Erinnern Sie sich noch, wie es Ihnen erging, als Sie vor dreißig Jahren vom Fall der Mauer hörten? Ganz gewiss, denn ein derart spektakulärer und zugleich emotional beladener Moment drängt sich förmlich dem Gedächtnis auf. In meinem Fall war es gleich eine ganze Nacht. Bemerkenswert der Zufall, dass ich in den Abendstunden des 9. November 1989 exakt am selben Ort war, von dem ich am Vormittag des 13. August 1961 mit ansehen musste, wie die ersten provisorischen Stacheldrahtverhaue errichtet wurden, im Westteil Berlins, kaum hundert Meter entfernt von der Bösebrücke, die 1989 durch die aufsehenerregende Grenzöffnung als Bornholmer Brücke legendär wurde.
In der Nacht vom 9. zum 10. November nutzte ich – wohl als einer von wenigen West-Berlinern – sogleich die Gunst der Stunde, um mein unverhofft nach Osten erweitertes Territorium zu erkunden. So kam es zu meiner unbürokratischen, selbst genehmigten, visa- und pflichtumtauschfreie Einreise in die Hauptstadt der DDR, für Zögerliche legal erst ab dem 24. Dezember 1989. Jene sonderbaren Begebenheiten kann ich mir nur mit Fügung und ausgleichender Gerechtigkeit erklären.
1961 wohnten wir in Berlin-Wedding, hart an der Grenze, Grüntaler Straße, Hinterhof, Seitenflügel, mit Blick auf die ostzonale Reichsbahntrasse nebst S-Bahnhof Bornholmer Straße sowie die auf der Bösebrücke gelegene Grenzübergangsstelle. Vorgelagert, auf westlicher Seite, umfasste das einsehbare Ensemble noch die Parzellen der idyllisch anmutenden Kleingartenkolonie „Wiesengrund Nord“.
Angst einflößende Sondermeldung
Ich entsinne mich, Wochen vor dem 13. August selten in meinem Bett geschlafen zu haben, denn selbst weitläufige Ost-Verwandtschaft nutzte beim „Rübermachen“ unsere grenznah gelegene Wohnung als ersten Anlaufpunkt im Westen, logierte hier einige Tage, um dann die Prozedur im Notaufnahmelager Marienfelde über sich ergehen zu lassen und schließlich den Weg nach Westdeutschland fortzusetzen. In West-Berlin bleiben wollte niemand, die Insellage der Halbstadt erschien zu unsicher. Die Verwandten, ausnahmslos einst selbstständige Bauern und Handwerker, durch Enteignung oder Kollektivierung ihrer wirtschaftlichen Existenz beraubt, begriffen sich durchweg als politisch Verfolgte und ihre Flucht als Ultima ratio, um noch Schlimmerem zu entgehen. Sie gehörten zu den rund zweieinhalb Millionen vertriebenen DDR-Bürgern seit 1949, die in der großen Mehrzahl ihr Schicksal, weil im Westen ohne Zögern aufgenommen, als glückliches Entkommen betrachten durften.
An jenem 13. August 1961, einem Sonntag, saß ich nach dem Frühstück wie immer vor dem Radio und wartete voller Vorfreude auf das Highlight des Tages, den halbstündigen „RIAS-Kinderfunk“, moderiert von Fritz Genschow. Turnusgemäß bestand Hoffnung auf Übertragung seines beliebten Kasperletheaters, in dem sich das tapfere Kasperle meist mit Räubern, Teufeln und Krokodilen herumzuschlagen hatte. Daraus wurde nichts. Punkt zehn Uhr vernahm ich nicht die vertraute Stimme des „Onkel Tobias vom RIAS“, sondern eine mir bereits als damals Siebenjährigem Angst einflößende Sondermeldung. Keine fünf Minuten später stand ich mit meinen Eltern an der besagten Stelle, dem zweiten Zugang zur Kleingartenkolonie in der Bornholmer Straße.
Weiter kamen wir nicht an die Brücke heran, denn die West-Berliner Polizei hielt penetrante Gaffer, um unnötige Eskalationen zu vermeiden, auf gebührlichem Abstand und sah dem Treiben fassungslos zu. Meine Mutter, völlig in Tränen aufgelöst, denn sämtliche Verwandtschaft ihrerseits lebte in der ostdeutschen Uckermark, die nun für uns unerreichbar blieb. Als einziges von vier Geschwistern war sie 1952 noch legal aus der DDR nach West-Berlin ausgereist, um meinen dort ansässigen Vater zu heiraten.
