Antje Sievers / 07.02.2019 / 15:00 / Foto: Bildarchiv Pieterman / 19 / Seite ausdrucken

Hanseatischer Antisemitismus

„In Hamburg sah ich die erschreckendsten, bedrückendsten Dinge, die ich je zu Gesicht bekommen hatte – mit Davidsternen und dem Wort „Jude“ bemalte Geschäfte, hinter halbleeren Ladentischen verstörte Menschen, die sich ängstlich duckten, als wüssten sie nicht, was sie getroffen hatte und aus welcher Richtung der nächste Schlag kommen würde. Seit meiner Bar Mizwa war ich mir nicht mehr so sehr bewusst gewesen, dass ich Jude war. Es war das erste Mal, seit ich Masern gehabt hatte, dass ich mich zu krank fühlte, um zu essen.“

Diese gar nicht lustigen Worte stammen von keinem geringeren Zeitzeugen als Adolph Arthur Marx, seinen Fans weitaus besser bekannt als Harpo – dem stummen Marx Brother mit der Harfe, der blonden Wuschelperücke und dem schäbigen Trenchcoat. 

Etwas, das mich aufhorchen ließ. In Hamburg halten sich absurde Mythen über die Nazizeit besonders hartnäckig. Zum Beispiel dieser: Die Jugendstil- und Gründerzeitvillen in den vornehmen Stadtvierteln Harvestehude und Blankenese seien von Fliegerangriffen verschont geblieben, weil ihre früheren Besitzer Juden gewesen seien. Ein anderer heißt bis heute: Hier war ja alles gar nicht so schlimm wie anderswo. Mit solchen Lügen sind viele Hamburger der Nachkriegsgeneration ganz selbstverständlich aufgewachsen.

Mit dreizehn Jahren war eines meiner Lieblingsbücher das Tagebuch der Anne Frank. Aber dieses Buch war für mich damals eigentlich nicht anders als „Die Kinder von Bullerbü“ oder „Hanni und Nanni“. Dass die Familie Frank sich nicht in einem bizarren Abenteuerurlaub befand, sondern sich vor ihren künftigen Mördern verstecken musste, war mir zwar bewusst, doch ich vermied es stets feige, die letzten Tagebuchseiten zu lesen. Und was danach kam, wollte ich lieber gar nicht so genau wissen. Als ich später in den Schilderungen einer Bergen-Belsen-Überlebenden las, dass sie in der gleichen Baracke untergebracht war, in der auch die Schwestern Frank starben, bekam ich einen regelrechten Schock. Eine bemerkenswerte Verdrängungsleistung, aber im Kleinen ein Abbild des typisch hanseatischen Umganges mit der jüngsten Geschichte. 

Zeigt her eure Nasen!

Von der Schultüte bis zum Abitur waren die Informationen, die wir in den siebziger Jahren über Kultur und Religion des Judentums bekamen, gleich null. Dafür bekamen wir Stürmerpropaganda reinsten Wassers serviert. Ohne, dass dies irgendjemandem aufgefallen wäre. Unser Bild von den Juden unterschied sich kaum von dem unserer Eltern und Großeltern. Kein Wunder, bei den Quellen, die im Unterricht herangezogen wurden. Der pädagogische Nutzen von antisemitischen Karikaturen ist fragwürdig, solange nicht die entsprechende Pädagogik dahinter steht. Ein Lehrer berichtete einmal etwas launig, die Nazis seien besessen von der Idee gewesen, man könne die Juden schon an der Form ihrer Nase erkennen. Zu diesem Zweck malte er mehrere Nasenformen an die Tafel. Unnötig zu erwähnen, dass wir vierzehnjährigen dummen Gören anschließend unsere Nasen gegenseitig auf jüdische Herkunft prüften.

Von einem Dokumentarfilm, den wir damals mit der Klasse besuchten, ist mir nur diese Szene in Erinnerung geblieben: Einer Gruppe, hieß es dort, hätte Hitlers Hass besonders gegolten. Kunstpause, Kameraschwenk: Den Juden. Es folgten Aufnahmen aus osteuropäischen Ghettos. Gedreht von Nazifilmemachern zu dem Zweck, Juden als „Untermenschen“ zu präsentieren und propagandistisch ihre Vernichtung vorzubereiten. Es waren diese Bilder, die sich dank dieser Pädagogik in meiner Generation einstellten, wenn das Wort „Jude“ fiel. Juden waren Opfer. Eine positive Annäherung an das Judentum in irgendeiner Form fand dagegen nicht statt. 

