ – druckte ein großes Elektrohandelsunternehmen keck auf seine Tragehilfen.
Doch dann kam zuerst die EU, später die zunehmend ergrünende Bundesregierung und bald war Schluss mit lustig und mit praktisch. Plastiktüten seien mit einer durchschnittlichen Nutzungsdauer von nur zwanzig Minuten ein typisches Wegwerfprodukt, befand das Umweltministerium. Sie landeten oft in der Umwelt, würden über die Flüsse ins Meer geschwemmt, verschmutzten die Strände und schädigten die Meeresfauna. Flankiert wurden diese Warnungen von Bildern von Schildkröten, die Plastiktüten offenbar für fressbare Beute gehalten hatten und jämmerlich verendet waren. Wie das Eisbärbaby auf der schmelzenden Eisscholle wurde die an Plastikabfällen zugrunde gegangene Schildkröte zum Symbol für all das, was der Mensch in seinem Konsum- und Bequemlichkeitswahn der Natur anzutun imstande ist.
Dabei verfügt unser Land, im Gegensatz zu vielen Ländern in Asien, Afrika, Südamerika oder Osteuropa, über eines der effektivsten und effizientesten Abfallbeseitigungssysteme überhaupt. Plastiktüten in freier Natur sieht man hierzulande selten. Wieder einmal drängt sich der Verdacht auf, dass sich Deutschland einmal mehr als Moralweltmeister aufspielen möchte und der ökologische Nutzen allfälliger Maßnahmen, wie noch zu zeigen sein wird, gering ist oder sogar ins Negative umschlägt. Nicht die Tüte ist das Problem, sondern der falsche Umgang mit ihr.
Im Alltag vielseitig verwendbar
Dass Plastiktüten nur ein einziges Mal verwendet werden, widerspricht der Lebenserfahrung. Wenn man sie nicht für neuerliche Einkäufe zur Hand nahm, dienten sie lange und auf vielfältigste Weise. Man nutzte sie, um schmutzige Schuhe und gebrauchte Unterhosen im Koffer zu verstauen oder den nassen Regenschirm im Rucksack. Plastiktüten sind ein toller Überzug für den Fahrradsattel, damit man sich beim Aufsitzen keinen nassen Hintern holt. Man kann sie auch als Handschuh beim Dieseltanken benutzen und natürlich als Aufbewahrungsort für viele Dinge des täglichen Lebens. Am Ende ihres Lebens konnte man sie dann noch als Mülltüten verwenden.
Aber solch rationale Überlegungen spielen keine Rolle, wenn sich eine vielleicht durchaus sinnvolle Diskussion über die Reduzierung insbesondere von Plastikmüll, über Einweg versus Mehrweg ganz oder überwiegend im Bereich des Symbolischen abspielt. Deswegen musste ja auch die Verbotskeule her, wobei, jetzt wird es kompliziert, nicht alle Tüten von dem Bann betroffen sind.
Das seit einem Jahr gültige Verbot bezieht sich nämlich nur auf „dünne“ Plastiktüten mit einer Wandstärke von unter 50 Mikrometern – ein Mikrometer ist ein Millionstel Meter. Für sie galt bis zu diesem Zeitpunkt eine freiwillige Vereinbarung mit dem Handel, solche Tüten nur noch gegen Bezahlung abzugeben. Diese 2016 in Kraft getretene Übereinkunft war nicht wirkungslos, im Gegenteil. Im Vergleich zu 2015 sank der Verbrauch an dünnen Plastiktüten bis Herbst 2019 um satte 64 Prozent auf „nur“ noch rund 1,5 Milliarden Tüten, 18 pro Kopf und Jahr. Sicher hätte man durch eine moderate Erhöhung des an der Kasse geforderten Obolus den Verbrauch weiter senken können. Doch in der grünen Verbotsrepublik sind markwirtschaftliche Anreize nicht mehr gefragt, auch wenn sie selbst nach Einschätzung des Bundesumweltministeriums „zweifelsfrei“ funktioniert habe. Übrigens ist diese entlarvende Formulierung mittlerweile von der Website des Ministeriums verschwunden. Jetzt heißt es nur noch: „Durch diese Maßnahmen des Handels konnte zunächst eine Verringerung des Verbrauchs erreicht werden.“
Nicht verboten: 3 Milliarden „Hemdchenbeutel“ pro Jahr
Nicht verboten sind bislang „sehr dünne“ Plastikbeutel mit Wandstärken unter fünfzehn Mikrometern, die sogenannten Hemdchenbeutel. Sie dienen dazu, Obst und Gemüse im Supermarkt, im Lebensmittelgeschäft oder auf dem Wochenmarkt hygienisch zu verpacken. Satte drei Milliarden dieser ultradünnen Flatterbeutel wurden 2019 verbraucht, 36 pro Kopf und Jahr. Doch für sie gebe es bislang „kaum“ umweltfreundliche Alternativen, heißt es auf der Webseite des Bundesumweltministeriums. Und der Naturschutzbund Deutschland (NABU) schreibt zutreffend: „Für die Tüten, die mengenmäßig am meisten verbraucht werden, gibt es derzeit keine Reglementierung. Auch keine Maßnahmen, diese durch Mehrweg zu ersetzen.“
Auf Wochenmärkten war es früher üblich, frisches Gemüse einfach in altes Zeitungspapier zu wickeln, was wegen der angeblich giftigen Druckerschwärze unterdessen verpönt ist. Auch die papiernen, braunen Spitztüten sind weitgehend aus der Mode gekommen, wahrscheinlich weil sie teurer sind als die Hemdchenbeutel. Natürlich kann man den Gemüsehändler bitten, die mit Erdresten behafteten Karotten oder Kartoffeln direkt in den mitgebrachten Baumwollbeutel zu schütten. Doch müsste der dann noch häufiger gewaschen werden, was wiederum eine Umweltbelastung bedeutet.