Salven von Maschinenpistolen
Nach den Sommerferien 1961 fehlte in meiner Schulklasse ein Mitschüler. Dessen Familie, zu Hause im benachbarten Prenzlauer Berg, hatte es vorgezogen, den Sohn nicht den Einflüssen des DDR-Schulsystems auszusetzen und ihn stattdessen im Westen die Schule besuchen zu lassen; derartige Spezialitäten gab es seinerzeit wohl nur in Berlin. Damit war es nun vorbei. Dafür gab es Zuwachs durch einen Jungen, den ich bereits vom Spielplatz her gut kannte. Dieser lebte mit seinen Eltern in Ost-Berlin, ging auch dort zur Schule, sein Vater war allerdings als Grenzgänger im Westteil der Stadt beschäftigt, was wegen der Umtauschquote, Westmark gegen Ostmark, damals allerlei Vorteile einbrachte. Und die Familie hatte ihr Laubengrundstück im Westen, in Rufweite unserer Wohnung, auf dem sie die Nacht vom 12. zum 13. August 1961 verbrachte.
So wurde Klaus durch puren Zufall zum West-Berliner; bis zur Zuteilung einer Neubauwohnung nach drei Jahren hausten er und seine Eltern in der Laube mit behelfsmäßigem Plumpsklo zwar recht unkomfortabel, aber immerhin in Freiheit. Weil sie als DDR-Bürger im Westen geblieben waren, galten sie als Republikflüchtlinge und mussten befürchten, bei Nutzung der Transitstrecken verhaftet zu werden; derartigen Personen spendierte der West-Berliner Senat Reisen per Flugzeug ins Bundesgebiet.
Die ersten Jahre nach dem Mauerbau sind mir noch recht gut im Gedächtnis geblieben, sicher weil wir bis zu unserem Umzug 1964 von unserer Wohnung einen Logenplatz mit Blick auf die Grenzanlagen hatten. Ich entsinne mich, in den Sommermonaten nachts bei geöffneten Fenstern, durch Salven von Maschinenpistolen aus dem Schlaf geschreckt worden zu sein; des Öfteren sorgte von Grenztruppen abgefeuerte Signalmunition für derart gleißend helle Illumination, dass unsere Wohnung bei Dunkelheit taghell erleuchtet war. Mein Vater, Angehöriger der West-Berliner Schutzpolizei, kommentierte derartige Vorkommnisse meist lakonisch mit der Bemerkung: „Der Krieg ist noch nicht zu Ende.“
Ein Schuhkarton Patronenhülsen
Auf dem begrünten Mittelstreifen der Bornholmer Straße mit der schon vor dem Mauerbau stillgelegten Straßenbahntrasse der Linie 3 sind mir mindestens zwei große Gedenkkreuze für getötete Flüchtlinge erinnerlich, die sich offenbar mit letzter Kraft noch auf West-Berliner Gebiet geschleppt haben mussten. Mein Schulweg führte mich täglich an diesen vorbei; Freunde und ich nutzten sie gern zweckentfremdet als Torpfosten beim Fußballspielen.
Jahrelang allabendlich sorgten Lautsprecherwagen des RIAS, als sogenanntes „Studio am Stacheldraht“, für lautstarke Unterhaltung der Grenzbewohner Ost wie West. „Deutsche, schießt nicht auf Deutsche, die Mauer muss weg, der Spitzbart und die Machthaber in Pankow ...“ Bald noch wurde auf dem Satteldach meiner Grundschule eine imposante Leuchtschriftanlage des RIAS montiert, um Ost-Berliner mit frischen Westnachrichten zu versorgen.
In den ersten Jahren, für Jungs von besonderem Interesse, zeigten sich hin und wieder Militärpatrouillen der französischen Truppen, martialisch ausgerüstet mit auf Jeeps montierten Kanonen und Schützenpanzern, um den Bewohnern Präsenz zu vermitteln. Statt mit Schokolade versorgten uns die Soldaten mit den begehrten Patronenhülsen, ich hatte davon einen vollen Schuhkarton.