Im Jahr 1986 endlich, über vierzig Jahre nach Kriegsende und lange nach meiner Einschulung, eröffnete in der ehemaligen Talmud-Tora-Realschule am Grindelhof die Ausstellung Ehemals in Hamburg zuhause – Jüdisches Leben am Grindel. Erst da begann in Hamburg die Erinnerungskultur. Ich erfuhr als Studentin zum ersten Mal, dass ich mich täglich dort aufhielt, wo einmal das Herz der jüdischen Gemeinde geschlagen hatte. Die Geschichte der Juden von Hamburg, Wandsbek und Altona wurde mein Diplomprüfungsthema. Ein Novum, da von keinem Kandidaten vor mir je gewählt. In der mündlichen Prüfung stellte sich heraus, dass der Professor für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte keine blasse Ahnung von der Materie hatte – etwa zwei Drittel seiner Prüfungsfragen bezogen sich mangels fundierter Kenntnisse ausgerechnet auf den antisemitischen Film Jud Süß. Ein weiterer Pädagoge, der seinem Bildungsauftrag nicht ohne Zuhilfenahme von Nazipropaganda nachkommen konnte. 

Viele Hamburger Plätze und Straßen wurden inzwischen nach ehemaligen jüdischen Bürgern benannt und hunderte von Stolpersteinen verlegt. Das Wachhalten der Erinnerung ist fraglos ein wichtiger Teil der Aufarbeitung. Aber ein wenig fühlt sich das Gehen auf Stolpersteinen doch so an, wie es im amerikanischen Bühnenerfolg Jewtopia von Bryan Fogel und Sam Wolfson formuliert wird: Viele Straßen sind nach Juden benannt, damit die Deutschen immer noch auf ihnen herumtrampeln können. Das offenbart sich auf besonders schmerzliche Weise am Grindel, der heute seine Wiedergeburt als jüdisches Viertel feiert.

Unlängst nahm ich dort an einer Veranstaltung teil, einer Art kulinarischer Stadtführung. Es war informativ und obendrein lecker, aber man konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass man in Hamburg irgendwie stolz ist auf seine toten Juden. Nirgendwo liegen so viele Stolpersteine wie hier im Grindel, informierte man uns aufgeräumt. Aber diese täuschen nun einmal nicht darüber hinweg, dass die jüdischen Kinder Polizeischutz auf dem Weg zur Joseph-Carlebach-Schule brauchen und die Synagoge immer bewacht werden muss. In Israel erfahre ich nie etwas anderes als unverhohlene Freude über Touristen aus Deutschland. Ich erlebe sehr rührende Momente, wenn Israelis mich auf Deutsch ansprechen und sagen, sie hörten und sprächen diese Sprache so gern. Dann komme ich nicht umhin zu denken: Stolpern sollte vielleicht mehr wehtun.

Zuletzt von Antje Sievers erschienen: Tanz im Orientexpress – Eine feministische Islamkritik, mit einem Nachwort von Zana Ramadani, Hardcover/Klappenbroschur, 21,0 x 14,5 cm, Verlag Achgut Edition, ISBN 978-3-9819755-0-5, 17,00 €. Hier gehts zum Shop.

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S. Marek / 07.02.2019

@ U. G. Heuer, wessen Muttermilch ich trank deren Ideologie habe ich übernommen.  Na, haben sie vielleicht bereits in ihrer segensreichen familiengeschichte gestöbert? Sind da mehr hochdekorierte SS-Männer oder NSDAP Mitglieder dabei als Deutschland Üblich oder überwiegen doch die Hochstapler und Selbstinszenierer?