Außerdem erlauben es die Beutel, Gemüse im Kühlschrank länger aufbewahren zu können. Die in Ökosupermärkten erhältlichen, wiederverwendbaren Kunststoffnetze, die als Alternative zum Hemdchenbeutel angepriesen werden, leisten das nicht. Ohne Beutelchen dürfte es also mehr Lebensmittelabfälle geben, was man aus nachvollziehbaren ökologischen wie sozialen Gründen vermeiden möchte.
Papier ist keine Alternative
Als Ersatz für die verbotenen Plastiktüten werden vielerorts Papiertragetaschen angeboten. Dabei ist deren Klimabilanz, heute Maß aller Dinge, wegen der aufwändigen, Ressourcen verschlingenden Papierproduktion meist sogar schlechter als die von vergleichsweise einfach herzustellenden Plastiktüten. Im Gegensatz zu Plastiktüten sind Papiertüten echte Einwegprodukte, weil sie oft nicht einmal den kurzen Weg von der Kasse zum in der Nähe geparkten Auto durchhalten. Deshalb gönnen sich viele Kunden gleich mehrere Tüten, um die schweren Einkäufe gewichtsmäßig zu verteilen, was die Ökobilanz noch einmal verschlechtert. Alternativ zu Papiertüten werden in vielen Geschäften auch besonders dicke und stabile Plastik-Tragetaschen mit Textilgriffen oder die als ökologisches Nonplusultra gepriesenen Baumwollbeutel im Geiste von „Jute statt Plastik“ angeboten, die freilich nicht so vielfältig einsetzbar sind wie die herkömmlichen Plastiktüten.
Wer ab und an in Italien unterwegs ist, wird bemerken, dass dort bis heute kaum ein Kunde ohne Plastiktüte ein Geschäft verlässt, obwohl in Italien Plastiktüten schon 2014 verboten wurden. Das Geheimnis lautet: „biodegradabile e compostabile“ – biologisch abbaubar und kompostierbar. In Italien wurden herkömmliche Plastiktüten flächendeckend durch solche aus sogenanntem Bioplastik ersetzt, Kunststoffe, die aus Zucker, Mais oder Kartoffeln hergestellt werden und, zumindest theoretisch, kompostierbar sein sollen. Dies gilt jedoch nur für großtechnisch arbeitende Kompostieranlagen, wo die Biotüten unter kontrollierten Feuchtigkeits-, Druck- und Temperaturbedingungen zersetzt werden.
Doch dafür müssen sie dort erst einmal landen. Weil dies oft nur schwer gewährleistet werden kann und Bioplastik in freier Natur ähnlich wie Plastik aus Rohöl eine lange Verweildauer aufweist und von Tieren aufgenommen werden kann, hat Deutschland auch diese Variante der Kunststofftüte auf den Index gesetzt. Außerdem würde, so heißt es beim Umweltministerium in Berlin, für die Produktion der Ausgangsmaterialien von Bioplastik oft in großem Umfang Pestizide eingesetzt. Die Italiener, die mächtig in den Aufbau einer Bioplastikindustrie investiert haben, sind augenscheinlich glücklich mit ihren „Ecosacchetti“ – bella figura ist alles.
Pures Glück für 15 Cent
Doch auch im Ökomusterland Deutschland ist der „schöne Schein“ ein probates Mittel der Politik. Genauere Zahlen liegen noch nicht vor. Doch der Verbrauch an Papiertüten dürfte seit dem Verbot von Plastiktüten nach oben geschnellt sein, wie überhaupt der Konsum von Verpackungspapier im Zuge des Booms des Onlinehandels einen Rekord nach dem anderen reißt. Auch das Plastiktütenverbot dürfte dazu geführt haben, dass sich noch mehr Menschen die Waren des täglichen Bedarfs, aufwändig und meist wenig umweltfreundlich verpackt, nach Hause schicken lassen.
Zum Glück gibt es kein von Menschen gemachtes Gesetz, das keine Schlupflöcher aufweist. Mitte vergangenen Jahres monierte die Deutsche Umwelthilfe, eine Art privater Umweltpolizei, dass einige Lebensmittel- und Drogeriehändler das Plastiktütenverbot umgingen, indem sie unmerklich dickere Tüten anböten, die von der bis zu 49-Mikrometer-Norm nicht mehr erfasst werden. Die Bundesregierung müsse dringend „nachbessern“, forderte die Umwelthilfe.
Das scheint sie bislang glücklicherweise nicht getan zu haben. In zwei Münchner Drogeriemärkten fand der Autor bei einem Testbesuch schöne, echte Plastiktüten an der Kasse, 15 Cent das Stück. „Zu 85 Prozent aus recycelter Folie und wiederverwendbar“, ist auf ihnen zu lesen. Eigentlich uninteressant. Hauptsache Plastik!
Georg Etscheit ist Autor und Journalist in München. Fast zehn Jahre arbeitete er für die Agentur dpa, schreibt seit 2000 aber lieber „frei“ über Umweltthemen sowie über Wirtschaft, Feinschmeckerei, Oper und klassische Musik u.a. für die Süddeutsche Zeitung.