„Für die Bolschewisten rühre ich keinen Finger“
Die Passierscheinabkommen ab 1963 berechtigten West-Berliner lediglich zum Besuch Ost-Berliner Verwandtschaft. Um sich mit Mutters Angehörigen, allesamt in der Uckermark ansässig, zu treffen, bedurfte es eines Verwandten mit Ost-Berliner Anschrift, den wir nicht hatten. Wir gaben kurzerhand den Schulfreund meiner West-Berliner Großmutter als solchen aus, dessen Behausung lediglich aus einer winzigen „Kochstube“ bestand, in der wir uns zusammen mit den angereisten Uckermärkern einfanden. Die Wiedersehen glichen unter diesen Umständen eher spannungsgeladenen konspirativen Treffen als ausgelassenen familiären Zusammenkünften. Um einen Passierschein zu beantragen, stand man einen ganzen Tag lang in der Warteschlange. Ich weiß noch, wie ich in den drängenden Menschenmassen panische Angst bekam, zerdrückt zu werden.
Ab 1964 ließ die DDR Rentner besuchsweise in den Westen ausreisen. So blieb zumindest der Kontakt zu meinen Ost-Großeltern erhalten. Mit dem Inkrafttreten des „Viermächte-Abkommens“ Anfang der Siebziger bestand für West-Berliner dann endlich die Möglichkeit, per Besuchsvisum bis zu vier Wochen im Jahr in die DDR einzureisen. Nach mehr als zehn Jahren sah ich das Anwesen meiner Großeltern wieder, in erschreckend verwahrlostem Zustand.
Mein Großvater, einst selbstständiger Landwirt, mit größerem landwirtschaftlich nutzbarem Grundbesitz 1945/46 nur knapp der entschädigungslosen Enteignung entgangen, wurde 1960 unter Anwendung von Repressalien – Abschaltung vom Stromnetz, Einsatz von Lautsprecherwagen – zwangskollektiviert. Danach hatte er keine Anstalten mehr unternommen, Haus und Hof in Ordnung zu halten. Für ihn, den ausgemachten Kommunistenfresser, galt: „Nun bin ich Knecht auf meinem eigenen Hof, für die Bolschewisten rühre ich keinen Finger, soll doch alles verkommen.“ Angebote auf Anstellung in der LPG hatte er kategorisch abgelehnt. Fortan fristete er mit meiner Großmutter die Kümmerexistenz eines Verlierers der Geschichte. Weil die Einkünfte aus seiner Minimalrente nicht langten, hielt er sich zur Selbstversorgung noch allerlei Federvieh und zwei Schweine und widmete sich ansonsten ausschließlich seinem Gemüse- und Rosengarten.
Um ja keine Missverständnisse an seiner politischen Gesinnung aufkommen zu lassen, beschallte er in der warmen Jahreszeit, noch heute von älteren Dorfbewohnern gern kolportiert, bei provokativ weit geöffneten Wohnzimmerfenstern, die Dorfstraße mit Erzeugnissen westdeutscher Feindsender. Besonders aufreizend, die „Berliner Abendschau“, später noch zugespitzt durch Gerhard Löwenthals „ZDF-Magazin“, welche nach allseits bekannten Erkennungsmelodien meist mit aktuellen Schreckensszenarien aus der Ostzone aufwarteten. Man ließ ihn erstaunlicherweise gewähren; ich nehme an, die DDR-Behörden verbuchten den erklärten Klassenfeind als unbelehrbaren armen Irren. Ab 1972 verbrachte ich meine sommerlichen Schul- und Semesterferien im Dorf des Renitenten, gleich vier Wochen am Stück, später dann Besuche, meist wochenendweise, was mir nach 1989 den Vorwurf Alteingessener ersparte, als ortsfremder, raffgieriger Wessi Nutznießer von Rückübertragungsansprüchen werden zu wollen. Mein Großvater starb drei Jahre vor der DDR, völlig verarmt und verbittert.
Fassungslosigkeit und Hysterie zugleich
Dass ich den Mauerfall live miterleben durfte, verdanke ich den festen Marotten meines vierbeinigen Kostgängers, namens „Uncle Sam“. Nach langem Arbeitstag erst spät zu Hause, hörte ich gegen 19 Uhr nebenbei in den Nachrichten von Schabowskis Zettelwirtschaft; seine wirren Auslassungen versprachen für die kommenden Tage, besonders für Berlin, abenteuerliche Novitäten. Damit wäre die Angelegenheit vorerst erledigt gewesen, hätte der ansonsten faulste Kater des Universums nicht auf seinen allabendlichen Kontrollgang auf dem Balkon bestanden, diesem liegt der Ost-Berliner Fernsehturm keine tausend Meter voraus. Bei nun geöffneter Balkontür und wohl günstigem Ostwind meinte ich kurze Zeit später, diskretes Stimmengewirr und Rufen aus der Ferne zu hören. Bei der Entfernung schier unmöglich, denn die Bösebrücke liegt linkerhand etwa zwei Kilometer Luftlinie entfernt. Dennoch, Kombinationsvermögen und Neugier waren geweckt, Grund genug, um mich auf den Weg zu machen.