Thomas Bonin / 07.02.2019

@ U. G. Heuer: Ich hatte das Glück, seinerzeit (ausnahmslos) Familienmitglieder gehabt zu haben, die in brit.-kanad., brit-poln. u. amerik. Verbänden gegen Nazi-DE gekämpft haben, darunter solche, die direkt an der Befreiung von Bergen-Belsen beteiligt waren. Zu letzterem: die dort angetroffenen Überlebenden enstprachen jedenfalls nicht im mindesten Ihren Mutmutmaßungen. Einige Briten waren dermaßen schockierte, dass sie Ortsansässige zwangen, sich mit vorgehaltenem Revolver die (von den NS-Banditen höchstselbst auf Zelluloid dokumentierten) Leichenberge anzusehen. In diesem Sinne, verbunden mit freundlichen Grüßen. @Antje Sievers: Seien Sie umärmelt.

herbert binder / 07.02.2019

“...Trenchcoat, sowie der unvermeidlichen Hupe.” Dies möchte ich als bekennender Marxist ergänzen dürfen. Vielleicht noch eins: die Liebe vieler Israelis zur deutschen Sprache - mich berührt das auch sehr stark, liebe Frau Sievers - - - einfach herzzerreißend.

Elisabeth Prehn / 07.02.2019

Ich habe jahrelang in Frankfurt in der Westendstr,  gearbeitet und auch gewohnt.  Gegenüber von dem jüdischen Kindergarten u. Schule. Bewacht von schwerbewaffneten Polizisten, rund um die Uhr. Zwei Straßen weiter war das Gestapo Hauptquartier (heute eine Privatbank). Gegenüber auch einige Stolpersteine , viele mit dem Vermerk verhaftet und abtransportiert in 1943 und 1944.  Was müssen die Menschen gelitten haben . Es ist einfach unvorstellbar.

Peter Thomas / 07.02.2019

Keine Stolpersteine: falsch. Viele Stolpersteine: auch falsch. Nach Juden benannte Straßen: aber ganz falsch! -  “damit die Deutschen immer noch auf ihnen (den Juden) herumtrampeln können.” Ja, sie haben ihr Kainsmal, diese Deutschen, und sie werden ausgestoßen sein bis zum Ende aller Tage. Frau Sievers hat die Sache genau durchdrungen.

Thomas Taterka / 07.02.2019

Der ” Judenboykott ” im Frühjahr 33, auf den sich das Zitat aus ” Harpo speaks ” bezieht,  ist nicht nur der Beginn der Verfolgung und Ermordung, sondern auch der Anfang eines Raubzugs und eines Geschäfts und die Erinnerung an diesen Abend und den Tag danach gehört auch in einen Text über jüdisches Leben in der Handelsstadt Hamburg.  Völlig richtig. Boykott ist ja wieder in Mode gekommen bei Leuten mit großen Plänen für das ” Neue Deutschland “. ( War damals schon der zeitgemäße Begriff. Seltsam, nicht ? ) Die Zeiten ändern sich,  die Wörter und die Leute sind die gleichen.  Mmmh.

J.P.Neumann / 07.02.2019

Ich empfehle dazu den Film “Die Kinder von Blankenese” (Raymond Ley) der von jüdischen Vollwaisen aus Bergen-Belsen handelt, die 1945-47 in der Warburg-Villa einige Monate lebten, bevor sie nach Israel ausreisten.  Eric Warburg (Sohn des Bankiers und Offizier der US-Army) hatte die Villa zu diesem Zwecke zur Verfügung gestellt, weil er nicht damit rechnete das es wieder jüdisches Leben in Deutschland geben würde.  Was er übersehen hatte war, daß es für viele der Kinder nur ein kurzes Durchatmen war, bevor es in den nächsten Existenzkampf ging, den israelischen Unabhängigkeitskrieg.  Erholung war Blankenese aber trotzdem nicht wirklich, weil der Judenhass der Nazizeit natürlich noch voll da war.  (Vermutlich einer der Gründe warum diese Episode in der hanseatischen Geschichtsschreibung fehlt).

Hartmut Laun / 07.02.2019

“Nationalsozialisten sind wie Hamburger, außen braun, innen rot.”(Herrmann Göring). “Ich bin nicht nur der Vernichter, sondern auch der Vollstrecker des Marxismus ...”(Adolf Hitler)

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