Thilo Schneider / 12.01.2020 / 12:00 / Foto: Timo Raab / 74 / Seite ausdrucken

Hat sie mich eben geduzt?

Ich gebe zu, dass ich schon einige Wochen um das „Benefit-Life“ herumgeschlichen bin. Eine neue gastronomische Großtat wie ein Café – laut Eigenaussage „menschlich-biologisch-lebenswert“ – ist in einem Schtetl wie meinem immer noch eine kleine Sensation. Und wer außen an dem Laden vorbeiläuft, kann innen drin viele junge Menschen und noch mehr junge Mütter feststellen, die sich da ihren Chai-Latte gönnen, während ihre Männer, ganz klassisch und konservativ, vor Zahnarztstühlen sitzen und an Zähnen feilen oder vor Richtertischen stehen, um nachbarschaftliche Ungereimtheiten zu  klären. Natürlich bin ich ein neugieriger Mensch – einerseits – aber meine Neugierde würde mich nie unbewaffnet in eine Höhle treiben, aus der Bärengebrumm zu hören ist. Und so ist es einmal mehr der Schatz, der mich nach einem Besuch im Hunkemöller unterhakt und mit einem energischen „Das sehen wir uns heute mal an“ ins „Benefit-Life“ schleppt.

Die Türe öffnet sich mit einem freundlichen „Klingeling“, ungefähr so, wie der Sound des Glöckchens, mit dem meine Mutter uns Kinder an Weihnachten die Bescherung ankündigte. Es ist später Samstagvormittag, und das „Benefit-Life“ ist schon ganz gut gefüllt. Gleich zwei Männer mit nicht mehr ganz modernem Haardutt sitzen mit ihren gepiercten Lebensabschnittsgefährtinnen auf so Ikea-Hockern herum und glotzen in ihre Handys, drei junge Mädels, eben aus der Pubertät heraus, sitzen an einer Art „Mutters Esstisch“ aus gebeiztem Kiefernholz und zeigen sich kichernd gegenseitig ihre Instagram-Bilder, zwei Mütter mit Kleinkindern auf dem noch fruchtbaren Schoß und raumgreifenden Kinderwägen besetzen einen weiteren Tisch, und ein Herr in meinem reiferen Alter im Profifahrradfahrerkasperanzug mit halber Helmnuss auf dem Kopf studiert die Kuchenauslage.

Das „Benefit-Life“ ist hell und freundlich eingerichtet, allerdings wandert das Ambiente von „gemütlich-rustikal“ im Gastraum selbst über „Wiener Café“ ab Kopfhöhe bis oberes Drittel des Raumes, bis es sich schließlich unter der in Schwarz gestrichenen Decke in „New Industrial“ mit offenen Rohren und Schläuchen wandelt. Kann man mögen, muss man nicht mögen. Ich mag es nicht. Aber der Schatz ist total verzückt und meint, „das wäre ja cool“.

Ich unterdrücke ein spontanes „Ihre Handynummer“

Hinter dem Tresen steht eine junge Frau, was in meinem Alter bedeutet, dass sie unter Vierzig sein muss. Ich schätze sie mal auf Fünfundzwanzig, aber das hat mich auch einen Scheißdreck anzugehen. Ich war eben mit dem Schatz im Hunkemöller. Ich erwähne es nur wegen der Vollständigkeit. Sie ist leidlich hübsch und dezent geschminkt, sieht uns erwartungsvoll an und sagt: „Was darf ich Euch aufschreiben?“ Ich unterdrücke ein spontanes „Ihre Handynummer“ und schaue erwartungsvoll auf den Schatz, der mit einem freudigen „Oh, schau mal, Macarons!“ ein Regal mit mehreren bunt gefüllten Einmachgläsern mustert. „Ich hätte auf jeden Fall gerne einen Kaffee“, sage ich der jungen Barista mir gegenüber. „Okay“, antwortet sie, „und welchen hättest Du gerne?“

Moment. Hat sie mich eben geduzt? Kenne ich sie? Ist sie eine Bekannte oder Verwandte, vielleicht sogar irgendeine uneheliche Tochter, von der ich nie erfuhr, da ich mit Bettina nur drei Monate zusammen war, weil sie mir mit ihrer überkandidelten Art dann tierisch auf den Schweif ging? Nein, ich war damals 16 und ein Spätzünder, das kann nicht sein. Warum also duzt sie mich? „Was haben SIE denn im Angebot?“, frage ich betont. Aber entweder ist sie taub oder unsensibel oder es ist einfach die Linie des „Benefit-Life“, seine Gäste zu duzen.

„Du hast die Auswahl zwischen Espresso, Espresso Macchiato, Flat White, Cappuccino, Café Crème, Caffè Latte, Latte Macchiato, Americano, Chai Latte, Ristretto, Lungo, Doppio oder Caffeè Mocha. Was darf ich Dir bringen?“, geht sie das Komplettkaffeeprogramm mit mir durch und ich bin ob ihrer Gedächtnisleistung jetzt doch etwas eingeschüchtert und traue mich schon gar nicht mehr, „einfach nur einen blöden Kaffee, Du Mäuschen“ zu sagen. „Kann ich das im Mittelteil noch einmal hören?“, höre ich mich selbst fragen und sehe den Schatz aus dem Augenwinkel die Augen rollen. Die Barista lächelt mich wie eine Mutter ihr schwachsinniges Kind an und bleibt gelassen:

„Schau doch mal selbst auf die Karte“, schlägt sie, mich stur duzend, vor und deutet mit dem linken Zeigefinger über ihren Kopf. Dort sind auf einer Schiefertafel mit Kreide all die bunten Kaffees aufgeschrieben, nebst Preisen, für die das Wort „Wahnwitz“ extra erfunden wurde. So kostet ein argloser Latte Macchiato irre vier Euro, für die ich im „SternBack“ schräg gegenüber vier Kaffee im Pappbecher bekomme und für 12 Euro eine komplette Fußballmannschaft nebst Trainer ausstatten kann. Dafür werde ich aber nicht angeduzt.