Weil die damalige Grenzübergangsstelle in der Chausseestraße meiner Wohnung näher lag, fuhr ich zunächst dorthin. Von der Ostseite her, rein gar nichts, auf West-Berliner Terrain zeigte sich lediglich ein einsames, illustres Begrüßungskomitee. Etwa ein Dutzend schlimmster Kneipengänger, volltrunken aus einer nahegelegenen Destille torkelnd, skandierten lauthals gen Osten: „Äh, nu lasst se doch endlich raus, Mensch“, während halbleere Biergläser Richtung Grenztruppen flogen. Obwohl damit meine vagen Spekulationen eigentlich als erledigt angesehen werden konnten, fuhr ich, nun schon mal unterwegs, weiter zur Bösebrücke. Kurze Zeit später stand ich auf den Meter genau am selben Ort, von dem ich am 13. August 1961 mit meinen Eltern dem Mauerbau gewahr wurde. Und ich blieb nicht allein, zahlreiche West-Berliner teilten bald meine erwartungsfrohe Neugier, dagegen kein öffentlich-rechtliches Fernsehteam. Lediglich der immer spaßige Moderator eines privaten Berliner Fernsehsenders unterhielt seine Zuschauer, allerdings nicht live auf Sendung, in etwa mit den Worten: „Hallo, hallöchen Leute, sieht aus, als wäre hier bald ’ne halbe Völkerwanderung im Gange.“
Immer wieder unverständliche Sprechchöre von der anderen Seite, fahrplangemäß übertönt vom vertrauten, anheimelnden Berliner S-Bahn-Sound, es dauerte. Zunächst sah ich nur wenige Menschen die Brücke von Ost nach West passieren, die man, bevor sie sich erklären konnten, durchaus auch für rückkehrende West-Berliner Besucher halten konnte. Kurz vor Mitternacht dann, erst zu Fuß, bald auch motorisiert und dauerhupend, die bekannte, entfesselt jubelnde Masse. Viele außer sich, selbst Männer weinten. Fassungslosigkeit und Hysterie in einem, und immer wieder das stereotype: „Wahnsinn.“ Und auch ich, der stets auf Distanz bedachte Chronist, verlor schnell die Contenance: „Brüder und Schwestern, wie schön, dass ihr kommt!“ Seltsam, wozu sich der Mensch hinreißen läßt.
Der Mittelpunkt der Welt
Gegen ein Uhr kollabierte das Grenzsystem vollends, und ich, der West-Berliner, wollte nun mehr sein als bloßer Claqueur, wollte selbst mittun. Wieder ziemlich relaxed, von den Statisten der Passkontrolleinheiten argwöhnisch beäugt, dennoch ungehindert, lief ich in die entgegengesetzte Richtung, nach Ost-Berlin, schlenderte die mit Trabis völlig zugestaute Bornholmer Straße hinunter bis zur Schönhauser Allee und von dort über viele Umwege, Gespräche und Umarmungen zum Alexanderplatz, schließlich bis zur Ostseite des Brandenburger Tores, dessen nach West-Berlin vorgelagerte solide Mauerelemente der obsoleten Staatsgrenze ich mit Hilfe bereits Obenstehender, Freudetrunkener überwand, um nach Abstecken meines neuen Reviers in den Westen zurückzukehren. Welch eine Genugtuung.
Gegen sechs Uhr morgens war ich wieder zu Hause. Ausgestreckt auf der Couch, den ahnungslos dösenden Kater auf dem Bauch, lag ich da, wie berauscht. Zweifel an meiner Zurechnungsfähigkeit und Urteilskraft waren mir bis dahin fremd; die Erlebnisse der letzten Stunden, waren sie Wirklichkeit oder Fiktion? Zu allem bereite Smartphones für Selfies mit Mauer gen Westen gab es seinerzeit noch nicht. Es brauchte seine Zeit, bis Gefühle und Verstand sich auf ein Ergebnis einigen konnten. Ich war Zeuge und Akteur einer revolutionären Entladung geworden, fortan würde in meiner Stadt nichts mehr so sein wie zuvor. Wenn sich die Autorität der DDR-Grenztruppen binnen weniger Stunden auflösen konnte wie eine Sprudeltablette im Wasserglas, würde die noch verbliebene Staatsgewalt wohl alsbald nachfolgen. Auf das Fortbestehen einer eigenständigen DDR gab ich keinen Pfifferling mehr.
Es mag theatralisch klingen, Berlin war in der Nacht vom 9. zum 10. November der Mittelpunkt der Welt, und ich empfinde noch heute große Dankbarkeit, dabei gewesen zu sein. Nie zuvor oder danach hat sich das ansonsten eher kühle und abgebrühte Naturell der Berliner kollektiv derart in Zersetzung befunden wie in jener Nacht. Am nächsten Tag war es mit dem Freudentaumel und den temperamentvollen Gemütsausbrüchen schon vorbei, alles wich geflissentlicher Betriebsamkeit. Gemurre der Ost-Berliner wegen endloser Schlangen vor improvisierten Auszahlstellen für Begrüßungsgelder und zunehmende Ärgernisse West-Berliner Konsumenten wegen Totalausverkaufs von Ritter-Sport-Schokolade zeugten vom Einpegeln auf emotionale Normallage.
Triumph des Westbürokraten
Ende 1990 wurden Teile meiner Behörde räumlich ausgegliedert in eine der zwischenzeitlich überflüssigen fünf West-Berliner Passierscheinstellen, im offiziellen DDR-Jargon, „Büros für Besuchs- und Reiseangelegenheiten“. In diesen Räumlichkeiten beantragten West-Berliner, auch ich selbst viele Male, Visa für Besuche in Ost-Berlin und in der DDR. Ein großer Raum, von etwa 40–45 qm Fläche, war zu Lebzeiten der DDR durch eine Barriere eng aneinander geschobener Schreibtische mittig geteilt; hier nahmen die „Organe des Pass- und Meldewesens der DDR“, tatsächlich wohl Mitarbeiter des MfS, in uncoolen bräunlichen Anzügen und mit bierernster Miene Visaanträge von West-Berlinern entgegen und händigten nach Bewilligung den Petenten die Einreiseunterlagen aus.
Genau dort, in der Mitte dieses mir gut bekannten Raumes, ließ ich bei unserem Einzug meinen Schreibtisch gleich einer symbolischen Landnahme platzieren. Ein kleiner, banaler Triumph des Westbürokraten, mein neues Büro, mein geräumiger Arbeitsplatz für die nächsten Jahre. Was für Überraschungen das Leben bereithält.
Wegen wiederholter Einbrüche über die ungesicherten Oberlichter ließ ich nach Abwicklung des MfS entbehrliche, stilsichere Sicherheitsschränke aus der Normannenstraße anliefern, deren absurd anmutende Beschläge und Schlösser mir ursprünglich für Pkw-Türen bestimmt schienen. Überflüssig zu erwähnen, diverse durchtrennte Kabel und Drähte in stümperhaft abgedeckten Wandlöchern und hinter Scheuerleisten verborgen, über deren einstmalige Funktion man lediglich spekulieren konnte. Längst ist der später noch provisorisch asbestsanierte Dienstsitz auf Erdgleiche gebracht.
Die Nacht des Mauerfalls wird mir zeitlebens unvergesslich bleiben; mein geliebtes und so lange geteiltes Deutschland fand wieder zueinander. Keine Wende, eine Revolution, die eine der reformfeindlichsten poststalinistischen Diktaturen zum Einsturz brachte, ist durchaus Grund, stolz zu sein. Damals glaubte ich noch an eine gute, von politischer Vernunft getragene Zukunft für unser vereintes Vaterland, längst schon bin ich nicht mehr meiner Meinung. Denn das chronische Grundleiden der Deutschen, Realitätsverweigerung, kombiniert mit grenzenloser Selbstüberschätzung eigener Kräfte nebst nervigem Sendungsbewusstsein, mehrfach selbstzerstörerisch virulent geworden, erfuhr mit dem Ende der DDR keine grundlegende Besserung, sondern findet weiterhin Ausdruck in immer neuen, zeitgeistkonformen Symptomen, was mich nichts Gutes erahnen lässt. In politischer Hinsicht misstraue ich keinem Volk mehr als meinem eigenen.