„Thilo, lass es...“

„Ich bekomme einen Chai Latte und dazu ein Stück Apfelkuchen und drei Macarons“, verkündet der verräterische Chatze Macchiato und ich stehe ratlos vor der Elfenkönigin und reibe mir das Kinn. „Tee?“, frage ich schüchtern. „Bringe ich Dir gerne“, antwortet die Göttin der Kaffeeologie, „welchen willst Du denn haben?“ „Was kostet bei IHNEN denn eine harmlose Tasse unschuldigen Earl Greys?“, gehe ich in die Verhandlung. „Drei Euro zwanzig, mit Minze drei Euro fünfzig, mit Minze und Honig drei Euro achtzig...“ „...und was muss ich noch dazu nehmen, damit ich die vier Euro-Schwelle für heißes Wasser mit einem Teebeutel knacke?“, unterbreche ich ihre Aufzählung und merke, wie ich langsam Adrenalin ziehe. Aber sie bleibt cool und lächelt. Jetzt irgendwie kalt, wie mir scheint: „Wenn Du noch Milch dazu nimmst, dann kämen wir auf vier Euro zehn“, erklärt sie ungerührt. Der Schatz kennt mich und wird unruhig. Er weiß, dass ich kurz vor einer Eskalation stehe. „Thilo, lass es...“, sagt sie, aber es ist zu spät.

„In diesem Falle hätte ich VON IHNEN gerne ein Glas kaltes Leitungswasser. Gerührt, nicht geschüttelt, außerdem ungeduzt“, gebe ich meine Bestellung auf. Ihr Lächeln gefriert für einen kurzen Moment und in dieser Sekunde sehe ich die wahre Nicht-Bettinas-und-meine-Tochter. Den kleinen hilflosen Menschen in einer für ihn unbekannten Situation. Jungfräulich. Irritiert. Überrascht. „Ich zahle einen Euro“ biete ich an und fummle in meiner Jackentasche nach einem Geldstück. Sie gewinnt ihre Fassung wieder: „Dafür nicht, das geht für SIE aufs Haus!“ Jetzt lächelt sie wieder. Aber freier, echter, ehrlicher. „Ganz im Ernst“, flüstert sie, „mir geht das Geduze auch auf die Eierstöcke. Und außerdem lade ich Sie auf einen simplen Kaffee ohne alles ein!“, fügt sie hinzu.

Und ich freue mich auf ein Glas Leitungswasser und einen Kaffee – und sie sich anschließend über fünf Euro Trinkgeld. Seitdem sind wir per Du, wenn wir uns sehen. So geht das. So und nicht anders.

(Weitere persönliche Geschichten des Autoren auf www.politticker.de )

Foto: Timo Raab

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K. Nerweiß / 12.01.2020

Die Duzerei ist nur ein weiterer Versuch der Gleichmacherei. Kein Wunder, dass das in Schweden gefällt. Das Englische hat eigene Höflichkeitsattribute um das ,,you“ herum. Ich jedenfalls bestehe auf einer Kulturlänge Abstand.

Gunther Lotze / 12.01.2020

!!!!!!! G R A N D I O S !!!!!! Davon mehr! Bitte, biiiiiiitte…...

Peter Michel / 12.01.2020

„Thilo, lass es…“, ja Herr Schneider, schon mal an Urlaub gedacht? Am besten in einem nordbayerischen Dorf, das entspannt.

B.Kröger / 12.01.2020

Sie haben völlig Recht. Mir geht das zwanghaft modische Duzen auch auf die Nerven. Außerdem ist das eigentlich auch bereits out, nur haben das noch nicht alle mitbekommen. Manchmal ist Berlin eben auch ziemlich provinziell.

F. Jung / 12.01.2020

Jou. So kann es gehen…...  Wenn BEIDE so ticken ....  Danke dafür !

Dr. Armin Schmid / 12.01.2020

Tja, unser Zusammenleben will halt jeden Tag neu ausgehandelt werden.

Emma W. in Broakulla / 12.01.2020

Ach welch ein Glück - ich lebe in Schweden und hier wird absolut JEDER geduzt ohne das sich irgendwer daran stösst. Man meldet sich am Telefon mit Vornamen, auf Behörden, bei Ärzten und Kommunen ist die Anrede mit Vornamen und DU obligatorisch. Mich stört es auch nicht wenn mich der Arzt in der Praxis und im Krankenhaus höchstpersönlich im Wartezimmer abholt und mich dabei mit meinemVornamen und DU anredet. Dazu kommt dass der Name Wartezimmer in Schweden falsch gewählt ist, denn zu w a r t e n braucht man NIE und Nirgends. Einzige Ausnahme ist der Akut-Bereich im Krankenhaus. Aber zum Thema Duzen zurück. Das Duzen in Schweden ist eine Einrichtung die niemand stört und warum sollt das so sein? Ich habe nirgnds vermerkt dass wegen der Duzerei es an Respekt mangelt.

Jens Frisch / 12.01.2020

„Ganz im Ernst“, flüstert sie, „mir geht das Geduze auch auf die Eierstöcke.  [...] Seitdem sind wir per Du, wenn wir uns sehen.” Herrliche Anekdote: Ich habe schallend gelacht - Danke!

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